Woche der Brüderlichkeit 1994
Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille an Prof. Clemens Thoma und posthum an Prof. Jakob J. Petuchowski
Festvortrag
des Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen Johannes Rau zur zentralen Eröffnungsfeier am 6. März 1994 in Wiesbaden
Die „Woche der Brüderlichkeit“, zum fünfundvierzigsten Mal — was kommt da nicht alles in den Sinn?
Muß man das Wort „Brüderlichkeit“ nicht erst ein Stück weit der Romantik, der Sentimentalität entkleiden? Könnte es nicht sein, daß bei diesem Wort vieles mitschwingt von „seid umschlungen, Millionen“, „Brüder über'm Sternenzelt“? Könnte es nicht sein, daß wir das Wort „Brüderlichkeit“ und das Wort „Bruder“ nutzen, mißbrauchen, zur Verfügung stellen, um uns einlullen zu lassen — eine Woche lang? . . .
Wer das gemeinsame Buch der Juden und der Christen ein wenig kennt, der dürfte dieser Gefahr nicht erliegen. Er weiß, vielleicht hat er es auch selber erlebt: Bruder sein, Brüder zu haben, das ist kein Spaziergang, das ist nicht helle Freude, das ist auch Konflikt, das ist manchmal Streit. Brüder kennen sich nämlich. Brüder kennen sich sehr gut. Brüder gehen einander gelegentlich auf die Nerven, nicht nur in dem Kampf um die Zuwendung, die Zuneigung, die Anerkennung durch die Eltern.
Die Bibel erzählt uns von Brüdern, die es nicht gut miteinander gemeint haben. Und wir erinnern uns an Jakob und Esau, und wir gehen ein paar Seiten weiter nach vorn auf die ersten Seiten, und wir erfahren: Es gibt nicht nur Brüderlichkeit in der Welt, es gibt auch einen Bruderkrieg, und es gibt auch einen Brudermord.
Wir brauchen nicht zurückzublicken bis auf die ersten Seiten der Bibel. Wir können in unserem Jahrhundert bleiben, wir können in unserer Region bleiben, wir können in unserer Geschichte bleiben . . . Nein, wir leben in einem Alltag, in dem können wir ständig erfahren: Bruderschaft, Miteinander, von einem Vater reden, sich zu den gleichen Eltern bekennen, das ist nichts Festliches, sondern das ist Arbeit im Alltag. Dennoch begehen wir eine „Woche der Brüderlichkeit“, um daran zu erinnern, daß dieser Auftrag bleibt, nicht, um in einer Woche zusammenzufassen, was an Brüderlichkeit geleistet werden kann, sondern um von einer Woche aus, von einer Stunde aus Nachricht zu geben davon, daß es ohne Bruderschaft, daß es ohne das Bekenntnis zu den Eltern zu Ende geht mit einer Welt, in der der Haß regiert, auch dann, wenn dieser Haß angeschlichen gekommen ist von der Fremdheit über die Angst. . . Das gilt jetzt nicht nur zwischen Juden und Christen, das gilt jetzt nicht nur zwischen Israelis und Deutschen, sondern das beginnt bei uns Deutschen selber, die wir erst lernen müssen, daß Teilung durch Teilen überwunden wird, und daß das Teilen oft das Zusammenwachsen erschwert, die wir erst lernen müssen, daß das Motto dieser „Woche der Brüderlichkeit“ „Bewährtes erhalten, sich öffnen für Neues“, nicht heißt: Der Westen ist gut, den bewahren wir uns jetzt, und wir verbitten uns jeden Störangriff auf diese unsere westliche Bundesrepublik . . .
Brüder, so habe ich gesagt, kennen sich sehr gut. Brüder können einander nichts vormachen, und wenn sie es versuchen, dann geht es schief, nicht nur bei Linsen.
Nein, Brüder, die sich kennen, müssen sich darauf aufmerksam machen, daß es mit den kleinen Dingen anfängt, mit dem Ausländerwitz, den ich erdulde, dem ich nicht widerspreche, bei dem ich verlegen lache. Da fängt es an, daß wir Brüderlichkeit aufgeben.
Vielleicht haben Sie einmal die Geschichte gehört von dem Rabbiner und dem evangelischen Pastor, wie sie sich am Morgen treffen bei einer Tagung? Sie hatten ein gemeinsames Zimmer genutzt, und der evangelische Pastor sagte: „Verzeihen Sie, Herr Kollege, ich hoffe, ich habe Sie nicht gestört gestern abend, weil ich das Licht noch so lange an hatte. Ich mußte noch eine halbe Stunde in der Bibel lesen. Wissen Sie, wenn ich abends nicht eine halbe Stunde in der Bibel lese, dann kann ich einfach nicht einschlafen.“ Und darauf sagte ihm der Rabbiner: „Wie merkwürdig, bei mir ist es ganz umgekehrt. Wenn ich am Abend eine halbe Stunde in der Bibel läse, ich könnte nicht mehr schlafen.“ Nun will ich nicht sagen, daß alle Juden rabbinisch und alle Evangelischen so sind wie der wache Pastor am Abend, aber daß uns diese Nachricht zukommt in einer Woche „der Brüderlichkeit“.
Es kommt darauf an, ob wir uns wecken lassen vom Worte der Schrift und von den Zeichen der Zeit . . . Und das gilt dann nicht nur für den religiösen Bereich, nicht nur für den politischen Bereich, sondern das gilt auch für die Frage, ob wir es in den letzten Jahren und Jahrzehnten zugelassen haben, weil wir eine Leistungsgesellschaft wollten — und wir brauchen eine Leistungsgesellschaft, weil wir eine Marktwirtschaft wollten — und wir brauchen eine Marktwirtschaft — ob wir deshalb zugelassen haben, daß in dieser Welt nur noch nach Ellenbogen gedacht wird, nur noch nach Karriere, nur noch nach Vorankommen, und ob es so nicht dazu gekommen ist, daß wir es mit einer Gesellschaft zu tun haben, die wir mitbewirkt haben, die von allem den Preis kennt und von nur wenigem noch den Wert?
Ob wir mit schuld daran sind, daß die Stichworte „Orientierungslosigkeit“ und „Sinnverlust“ bis in die Schlagzeilen der Tageszeitungen kommen? Ob wir einen Toleranzbegriff gepredigt haben, der in Wirklichkeit der Begriff der Beliebigkeit ist und der nicht die Toleranz meint, von der Carlo Schmid einmal gesagt hat, sie heiße, den anderen nicht dulden, sondern ihn wollen, wie er ist? Dostojewski hat das anders formuliert. Er hat gesagt: Nächstenliebe heißt, den anderen so sehen, wie Gott ihn gemeint hat. Wie sähe unser Leben aus, wenn es das gäbe? Und welche Chancen gingen aus von einer „Woche der Brüderlichkeit“, die Menschen dazu einlädt zu sehen: Eigensinn und Gemeinsinn gehören zusammen? Freiheit — das ist ein Modus der Bindung. Das ist kein Gegensatz. Wir brauchen Selbstbestimmung und Toleranz im einzelnen Menschen und nicht gegliedert in Gruppen, in die der Duldenden und in die der Tätigen. Was hieße das für unsere Arbeitsgesellschaft, wenn wir solche Gedanken ernst nähmen? Die „Woche der Brüderlichkeit“ ist eine große Chance, das zu erkennen. Und daß es sie gibt, ist ein Geschenk, kein selbstverständliches.
Leo Baeck hat 1945 gesagt: Auschwitz, das ist das schmerzhafte Ende der deutsch-jüdischen Symbiose, nie wieder werden wir miteinander reden können. Und er ist dennoch gekommen, und er hat mit uns geredet. Und darum gibt es, unter anderem deshalb gibt es den in vier Jahrzehnten wieder entstandenen Dialog, der das Schweigen durchbrochen hat, das Schweigen, das von Auschwitz und Treblinka und Buchenwald bestimmt war und das wie eine schwere Last auf uns lag.
Es ist nicht selbstverständlich, daß wir miteinander reden, daß die Juden mit uns sprechen, denn diese Last des Schweigens hat auch manche Befangenheit bewirkt, die fortwährt. Und dennoch ist über das Grauen der Schoa hinaus das Gespräch wieder entstanden.
Dann dürfen wir auch an die anderen Brüder denken, von denen die Bibel uns erzählt, dann dürfen wir auch daran denken, daß der, der alles hatte und dem die Brüder so übel mitgespielt hatten, sich zu erkennen gab und sagte: „Ich bin Josef, euer Bruder“ (Gen 45,4). Das war in einer Zeit, in der waren die Kornkammern da voll und an der anderen Stelle war Mangel und Elend. Da haben Brüder zueinander gefunden, und da sind sie neu an die Arbeit gegangen, weil sie die Welt nicht so lassen wollten, wie sie ist. Und dann haben sie angepackt, und dann haben sie, ob Juden oder Christen oder Muslime oder Menschen, die aus humanistischer Tradition oder gar aus atheistischem Engagement ihre Arbeit getan haben, das getan, was uns befohlen ist in dem gemeinsamen Buch: „Seid getrost, tut eure Hände nicht ab, denn euer Werk hat seinen Lohn.“
Laudatio für Prof Dr. Clemens Thoma
Ernst Ludwig Ehrlich
Es ist nicht selbstverständlich, daß ein katholischer Priester die Beschäftigung mit dem Judentum zum Zentrum seiner Tätigkeit macht. Clemens Thoma hat diesen Weg gewählt und ist auf diese Weise einer der wichtigsten Dialogpartner mit dem Judentum geworden. Eine solche Aufgabe ist für einen katholischen Theologen ungemein schwierig, stellt er doch damit stets seine eigene Identität in Frage, muß er diese Auseinandersetzung zwischen Judentum und Christentum erst einmal in sich austragen, ehe er damit an die Öffentlichkeit tritt. . . Das Judentum wird in der katholischen Theologie heute zwar nicht mehr als ein feindliches Phänomen betrachtet, gehört aber vielfach eher zu den persönlichen Hobbies, die ein Theologe sich leistet.
Daß Judentum jedoch in Wahrheit keine Freizeitbeschäftigung für Theologen ist, sondern zentral ihr eigenes Leben betrifft, hat Clemens Thoma in vielen Jahren des Suchens, des Denkens und des Forschens an sich selbst erfahren. Ein solcher innerer Prozeß ist kein friedlicher Vorgang im Rahmen einer ruhigen Entwicklung eines allmählich reifenden Menschen, sondern ein permanenter innerer Kampf. Gewiß hat die katholische Kirche seit dem II. Vatikanischen Konzil im Jahre 1965 viel getan, um Juden und Katholiken einander näherzubringen. Aber das bedeutet in keiner Weise ein tieferes Verstehen des Judentums und des jüdischen Volkes, sondern bestenfalls die Bekundung eines guten Willens, 2000 Jahre fehlgeleitete Geschichte und Theologie in andere Bahnen zu lenken. Auf diesem Hintergrund ist das Werk von C. Thoma zu verstehen, das ja nicht nur ein rein wissenschaftliches ist, sondern weit hinein in den Alltag reicht, in die Begegnung zwischen Juden und Christen in dieser Welt, mit all ihren Problemen, die keineswegs immer spannungsfrei sind, sondern die gelöst oder ertragen werden müssen. Es ist daher geradezu symbolisch, daß Clemens Thoma gemeinsam mit dem allzu früh verstorbenen Jakob J. Petuchowski ein „Lexikon der jüdisch-christlichen Begegnung“1 verfaßt hat. Dieses Werk soll vor allem zeigen, daß Juden und Christen keineswegs immer das Gleiche darunter verstehen, wenn sie gewisse Begriffe gebrauchen. Aber gerade die Erörterungen an der Sache führen zum wirklichen Dialog und können das Verstehen fördern. Daß ein solches Gespräch auch bei scheinbar gegensätzlichen Auffassungen möglich ist, beweisen beide Autoren mit diesem Lexikon . . . Dieses Buch ist die Arbeit einer fünfjährigen gegenseitigen Kontrolle und eines tiefen Nachdenkens über das Wesen von Judentum und Christentum.
Eine wesentliche Aufgabe, weit in die Praxis hineinzuwirken, hat Clemens Thoma übernommen, als er bereit ist, den Freiburger Rundbrief seit 1993 in Neuer Folge weiterzuführen. Diese wichtige Publikation war im Jahre 1948 von der ehrwürdigen Gertrud Luckner und dem früh verstorbenen Karl Thieme begründet worden. Es handelt sich dabei um das wichtigste katholische Organ, nicht nur Wissen über das Judentum zu bieten, sondern auch die fortlaufenden Entwicklungen im jüdisch-christlichen Dialog zu zeigen sowie ein úmfassendes Bild der entsprechenden Literatur vorzuführen. Als Gertrud Luckner diese wichtige Aufgabe altersbedingt aufgeben mußte, trat Clemens Thoma an ihre Stelle, und so wird hoffentlich der Freiburger Rundbrief wieder das umfassende Informationsorgan werden, das es in vier Jahrzehnten gewesen ist. Generationen katholischer Religionslehrer haben hier eine wichtige Quelle für die Gestaltung ihres Unterrichts gefunden. Wir sind dankbar, daß dieses Werk nun seine Fortsetzung findet. Die Beharrlichkeit von Clemens Thoma hat dazu beigetragen.
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Übergabe der Urkunden im Kurhaus Wiesbaden. Foto: C.G. Friedrichsen |
In einer Reihe von wichtigen Büchern hat C. Thoma immer und immer wieder mit den Problemen des Christentums und des Judentums gerungen, etwa in der Neubearbeitung seines Urthemas, „Christliche Theologie des Judentums“, die 1978 zuerst erschienen ist und in diesen Tagen in einer vollständig neuen Bearbeitung erscheint: „Das Messiasprojekt. Theologie jüdisch-christlicher Begegnung“, ein Werk, das auch der engen Zusammenarbeit mit zahlreichen jüdischen Gelehrten Ausdruck verleihen soll. Die persönliche Beziehung zu jüdischen Wissenschaftlern erfolgt durch eine Gastprofessur, die am Institut von Professor Thoma in Luzern angegliedert wurde. Auf diese Weise vermag Clemens Thoma immer aufs neue jüdische Gelehrte kennenzulernen, sich mit ihnen auszutauschen und in lebendiger Verbindung mit der Wissenschaft des Judentums zu bleiben, eine Tatsache, die schlechthin nicht zu überschätzen ist. Schließlich ist Clemens Thoma auch der Herausgeber für jüdisch-judaistische Stichworte in der führenden Theologischen Realenzyklopädie. Es ist in dieser Form sicher ein Novum, daß einem Judaisten hier ein eigenes Ressort übertragen wurde. Dabei geht es um die Einwurzelung jüdischer und jüdisch-christlicher Anliegen in die christliche Theologie und Kirchengeschichte.
Es kann hier nicht unsere Absicht sein, eine Bibliographie von Clemens Thoma vorzulegen. Uns geht es vor allem darum, aufzuzeigen, wie hier ein einzelner Mensch mit sich und anderen kämpft, jede Form des Antisemitismus und Antijudaismus zu überwinden. Ein Mann, der den Mut hat, dies nach allen Seiten zu tun, vor allem auch innerhalb seiner eigenen Kirche, auch wenn ihn dies nicht nur Nervenkraft kostet, sondern auch die stete Besinnung auf die eigene Existenz. Daß es ihm dabei freilich an Anerkennung nicht fehlt, zeigt die heutige Feierstunde. Die Verleihung
der Buber-Rosenzweig-Medaille ist daher mehr als nur die Ehrung eines verdienten Gelehrten, der einen großen Teil seines Lebens der Erforschung jüdischer Quellen widmet, es ist überdies ein Zeichen von Bedeutung, daß mit Clemens Thoma der breiten Offentlichkeit ein Mann vorgestellt wird, der durch seine Existenz der Welt zeigt, daß man nicht Christ sein kann, ohne die Wurzeln dieses Christentums zu begreifen, und daß das Christentum in allen Konfessionen in die Irre geht, wenn es vergißt, daß seine Basis das Judentum war und bleibt. Diese Wahrheit zu verkünden hat sich Clemens Thoma zur Aufgabe gemacht, und damit wirkt er durch seine Lehre und durch seine Bücher in die Offentlichkeit hinein. Eines von manchen Beispielen ist diese Feier, in der vor aller Welt anerkannt werden soll, was ein Mann auch gerade für seine Kirche geleistet hat und, so Gott will, noch lange leisten möge.
- vgl. FrRu NF 1-1993/94, 59 ff.
Laudatio für Prof Dr. Jakob J. Petuchowski, s. A.
Ernst Ludwig Ehrlich
Meine geistige Bekanntschaft mit Jakob Joseph Petuchowski, sichrono liwracha, erfolgte erst relativ spät. Ich hatte für den „Freiburger Rundbrief“ ein Sammelwerk mit dem Titel „Understanding Jewish Prayer“ zu besprechen, dessen Herausgeber Petuchowski war. Dieses Buch erschien 1972. Er selbst schrieb den ersten Artikel „Dynamics and Doctrine“. Ich war von diesem längeren Aufsatz derart angetan, daß ich einen Verlag suchte, diesen fand und mich dann an ihn wandte, ob er eine deutsche Übersetzung wollte. Seine Gattin besorgte die kompetente Übertragung und das Buch erschien unter dem Titel „Beten im Judentum“. Es ist, wie ich meine, eine der schönsten Studien über das jüdische Gebet. Auf diesem Gebiet war das Wirken von Petuchowski besonders fruchtbar; hier war er ein Pionier. „Prayerbook Reform in Europe“, d. h. die Liturgie des europäischen liberalen und Reformjudentums, ist bis heute die grundlegende Studie über dieses Thema. Über seine bedeutenden wissenschaftlichen Leistungen soll aber hier sonst nicht die Rede sein, sondern eher über seine Persönlichkeit, die in dieser Form unaustauschbar und unersetzlich ist.
Er stammte aus Deutschland, wo er am 30. Juli 1925 in Berlin geboren wurde, studierte zuerst in Glasgow und London, dann am Hebrew Union College in Cincinnati. Dahin kam Petuchowski, weil sein Lehrer, Leo Baeck, den er nach dessen Befreiung aus Theresienstadt in London traf, 1948 als Gastprofessor dorthin berufen worden war. Petuchowski kann also als ein deutscher Jude gelten, den es nach England verschlagen hatte und der in den USA landete. Aber so einfach dürfen wir es uns mit solcher Charakteristik nicht machen. Er wurde dort Rabbiner und Professor an dem College, an dem er studiert hatte. Dieses gehört der Richtung der jüdischen Reform an. Aber für Petuchowski war eine solche Einreihung unadäquat. Für ihn galt, und dies auch unter dem Einfluß von Leo Baeck, was in seiner Selbstbiographie so lautete: „Die verschiedenen Einflüsse, die mich geprägt haben, und die mehrfach schillernden Erscheinungsformen des Judentums, die ich im Laufe meines Lebens kennengelernt habe, machen es mir praktisch unmöglich, mich irgendeinem der ,kleinen Judentümer‘ unkritisch zu verschreiben. Das Bewußtsein, daß es bei jedem Problem immer mindestens zwei Betrachtungsweisen gibt . . ., lassen mich davor zurückschrecken, wenn im Namen des Judentums eine einseitige Stellungnahme in religiösen oder politischen Fragen von mir verlangt wird . . .“ — Das kann nur einer schreiben, der zutiefst von seinem Lehrer Leo Baeck geprägt worden war . . .
Hier soll nun nicht weiter von seiner innerjüdischen Sicht der Dinge die Rede sein, sondern von seiner Stellung im christlich-jüdischen Dialog. Seine Erfahrungen in Amerika haben ihn erst später erkennen lassen, daß die Dinge in Europa anders als in den USA waren. Was Petuchowski früher nicht zu Unrecht in Amerika wahrgenommen und kritisiert hatte, bezeichnete er als eine Politisierung dieses Dialogs durch jüdische Organisationen, die dadurch nicht selten suchten, öffentliches Prestige in den Medien zu erlangen. Nun wäre es falsch, den amerikanischen Juden Seriosität und wissenschaftliche Arbeit abzusprechen, es gab aber eben auch anderes. Auf ein weiteres Übel hatte Petuchowski hingewiesen: das Streben nach voller diplomatischer Anerkennung des Staates Israel durch den Vatikan. Dieser Akt sollte der wahre „test case“ für die Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche gegenüber Juden und Judentum sein. Eine solche Meinung geht am Zentrum der eigentlichen Probleme vorbei. Die Politik des Vatikan ist eine Sache, das Anerkennen des Judentums als einer lebendigen Religion eine andere oder, mit dem Apostel Paulus zu sprechen, das Wissen um den „ungekündigten Bund“ Gottes mit Israel. Wobei es ja ohnehin nur einen Bund gibt, in den Christen später eingetreten sind.
Jetzt, nachdem der Staat Israel endlich anerkannt worden ist, hat sich an der eigentlichen theologischen Problematik gar nichts geändert. Christen haben sich nach wie vor damit auseinanderzusetzen, daß es Judentum in Dignität und eigener Identität gibt, obwohl Christen meinen, in einem Aeon zu leben, der sich durch Christi Geburt und Auferstehung entscheidend geändert hätte.
Petuchowski kämpfte dafür, daß der christlich-jüdische Dialog entpolitisiert würde. Es sollte dazu kommen, daß beide Gesprächspartner über Gott, Offenbarung und Erlösung reden, ohne sich über territoriale Fragen und Grenzen in einem Lande zu ereifern, in dem sie ohnehin nicht leben.
Was Petuchowski sich wünschte, war der Typ des religiösen und aufgeschlossenen Juden, wie es ihn einmal — besonders in Deutschland — gegeben hat. Vielleicht könnte ein solcher Typus Jude später einmal in ähnlicher oder anderer Art wieder erstehen. Das war seine Hoffnung. Was sollen nun diese aufgeschlossenen Juden mit ebenso gesinnten Christen eigentlich tun? „Es wird darum zu gehen haben, wie sich die beiden Religionen, bei aller Betonung sowohl des Gemeinsamen wie auch des Trennenden, theologisch einschätzen — und zwar sub specie Dei . . . Und es mag sogar darum gehen, daß man voneinander etwas lernt, etwas, das die Juden zu besseren Juden und die Christen zu besseren Christen macht . . . Auch die Frage nach der gemeinsamen, d. h. sowohl jüdischen wie auch christlichen Verantwortung für die Welt und ihre Einwohner könnte bei einem derartigen Gespräch aufkommen . . . Man könnte sogar verlangen, daß die Anerkennung von dem Weiterfortbestehen der beiden Religionen, als von Gott gewollt, als Vorausbedingung eines derartigen christlich-jüdischen Gesprächs von beiden Seiten angenommen wird“ (Orientierung 31.03.1985). Petuchowski ist sich bewußt, daß er als ein einzelner gelebt und gewirkt hat, weil mit der Schoa nicht nur Menschen, sondern eine ganze Geisteshaltung zugrunde ging, die das Entstehen des modernen Judentums überhaupt erst ermöglicht hat. Petuchowski wollte von dieser untergegangenen deutsch-jüdischen Kultur zeugen. Er wußte aber auch, daß, wenn über Deutschland wieder Rechtsradikalismus und Judenfeindschaft hereinbrechen sollten, es einmal mehr vor allem den Untergang deutschen Geistes und deutscher Humanität bedeuten würde.
Petuchowski war ein großer Rabbiner, Gelehrter und vor allem Lehrer. In dem Nachlaß des am 12. November 1991 Dahingegangenen fand sich eine Notiz. Er wollte über einen Segensspruch sprechen: „Baruch atah Adonai hammelamed tora le àmo Jisrael.“ Petuchowski übersetzte diesen Text so: „Gelobt seist Du, Gott, der sein Volk Israel Tora lehrt.“
Petuchowski war ein großer Jude, der nicht nur seinem Volk Israel, sondern allen, denen er begegnete, Tora gelehrt hat.
Jahrgang 1 / 1993/94 Seiten 166-174