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Gerhard Sauder

Goethe und die Juden

Ein Vortrag (Teil 1)

In Goethes vielgestaltigem Lebenswerk findet sich kein umfangreicher Text, der repräsentativ für dieses Thema wäre. In den nicht allzu zahlreichen neueren Untersuchungen zu dieser Thematik herrscht Einigkeit darüber, dass Goethes Haltung zwiespältig war. Aber verallgemeinern wollte er weder den Widerspruch zwischen der großen biblischen Geschichte („unsere Jugendandacht bleibt daran geknüpft“) und dem gegenwärtigen Judentum noch den „Kontrast zwischen den [heroischen] Ahnherren und den Enkeln, der uns irre macht und verstimmt“.1

Im Frühwerk spielt das Judentum allerdings häufig eine Rolle – meist in der Verwendung von Stoffen aus dem Alten Testament. Die Bibel hat ihn lebenslang begleitet und immer wieder fasziniert und inspiriert. In meist kurzen Aufsätzen hat er sich mit einzelnen – vor allem historischen – Aspekten beschäftigt. Der persönliche Kontakt mit jüdischen Zeitgenossen spielte für ihn von den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts an eine wachsende Rolle: Die Aufenthalte in den böhmischen Bädern führten ihn mit vornehmen jüdischen Familien aus dem ‚Geldadel‘ zusammen. Vor allem die jungen, ‚geistbegabten‘ Frauen in der Bädergesellschaft hatten es ihm angetan, mit einigen von ihnen blieb er in dauerhafter Verbindung.

1811 erschien der „Erste Teil“ von Goethes Autobiographie Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit in fünf Büchern. Das Gesamtwerk enthält die Kindheits- und Jugendjahre bis zur Abreise nach Weimar Ende 1775. Die ersten Bücher des „Ersten Teils“ erzählen ausführlich über die Sozialisation des Kindes und des Jugendlichen, seine vielseitige Ausbildung, vom Lateinund Griechischunterricht bis hin zum Fechten und Reiten.

Nach dem von 1755 bis 1757 dauernden Umbau des „alte[n], winkelhafte[n], an vielen Stellen düstere[n]“ väterlichen Hauses,

„welches eigentlich aus zwei durchgebrochnen Häusern bestand“, vermittelt das neue eine Atmosphäre der Weite und des bürgerlichen Wohlstands: „durchaus hell und heiter, die Treppe frei, die Vorsäle lustig, und jene Aussicht über die Gärten aus mehrern Fenstern bequem zu genießen“.2

Umso schneidender wirkt der Kontrast zur

„Judenstadt, eigentlich die Judengasse genannt, weil sie kaum aus etwas mehr als einer einzigen Straße besteht, welche in frühen Zeiten zwischen Stadtmauer und Graben wie in einen Zwinger mochte eingeklemmt worden sein“; ihr „Zustand“ gehörte zu „den ahndungsvollen Dingen, die den Knaben und auch wohl den Jüngling bedrängten“.3

Den Juden war 1462 ein unbebautes Gelände als Wohnquartier zugewiesen worden. Drei Tore grenzten die ,Gasse‘ nach außen ab, sie wurden abends verschlossen. Bis zur Zerstörung der Judengasse durch die französische Belagerungsartillerie 1796 gab es trotz mehrfachen Wiederaufbaus nach verheerenden Bränden keine Verbesserung der Lebensverhältnisse. An Sonnund Feiertagen blieben die Juden eingesperrt. Erst 1811 wurde ihnen in Frankfurt freie Wahl der Wohnung erlaubt.4

Die Judengasse in Frankfurt a. M.

Photographie von Carl Friedrich Mylius, ca. 1870.

Goethe ist als Junge viel in der so bunten Stadt Frankfurt unterwegs. Er besucht die Handwerker, die für den Vater an der Vervollkommnung des Hauses am Hirschgraben arbeiten, in ihren Werkstätten. Er kennt Patrizier und (als Enkel des Stadtschultheißen und Bürgermeisters Johann Wolfgang Textor) Honoratioren der Stadt, aber auch Marktfrauen und Pferdeknechte. Die Juden in ihrer abgetrennten Gasse nimmt er als Außenseiter in ihrer fremdartigen Erscheinungsform wahr. In Frankfurt wird in den bürgerlichen Haushalten, erst recht in den besseren Häusern, sehr viel Wert auf Sauberkeit gelegt. Deshalb wirkt die Judengasse auf ihn besonders abstoßend und unheimlich:

„Die Enge, der Schmutz, das Gewimmel, der Akzent einer unerfreulichen Sprache, alles zusammen machte den unangenehmsten Eindruck, wenn man auch nur am Tore vorbeigehend hineinsah. Es dauerte lange bis ich allein mich hineinwagte, und ich kehrte nicht leicht wieder dahin zurück, wenn ich einmal den Zudringlichkeiten so vieler etwas zu schachern unermüdet fordernder oder anbietender Menschen entgangen war.“5

Wer die Schilderung der Judengasse im Kontext von Goethes Lebenserzählung liest, nimmt wohl mit Erschrecken diesen „unangenehmsten Eindruck“ wahr. Aber Goethes Erinnerung von 1809–1811 – die alte Judengasse gab es nicht mehr6  – ist nicht so originell, wie sie den Anschein erweckt. Er zitiert einen Topos, der in zahlreichen Reisebeschreibungen wiederkehrt. Eines der vielen Beispiele findet sich in einer Beschreibung der Stadt Frankfurt (1741) von Johann Michael von Loen (1694-1776, Frankfurter Patrizier, Schriftsteller, Regierungspräsident in Lingen), einem Großonkel Goethes:

„Die Juden haben in dieser Stadt ihre eigne Synagoge: das Quartier, welches man ihnen eingeraumet hat, ist ein Ausläger voller Schmutz und Unreinigkeit. Sie leben in diesen sumpfigten Winkeln wie das Ungeziefer im Unflat. Das Feuer hat diesen kothigten Aufenthalt schon zweymahl zu reinigen gesucht […]. Allein dieses hat nur dazu gedienet, ihre Häusser desto schneller wieder aufzubauen und den Raum in der Luft zu suchen, den man ihnen auf der Erde nicht vergönnet; dann sie dörffen sich nicht ausserhalb ihren Ringmauern ausbreiten. Je mehr sie sich also eingesperrt sehen und einander über den Köpfen sitzen, je besser geht auch bey ihnen die Vermehrung von statten; es wimmelt und grabelt darinnen alles mit hebräischen Figuren. Fragt man, wovon sich dieses alte Uberbleibsel der zwölf israelitischen Stämme nähret, so heißt es, vom Betrug. / Es ist hier die rechte hohe Schule von dieser Wissenschaft, und wann anders Witz und Trug und List unter die Verdienste des Verstandes gerechnet werden, so kann man solche diesem verschmitzten Volk nicht streitig machen, dann es treibet solche bis zur Vortrefflichkeit.“7

Von Loens Charakteristik der Judengasse bedient sich ausführlicher als Goethe der Topoi der Reiseliteratur. Nur den bereits zitierten Satz („Es dauerte lange, bis ich allein mich hineinwagte“) lässt Goethe 1811 seinen jugendlichen Protagonisten über die Menschen und ihr Schicksal sagen, die an diesem Ort mit vielen anderen zusammengepfercht wohnen müssen. Weder die Erinnerung noch die herangezogene Literatur haben Goethe ein differenziertes Urteil ermöglicht. Mit der Vorstellung von den ‚ewig schachernden Juden‘ assoziieren sich „die alten Märchen von Grausamkeit der Juden gegen die Christenkinder“, die er aus Johann Gottfrieds Historischer Chronik (1633) kannte8 , oder „das große Spott- und Schandgemälde“ am Brückenturm, der 1801 abgerissen wurde.9  Diese judenfeindlichen Geschichten über Ritualmorde werden in den Reiseberichten nicht erwähnt. Von Loen versucht sogar, gute Seiten der Frankfurter Juden hervorzukehren:

„Doch giebt es auch noch ehrliche Juden, welche an die zehen Gebote glauben. Man hat mir davon einige Exempeln erzehlt, welche die Christen beschämt machen; dann sie müssen wissen, daß es viele unter diesen letzten gebe, welche ohne das Zeichen der Beschneidung zu haben, ihren Nächsten in Handel und Wandel mit gleicher Fertigkeit zu beschneiden wissen, wo sie nicht gar darinnen noch die Juden übertreffen.“10

Der zweite Abschnitt des Textes über die Judengasse in „Dichtung und Wahrheit“ verleiht dem jüdischen Glauben eine Bedeutung, die ihr nur der Autobiograph Goethe 1811 verleihen konnte. Das Volk Gottes, die Tätigkeit und das Beharren beim religiösen Herkommen, vor allem auch die jüdischen Riten werden nun ernst genommen. Hier gilt die Einsicht, die Goethe in seiner Einleitung ausgesprochen hat:

„Wenn man sich erinnern will, was uns in der frühsten Zeit der Jugend begegnet ist, so kommt man oft in den Fall, dasjenige was wir von andern gehört, mit dem zu verwechseln, was wir wirklich aus eigner anschauender Erfahrung besitzen.“11

Hier mischt sich in dem Versuch, in der Judengasse auch etwas Positives zu finden, die Erinnerung des Jugendlichen mit den Einsichten des Sechzigjährigen:

„Indessen blieben sie doch das auserwählte Volk Gottes, und gingen, wie es nun mochte gekommen sein, zum Andenken der ältesten Zeiten umher. Außerdem waren sie ja auch Menschen, tätig, gefällig, und selbst dem Eigensinn, womit sie an ihren Gebräuchen hingen, konnte man seine Achtung nicht versagen. Überdies waren die Mädchen hübsch, und mochten es wohl leiden, wenn ein Christenknabe ihnen am Sabbat [...] begegnend, sich freundlich und aufmerksam bewies. Äußerst neugierig war ich daher, ihre Zeremonien kennen zu lernen. Ich ließ nicht ab, bis ich ihre Schule [die Synagoge] öfters besucht, einer Beschneidung, einer Hochzeit beigewohnt und von dem Lauberhüttenfest mir ein Bild gemacht hatte. Überall war ich wohl aufgenommen, gut bewirtet und zur Wiederkehr eingeladen: denn es waren Personen von Einfluß, die mich entweder hinführten oder empfahlen.“12

Die Judengasse war seit dem 17. Jahrhundert eine der Attraktionen für Besucher Frankfurts. Schließlich war das Getto eine der größten legalen Ansiedlungen im Reich. Die Reiseschriftsteller wiederholten ständig das „Stereotyp vom schmutzigen, schlecht riechenden, ungepflegten und unentwegt schachernden Juden im Gegensatz zum sauberen, ordentlichen, einem anständigen Beruf nachgehenden Christen“.13

Nach den Ursachen dieser hygienischen und sozialen Missstände wurde nicht gefragt. Erst nach 1780 wurde im Kontext der Aufklärung allmählich die Judengasse zum Gegenstand kritischer Untersuchung. Es wurde bekannt, dass sich die Missverhältnisse im Getto negativ auf den Gesundheitszustand der Juden auswirkten. Aber der Schriftsteller Adolph Freiherr von Knigge war der einzige, der in seinem Roman meines Lebens (1782/1783) die Ursache der von den Christen verachteten Erwerbstätigkeit der Juden benannte, nämlich deren Diskriminierung und soziale Ausgrenzung durch eben diese christlichen Kritiker und Unterdrücker:

„Das ist unsre christliche Art mit einem Volke umzugehen, das dieselben Freyheitsrechte der Menschheit wie wir hat, von welchem wir auf gewisse Art abstammen, das wenigstens mehr Originalität, Eigenheit und mehr Reinigkeit der Sitten unter sich erhalten hat, als wir, und welches wir nun zwingen, indem wir ihm, auf die unedelste Art, alle Mittel zu andrem Erwerbe abschneiden, sich vom Wucher zu nähren. Die Juden helfen sich unter einander, halten zusammen, führen selten Processe unter sich, indeß wir, die ungroßmüthigen Unterdrücker, uns um nichtsbedeutende Kleinigkeiten, um unnütze Meinungen, verfolgen.“14

Die Frankfurter Historikerin Gabriela Schlick hat im Kontext der Reiseliteratur bis 1811 die Wiedergabe der Kindheitserinnerungen Goethes an die Judengasse als „extrem dürftig“ bezeichnet, „als ob er das Beschriebene nicht wirklich alles selbst erlebt hätte“. Er habe wohl einfach kompiliert und „dieselben Stereotypen“ aneinandergereiht „wie die auswärtigen Reisenden, die der Gasse nur einen kurzen Besuch abgestattet hatten“. Der politisch-rechtliche Zustand und die darauf zurückzuführenden schlechten Lebensverhältnisse schienen ihn nicht beunruhigt zu haben. „Von dem Knaben Goethe hätte niemand erwartet, daß er seine Gefühle hinterfragte [...]. Die Tatsache, daß er später aus seiner Doppelperspektive, als reifer Mann und Exponent seiner Zeit, weder das eine noch das andere tat, zeigt jedoch, wie sehr er in der Tradition der von der Frankfurter Bürgerschaft gepflegten judenfeindlichen Haltung stand. [...] Er kann seine ablehnende Haltung gegenüber Juden nicht verbergen.“15

Die Faszination, die von der Judengasse und ihren Bewohnern auf den jungen Goethe ausging, das dort gesprochene Jiddisch mit Frankfurter Einschlag, „das barocke Judendeutsch“, wie es in Dichtung und Wahrheit heißt16, motivierten ihn zum Erlernen des Hebräischen. Dem Vater gegenüber wurde der Wunsch nach Hebräisch-Unterricht damit begründet, dass zum Verständnis der Heiligen Schrift die Grundsprachen nötig seien. Der Rektor des Gymnasiums, Johann Georg Albrecht (1694–1770), wurde als Lehrer gewonnen.


„Anweisung zur teutsch-hebraischen Sprache“ –  Autograph Goethes und von unbekannter Hand (Christomanus?)
aus dem  Konvolut „Labores iuveniles“, Bl. 77.

Aber der eigentliche Antrieb, Hebräisch zu lernen, war der Wunsch des Elfjährigen, sich damit leichter die Grundlagen des Judendeutschen aneignen zu können. Das vom Vater geführte Haushaltsbuch (Liber Domesticus) weist für 1761 den Betrag von 1 Gulden und 30 Kreuzern als Honorar für den Unterricht im Jüdisch-Deutschen aus.17  Goethes Lehrer war Carl Christian Christfreund (1723–1801), ein von jüdischen Konvertiten aus Ansbach abstammender Sergeant der Frankfurter Garnison, der beim Kriegszeugamt als Schreiber und Fourier diente. Allzu intensiv wird dieser Unterricht nicht gewesen sein. Erhalten blieb eine Anweisung zur teutschhebraischen Sprache (1761), die vielleicht aus dem Unterricht Christfreunds hervorging. Goethe hat das hier am Anfang stehende Alphabet nebst Regeln zu den Vokalen wohl aus einem Hebräisch-Lehrbuch aus der Bibliothek des Vaters abgeschrieben.18  Ob er die Jiddisch-Kenntnisse auch im Getto nutzte, wissen wir nicht.

Von zwei praktischen Erprobungen berichtet Goethe jedoch in seiner Autobiographie, zum einen von der Erfindung eines Briefromans von „sechs bis sieben Geschwistern, die von einander entfernt und in der Welt zerstreut sich wechselseitig Nachricht von ihren Zuständen und Empfindungen mitteilen“. Die Briefe sind auf Deutsch, Latein, Griechisch, Englisch, Französisch und Italienisch geschrieben. Der

„jüngste, eine Art von naseweisem Nestquackelchen, hatte, da ihm die übrigen Sprachen abgeschnitten waren, sich aufs Judendeutsch gelegt, und brachte durch seine schrecklichen Chiffern die übrigen in Verzweiflung, und die Eltern über den guten Einfall zum Lachen“.19

Leider ist von dem amüsanten Roman, der um 1762/63 entstanden sein dürfte, nichts erhalten. Das Jiddische faszinierte den jungen Goethe offenbar vor allem in seinen komischen Zügen – seine Charakterisierung als „barock“ (seltsam, komisch)20 weist darauf hin. Eine Probe seiner Jiddisch- Kenntnis stellt zum andern die nicht in seiner Handschrift überlieferte Judenpredigt dar, die er um 1768 in Leipzig verfasst haben wird.

Judenpredigt.

Sagen de Goyen wer hätten kä König, kä Käser, kä Zepter kä Cron; do will ich äch aber beweise daß geschrieben stäht: daßmer haben äh König, äh Käsr, äh Zepter äh Kron. Aber wo haben wer denn unsern Käser? Das will äch och sage. Do drüben über de grose grause rothe Meer. Und do wäre dreymalhunerttausend Johr vergange sey, do werd äh groser Mann, mit Stiefle und Spore grad aus, sporenstrechs gegange komme übers grose grause rothe Meer, und werd in der Hand habe äh Horn, und was denn ver äh Horn? äh Düt- Horn. Und wenn der werd in’s Horn düte, do wären alle Jüdlich die in hunerttausend Johren gepöckert sind, die wären alle gegange komme an’s grose grause rothe Meer. No was sogt ähr dozu? Un was äh gros Wonner sey werd, das will ich äch och sage: Er werd geritte komme of äh grose schneeweiße Schimmel; un was äh Wonner wenn dreimalhunertun neununneunzig tausend Jüdlich wäre of den Schimmel sitze, do wären se alle Platz habe; un wenn äh enziger Goye sich werd ach drof setze wolle, do werd äh kenen Platz finne. No was sogt ehr dozu? Aber was noch ver äh greser Wonner sey werd, das well ich äch och sage: Un wenn de Jüdlich alle wäre of de Schimmel sitze, do werd der Schimmel kertze gerode seine grose grose Wätel ausstrecke, do wären de Goye denke: kennen mer nich of de Schimmel setze wer uns of deWätel. Und den wäre sich alle of de Wätel nuf hocke; Un wenn se alle traf setzen, un der grose schnee weise Schimmel werd gegange komme drochs [sic!] grause rothe Meer zorick, do werd äh de Wätel falle laße, un de Goye werde alle ronder falle in’s grose grause rothe Meer. No was sogt ehr dozu?21

Der Text enthält zahlreiche Fehler, die selbst einem Anfänger im Jiddischen nicht hätten unterlaufen dürfen. Statt ‚Goye‘ (Sing.) und ‚Goye/Goyen‘ müsste es jidd. ‚Goy‘, ‚Goyim‘ heißen; beim Hebräischunterricht wird Goethe diese Pluralform früh kennengelernt haben. Auch der Vokalismus ist oft eher frankfurterisch als jiddisch. Der Jiddist Franz J. Beranek hat eine differenzierte Charakteristik der Sprache in der Judenpredigt vorgeschlagen: sie sei als ein „inkonsequent und mit östlichem Einschlag gejüdeltes Frankfurterisch“ zu bezeichnen.22  Es ist auch zu bedenken, dass die Quelle der Judenpredigt kein Autograph Goethes ist – der Abschreiber mag kein Jiddisch gekonnt haben, so dass die Fehler auf sein Konto gingen.

Neuere Forschungen haben immerhin Goethes Autorschaft bestätigt. Die Herkunft des Manuskripts wies schon immer auf Friederike Oeser. Goethe besuchte im Sommer 1768 sie und ihren Vater, seinen Zeichenlehrer Adam Friedrich Oeser, öfter auf dessen Landgut Dölitz in der Nähe von Leipzig. Nach einer Überlieferung der Familie Oeser soll er die Judenpredigt in geselliger Runde und „ungezwungener Heiterkeit“ gern vorgetragen haben.23

Die einzige Handschrift, in der die Judenpredigt überliefert ist, befand sich in der Goethe-Sammlung des Leipziger Verlegers Salomon Hirzel – heute in der UB Leipzig. Dort liegt auch Goethes Liederbuch für Friederike Oeser. Jürgen Stenzel hat diese Handschriften vor fünfzehn Jahren eingesehen und eine ‚Urkunde‘ in dem Liederbuch gefunden, die bezeugt, dass sowohl das Liederbuch als auch die Judenpredigt von Goethe stamme.24  Schon lange wurde vermutet, die Judenpredigt sei durch eine jüdische Legende angeregt worden. Sie ist inzwischen von Jürgen Stenzel gefunden worden.25

Goethes Vater besaß sieben Judaica, darunter die umfangreichen Jüdischen Merkwürdigkeiten (Frankfurt 1714) des Frankfurter Prorektors Johann Jakob Schudt. Darin wird aus der Vorrede der judenfeindlichen Schrift des Konvertiten Ernst Ferdinand Heß Flagellum Ivdeorum / Juden Geissel (1598) zitiert:

„Nach erledigung [=göttlicher Befreiung des angeketteten Messias] aber soll er auff einem Esel reiten / die Jüden hinder ihm auff den Esel setzen / vnd die Christen auff des Esels schwanz. / Wann er nu durch den Jordan ziehet / sol der Esel den Schwantz hencken lassen / die Christen darab fallen / im Wasser erseuffen / vnd also ewig darin verlohren bleiben / darnach werde der Messias auff einem grossen Horn blasen [...].“26

Noch näher an Goethes Judenpredigt ist eine weitere, bei Johann Jacob Schudt erwähnte Schrift des Konvertiten Dietrich Schwab mit dem Titel: Detectum Velum Mosaicum Judaeorum nostri temporis. Das ist: JUdischer Deckmantel deß Mosaischen Gesetzes / vnder welchem die Juden jetziger Zeit allerley Bubenstück / Laster / Schand / vnd Finantzerey / etc. vben vnd treiben [...] (1615).27

Es liegt nahe, dass Goethe dieses judenkritische Werk in der reichhaltigen Bibliothek seines Hebräisch-Lehrers Albrecht gefunden hat. Dass die folgende Passage Goethes Quelle war – daran ist nicht zu zweifeln:

[...] Aber wann der Messias mit dem alten Esel kommen wirdt / so wird es also zugehen: Elias der Prophet wirdt vorher kommen / vnd vns das Bottenbrot [= die Nachricht] bringen / (daß so ein stolzer Reuter auffm Esel vorhanden ist /) vnd wirdt wie ein Trommeter den Feind auffheischen / nemblich / mit einem grossen Horn / vnd solches Horn wird er blasen / diesen Schall werden alle Juden hören die in der gantzen Welt seyn / vnd an einem Platz sich versammlen / (Ja nun verstehe ich wol / Elias wird ein Jäger worden seyn / der alle die Hund / die Juden in d’ gantze Welt an einen Ort zusamen blasen wird) / vnd wan sie dann alle beysamen seynd / dann wird der gemelte [= erwähnte] Messias mit dem alten Esel kommen / auf welchem alle Juden sitzen werden / vnd mit jm durchs Meer ins gelobte Land ziehen / Vnd die Christen werden auch wöllen auff dem Esel sitzen / aber sie werden nit darzu kommen können / darumm werden sie auff dem Schwantz deß alten Esels sitzen müssen / dann solches ein Versehung von Gott seyn wird. Vnd wann der Esel mitten ins Meer kommen / wird er den Schwantz sencken lassen / damit die Christen alle dauon fallen / vnd in einem Huy vnnd Augenblick ersauffen / Aber wir Juden werden mit dem Esel fortkommen. (Das muß ein grewlich grosser Esel seyn / darauf alle Juden werden sitzen können / Ich gedencke aber er werde die Juden (das Ungeziefer) alle in einen sack stopffen / so klein wie ein Hauffen Mucken / vnd sie also hinüber führen / sonst könte es nit möglich seyn / daß also ein Esel mit dem andern könt hinüber kommen / oder er müste sie mit dem Sack ins Meer werffen / vnnd die Christen alsdann vom Schwantz wieder auff den Esel setzen / damit die armen Leuth ihr Leben retten möchten.)28

Auch in Kenntnis der Vorlage verliert Goethes Judenpredigt nichts von der Komik, die schon bei den Vorträgen im Haus Oesers empfunden und gewürdigt wurde. Der Text ist ein Scherz, der mit dem ‚barocken‘ Judendeutsch und der grotesken Fabel spielt. Heinrich Teweles ist beizupflichten: „Mit Unrecht würde man in dieser Judenpredigt die Tendenz der Verspottung suchen.“29

Der moderne Antisemitismus hat aber auch in diesem Text Wasser auf seine Mühle finden wollen. Er zeige, dass sein „Verfasser am Judentum zweierlei deutlich erkannt“ habe: „ihren Willen, ein eigenes Volk, nicht nur eine eigene Religionsgemeinde zu bleiben, und ihren Haß oder besser ihre Rachsucht gegen die Wirtsvölker, in deren Bereiche sie wohnen“.30

Angesichts von Goethes Wertschätzung der Bibel entbehren solche Unterstellungen jeder Grundlage. Er besaß durch häuslichen und kirchlichen Religionsunterricht eine gründliche Kenntnis der Bibel. Er war, wie viele seiner Zeitgenossen, ‚bibelfest‘. Trotz seiner kritischen Vorbehalte gegenüber Kirche und Christentum verehrte er die Bibel selbst und wandte sich gegen die Bibelkritiker in England, Frankreich und Deutschland:

„Ich für meine Person hatte sie [die Bibel] lieb und wert: denn fast ihr allein war ich meine sittliche Bildung schuldig, und die Begebenheiten, die Lehren, die Symbole, die Gleichnisse, alles hatte sich tief bei mir eingedrückt und war auf die eine oder andere Weise wirksam gewesen. Mir mißfielen daher die ungerechten, spöttlichen und verdrehenden Angriffe; doch war man damals schon so weit, daß man teils als einen Hauptverteidigungsgrund vieler Stellen sehr willig annahm, Gott habe sich nach der Denkweise und Fassungskraft der Menschen gerichtet, ja die vom Geiste Getriebenen hätten doch deswegen nicht ihren Charakter, ihre Individualität verleugnen können, und Amos als Kuhhirte führe nicht die Sprache Jesaias, welcher ein Prinz solle gewesen sein.“31


Abraham Kyburtz (um 1704–1765): Historien-, Kinder-, Bet- und Bilder-Bibel.

Dritter Teil, Augsburg 1742.

Aus der Bibliothek von Goethes Vater.

 


* Gerhard Sauder, geb. 1938 in Karlsruhe, Prof. em. für Neuere deutsche Philologie und Literaturwissenschaft an der Universität des Saarlandes. Arbeiten v. a. zur Literatur des 18. Jahrhunderts, zum Expressionismus und zur Gegenwartsliteratur. Mithg. der Münchner Goethe- Ausgabe, der kritischen Ausgabe der Werke und Briefe des Maler Müller und der Gesammelten Werke von Ludwig Harig. – Der Vortrag wurde zuerst im Rahmen der Saarbrücker Ringvorlesung ,Goethe und ...‘ im WS 2014/2015 gehalten und im WS 2015/2016 als Gastvortrag an der Universität Freiburg i. Br. wiederholt. Er erscheint in dem Band ,Goethe und ...‘ in der Reihe Saarbrücker literaturwissenschaftliche Ringvorlesungen, hg. von Manfred Leber und Sikander Singh, Saarbrücken: Universitätsverlag des Saarlandes 2016.
  1. Goethe an Karl Friedrich Zelter, 19.5.1812; in: J. W. Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, hg. von Karl Richter u. a., Bd. 20.1: Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799 bis 1832, hg. von Hans-Günter Ottenberg und Edith Zehm, München 1991, S. 281 [künftig zitiert: MA, Band- u. Seitenzahl]; s. auch: Günter Hartung, Goethes Ansicht vom jüdischen Volk, in: Ders.: Juden und deutsche Literatur, Leipzig 2006, 61–82.
  2. MA 16,16; 13; 30.
  3. Ebd., 163.
  4. Ebd., 948.
  5. Ebd., 163.
  6. Nach der Zerstörung durch die Franzosen 1796 wurde die Gasse nur teilweise wiederaufgebaut, 1808 wurden unter Karl Theodor v. Dalberg die Tore niedergelegt, 1811 wurde den Juden das Wohnen außerhalb des Gettos gestattet; s. Isidor Kracauer, Geschichte der Juden in Frankfurt am Main (1160–1824), Bd. 2, Frankfurt a. M. 1927, S. 345–354; Paul Arnsberg, Die Geschichte der Frankfurter Juden seit der Französischen Revolution, Bd. I: Der Gang der Ereignisse, Darmstadt 1983, S. 60–83 (Die Frankfurter Judengasse bis zum Jahre 1806), S. 265–274 (Anerkennung der vollbürgerlichen Rechte der Frankfurter Juden 1811) u. S. 367–394 (Die Juden werden ‚israelitische Bürger‘ Frankfurts 1824).
  7. Johann Michael von Loen, Des Herrn von Loen gesammlete Kleine Schrifften. Besorgt und heraus gegeben von J. C. Schneidern. Zweyter Theil, Frankfurt und Leipzig 1750; Neuauflage Frankfurt a. M. 1972, II, 24 f.
  8. Siehe MA 16, Abb. S. 165.
  9. Beschreibung des 1801 mit dem Abbruch des Brückenturms verschwundenen Spott- und Schandgemäldes: MA 16, 948 (zu S. 163) nach J. G. Battonn, Örtliche Beschreibung der Stadt Frankfurt, H. 1, Frankfurt a. M. 1861, 41.
  10. Von Loen, Kleine Schriften (Anm.7), II, 25.
  11. MA 16, 13.
  12. MA 16, 163 f.
  13. Gabriela Schlick, Was Johann Wolfgang Goethe hätte sehen können... Die Judengasse in Frankfurt am Main, in: „Außerdem waren sie ja auch Menschen“ – Goethes Begegnung mit Juden und Judentum. Hg. von Annette Weber, Berlin und Wien 2000, 54.
  14. [Adolph Freiherr Knigge,] Der Roman meines Lebens in Briefen herausgegeben, Vierter Teil, Riga 1783 (Reprint: Nendeln/Liechtenstein 1978), 236 f. (11. Nov. 1771).
  15. Gabriela Schlick, Was Johann Wolfgang Goethe hätte sehen können (Anm. 13), 64 f.
  16. MA 16, 134: „[…] indem ich mir das barocke Judendeutsch zuzueignen und es eben so gut zu schreiben suchte, als ich es lesen konnte, fand ich bald, daß mir die Kenntnis des Hebräischen fehlte, wovon sich das moderne verdorbene und verzerrte allein ableiten und mit einiger Sicherheit behandeln ließ“.
  17. Jürgen Stenzel, „No was sogt ehr dozu?“ Jüdisches im Werk des jungen Goethe, in: „Außerdem waren sie ja auch Menschen“ (Anm. 13), 109.
  18. MA 1.1, 68 f., 781.
  19. MA 16, 133.
  20. Das GWb konstatiert in Band 2 für diese Stelle eine „eindeutig pejorative Konnotation“ im Sinne von „bizarr“, entsprechend der o., Anm. 16, zitierten Charakteristik in „Dichtung und Wahrheit“. Die Wirkung des ‚Idioms‘ in dem verlorenen Briefroman wird als ambivalent beschrieben (Verzweiflung – Lachen).
  21. Vorlage: Hs. der Judenpredigt: UB Leipzig, Slg. Hirzel B 472; Abb. 2a/2b in: „Außerdem waren sie ja auch Menschen“ (Anm. 13), auch in: Jürgen Stenzel/Oliver Höher, „Die Verschrobenheit eines veralteten Unsinns“ – Goethes ‚Judenpredigt‘, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, hg. von Christoph Perels, Tübingen 2000, 1–26, Abb. 1 u. 2 (nach S. 10). – Glossar: Goyen: Volk, Nichtjuden; äch: euch; wäre: werden; sporenstrechs: spornstreichs; gepöckert: von ‚péjgern‘: krepieren, verenden; ehr: ihr; Wonner: Wunder; finne: finden; ver: für; Wätel: Wedel, Schwanz.
  22. Franz J. Beranek, Goethe’s ‚Judenpredigt‘. Mitteilungen aus dem Arbeitskreis für Jiddistik. Bd. 2, Gießen 1962, 83 f.
  23. Jürgen Stenzel, „No was sogt ehr dozu?“ (Anm. 17), 106.
  24. Ebd., 107.
  25. Katharina Mommsen hat sie neuerdings – offenbar ohne Kenntnis der seit 15 Jahren vorliegenden Ergebnisse – gleichsam noch einmal entdeckt; siehe ihre Abhandlung „Warum schrieb Goethe die ‚Judenpredigt‘?“, in: Goethe-Jahrbuch 131, 2014, 79–88.
  26. Jürgen Stenzel/Oliver Höher, „Die Verschrobenheit eines veralteten Unsinns“ (Anm. 21), 13 f.
  27. Ebd., 14 f.; weitere Drucke verzeichnet auf S. 15; Katharina Mommsen, „Warum schrieb Goethe die ‚Judenpredigt‘?“ (Anm. 25), 85 f., zitiert nach dem Druck von 1619.
  28. Ebd., S. 16.
  29. Heinrich Teweles, Goethe und die Juden, Verlag W. Gente, Hamburg 1925, 61.
  30. Max Maurenbrecher, Goethe und die Juden, Deutscher Volksverlag, München 1921, 44 [Faksimile-Dokumentation Bremen 2006]. Abraham Kyburtz (um 1704–1765): Historien-, Kinder-, Bet- und Bilder-Bibel. Dritter Teil, Augsburg 1742. Aus der Bibliothek von Goethes Vater.
  31. MA 16, 298.

Jahrgang 23 / 2016, Heft 2, S. 115−127.


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