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Roth, Philip

Mein Leben als Sohn

Originalausgabe: Patrimony, Simon and Schuster, New York 1991. Übersetzt von Jörg Tobitius. Carl Hanser Verlag, München 1992. 210 Seiten.

Ein außerordentliches Buch. Philip Roth, nun 60 Jahre alt, ist reif geworden, nimmt sich und seine Welt an. Wir kannten ihn als jungen Rebellen, der vor keiner Ungeheuerlichkeit im Denken zurückschreckte, Provokateur aus Lust und Wut. Welcher Kampf, sich aus der kleinbürgerlichen familiären jüdischen Enge zu befreien. Er provozierte, schockierte seine ihn verschlingende, in den Fesseln des europäischen Judentums noch immer verhaftete Familie, um die Freiheit zum Leben zu bekommen. Er war verschrien als Antisemit, Nestbeschmutzer, Pornograph. Sein ganzes Schreiben drehte sich jedoch immer um sein Judesein, dem er mit jeder Faser seines Wesens verbunden war und das er nie aufgeben wollte. Das alles liegt dieser wahren Geschichte zugrunde.

Es ist ein ergreifendes Buch über das Lebensende seines zutiefst geliebten und doch während seiner Jugend und den jungen Mannesjahren gehaßten Vaters. Was wäre seine Liebe heute ohne Klarsicht und Nüchternheit? Er begleitet das letzte Jahr seines Vaters, weiß um dessen persönliche Schwächen und Fehler, nimmt sie jetzt an, hadert nicht mehr, selber reif und einsichtig geworden. Das ist wahre Liebe ohne Sentimentalität. Roth kennt seinen Vater und sich selbst, umhegt ihn, sorgt sich um ihn, erkennt im Verfall dieses einst übermächtigen, alle beherrschenden Vaters

die ganze Hinfälligkeit des Menschen, zieht Schlüsse zu seiner eigenen angeschlagenen Gesundheit und seinen eigenen für die Umgebung nicht gerade bequemen psychischen Gegebenheiten und Schwierigkeiten. Er scheut bei der Pflege nicht vor den widerlichsten Verrichtungen zurück, nicht weil er sie für seinen vermögenden Vater leisten müßte, sondern als der zu ihm gehörige Sohn, der die Demütigungen der Abhängigkeit kennt und nachempfinden kann. Philip Roth gibt sich während dieser Krankenzeit auch Rechenschaft über das Judentum seines Vaters und Großvaters, des Immigranten in die Staaten und über sein eigenes, nicht mehr von Pogromen und Unterdrückung beschattetes Leben. Das ist der Unterschied. Auch er ist und bleibt Jude, verbunden mit den Vorfahren über alle Generationen. Ein Buch über Liebe, Selbsterkenntnis, Dankbarkeit und Tradition.

In diesem, wie auch in seinen früheren Büchern, zeigt sich der gewaltige Unterschied des europäischen, vom Schtetl und späteren Holocaust geprägten Judentums zum amerikanischen. Das alles ist für die Juden in Amerika nicht mehr bestimmend. Sie sind frei geboren, sind gleiche Staatsbürger unter anderen, ihre Religion diskriminiert sie nicht, wenn sie sich nicht selber diskriminieren. Sie wollen sich nicht mehr mit den Traumata ihrer Eltern und Großeltern in Europa oder Rußland identifizieren, auch wenn das Entfremdung zu den Eltern bedeutet. Sie wollen sich mit den gleichen Problemen wie alle anderen Amerikaner beschäftigen dürfen, ihre Religion nicht verleugnen, aber als ihre Privatsache betrachten. Nicht die religiösen Gesetze sind ihnen fremd geworden, sondern die sich als Gesetz aufspielenden alltäglichen Verhaltensregeln. Davon sich zu befreien braucht es manchmal fast ein ganzes Leben und davon spricht Philip Roth auch in diesem Buch. Philip Roths Stil ist souverän, es ist Literatur im besten Sinn. Dieses Buch entläßt den Leser nachdenklich und bereichert und hebt sich himmelhoch über die übliche Vater-Sohn-Problematik hinaus und verhilft wohl manchem, sich ehrlicher und liebender mit dem Vater und sich selber auseinanderzusetzen.

Eva Auf der Maur


Jahrgang 1 / 1993/94 Seiten 146-147


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