Luchterhand Literaturverlag, Frankfurt 1990. 205 Seiten.
Der „Roman“ eines Lebens und doch eine Autobiographie.
Die Erinnerungen an die gelebten Episoden steigen auf angesichts einer bevorstehenden Herzuntersuchung, deren Resultat die Zukunft — sofern es noch eine gibt — in Frage stellt. Die Vorbereitungszeit auf diese Untersuchung, vom Arzt verordnete Ruhe, weg von der täglichen Arbeit, ermöglicht eine Rückschau, für die früher keine Zeit war. Bis zu diesem jetzigen ungewissen Schwebezustand gelang es Härtling auch, das verdrängte zentrale Kindheitserlebnis nicht ins wache Bewußtsein dringen zu lassen: Den Freitod der geliebten und bewunderten Mutter nach der Flucht der vaterlosen Familie aus der Tschechoslowakei nach Württemberg 1947.
Nun ist Peter Härtling imstande, seine Mutter zu verstehen, seine Liebe zu ihr und auch seine Eifersucht auf sie.
Er erinnert sich auch an die unruhige Zeit der Jugend als „fremder“ deutscher Flüchtling im Nachkriegsdeutschland, der irgendwie sein Leben materiell über die Runden bringen muß und dabei als Ausgleich fürs geistige Überleben nachts Gedichte schreibt und der Literatur verfällt. Aufmerksam und angewidert nimmt er den schnellen Wandel der gerade noch Nazis gewesenen Kollegen zu Demokraten wahr, die alle immer noch „deutsch“ bis in die Knochen sind.
Um dies alles schreiben zu können, benützt Härtling viele Arten der Darstellung: Novelle, Märchen, Report. Er nennt diese Autobiographie „Mein Roman“, weil er — mit Recht — der Erinnerung mißtraut. Jede Erinnerung verfälscht sich im Lauf der Jahre im Detail, nicht aber im Wesentlichen. Peter Härtling beschreibt die zur Selbstbesinnung zwingende Wartefrist auf die Herzuntersuchung sowie diese selbst genauso ehrlich, wie er sich seinen Erinnerungen stellt. Nicht zuletzt sind diese ein Anlaß, sich mit dem Schreiben, das das Zentrum seines Lebens und seiner lebenslangen Verbindung mit M., der Geliebten, ist, auseinanderzusetzen. Ein sensibles Buch der Rechenschaft über ein schwieriges, engagiertes und verantwortungsvolles Leben.
Eva auf der Maur
Jahrgang 1 / 1993/94 Seiten 145-146