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Gudrun Diestell

Religiöse Führungsqualitäten in einer säkularen Welt

Zur Konferenz jüdischer und christlicher Autoritäten in Jerusalem, 1.-4. Februar 1994

Eingeladen hatten Rabbi David Rosen (Bamot Center, Jerusalem) und Thomas Stransky, Paulist Father, Tantur. Juden und Christen in verantwortlicher Stellung (von Kardinälen, Metropoliten, evangelischen Bischöfen und Oberrabbinern an abwärts) sollten in Jerusalem, dieser exemplarischen Stadt der Heiligkeit und der Umwälzungen, miteinander diskutieren, wie sie über Glaubensdifferenzen hinweg die Welt neu religiös gestalten sollten.

Religionsgemeinschaften in der säkularisierten Welt

1. Kardinal Carlo Martini

Der Erzbischof von Mailand sprach die personale Seite der Leitungsaufgaben eines Verantwortungsträgers in einer Religionsgemeinschaft an, die Spannung zwischen seinen administrativen Aufgaben, den Erwartungen, daß er kreativ Stellung beziehe zu den Themen der Zeit, und dem Kern seiner Aufgaben, dem Umgang mit den „transzendentalen Fragen als den vitalen Themen für alle Menschen“.

2. Oberrabbiner Sirat

ist Professor an der Sorbonne, Vorsitzender des Ständigen Rates der Europäischen Rabbinerkonferenz, der hohes Ansehen unter den orthodoxen Juden genießt. Er sieht die europäische Gesellschaft derzeit in einer tiefen Krise: Mangel an geistiger Orientierung, Zukunftsangst bei jungen und alten Menschen aufgrund der wirtschaftlichen Probleme, Fremdenfeindlichkeit, das Wiederaufleben nationalistischer und rassistischer Strömungen bis hin zu Drohungen mit einem neuen Weltkrieg bestimmen das Bild. Dabei bezog Sirat die Religionsgemeinschaften durchaus in seine Kritik ein. „Die Erde wird nicht zerstört werden durch die Verbrechen, die wir begehen können, sondern weil wir die Tora verlassen“, mit diesem rabbinischen Kommmentar zu einem Wort des Propheten Jeremia charakterisierte er die tieferen Gründe einer weitgehenden religiösen Entwurzelung.

Einen weiteren Akzent legte Sirat auf unser Verhältnis zur Geschichte. Es gelte, zweierlei Strömungen zu widerstehen, dem Verlust an Geschichtsbewußtsein einerseits und den Bestrebungen einer revisionistischen Geschichtsschreibung, die Schrecken der jüngsten Vergangenheit beschönige, andererseits. Der Geschichtsunterricht brauche eine neue Orientierung: nicht mehr an der „langen Litanei der Kriege . . ., der Pogrome, der Verfolgungen, der Annexionen von Gebieten und ihrer Rückeroberung. Der Unterricht sollte vielmehr aufzeigen, was in der Vergangenheit dazu geführt hat, daß Menschen einander getötet haben, und — mehr noch — die außerordentlichen Anstrengungen, die bewundernswerten Fortschritte hervorheben, die die Völker, die Zivilisationen in den vergangenen Jahrhunderten gemacht haben.“

In seinen Ausführungen zu den gesellschaftlichen Fragen aus den neuen Entwicklungen im Erziehungswesen, in Naturwissenschaft und Technik wie in der Gentechnik oder in der Humanmedizin regte Rabbi Sirat an, daß sich die Vertreter der Religionsgemeinschaften gemeinsam als Gesprächspartner bei anstehenden Gesetzesvorhaben an der Diskussion beteiligen sollten.‘

Prinzipiell warnte Sirat freilich vor einer unmittelbaren Beteiligung an der Tages- und Parteipolitik. In diesem Zusammenhang kritisierte er die Leitung der russisch-orthodoxen Kirche zur Zeit des Stalinismus ebenso wie die Geistlichen, die sich, seiner Auffassung nach, zu stark an christlich-demokratische Regierungen in Westeuropa oder in Italien anlehnten, sowie die engen Verbindungen von muslimischen Führern zu ihren Regierungen und die des Rabbinats in Israel mit diesem Staat — eine Kritik, die in der angespannten israelischen Öffentlichkeit lebhaftes Echo hervorrief.

3. Professorin Lois Wilson

ist Rektorin der Lakehead University, Kanada, und Präsidentin des Ökumenischen Rates der Kirchen in der vergangenen Amtszeit. Das Thema behandelte sie in zwei Aspekten: als Problem innerhalb der Religionsgemeinschaften/Kirchen selber und als Fragen zwischen ihnen und der säkularisierten Gesellschaft.

Exemplarisch verwies sie auf die wachsende Kluft zwischen den Armen und den Reichen in der globalen Gesellschaft, auf die Suche nach Frieden und Sicherheit in den Konfliktzonen der Erde, die Zerstörung unserer natürlichen Umwelt, die wachsende Macht von Naturwissenschaft und Technik, die Stellung der Frauen und den Rassismus. Religiöse Leiter können keine schnellen Lösungen auf oft sehr komplexe Fragen anbieten. Sie können jedoch dazu beitragen, daß Maßstäbe zurechtgerückt werden, festgefahrene Meinungen, z. B. „ökonomische Dogmen“ in Frage gestellt werden, und sie können aufgrund vielfältiger Erfahrungen, die bis in die örtlichen Ebenen reichen, die Aufmerksamkeit der Politiker auf sich zusammenbrauende Konflikte lenken, damit im frühen Stadium Lösungen gesucht werden. In bestimmten Situationen können sie schließlich konfliktlösende Prozesse in Gang setzen und begleiten.

4. Kardinal Joeph Ratzinger

ist Präfekt der Römischen Glaubenskongregation. Er war der erste Redner am zweiten Abend: „Die Geschichte der Beziehungen zwischen Israel und der Christenheit ist mit Blut und Tränen getränkt . . . Nach Auschwitz erlaubt die Mission der Versöhnung und der Akzeptanz keine Verzögerung mehr.“ Das läßt die Fragen dringlich und pointiert stellen: „Was könnte der Grund sein für so viel historische Feindschaft zwischen denen, die zusammengehören müssen aufgrund ihres Glaubens an den einen Gott und ihrer Hingabe an seinen Willen? . . . Ist der Konflikt im Herzen der Religion programmiert, und kann er nur durch Absage an diese überwunden werden? . . . Kann christlicher Glaube unter Wahrung seiner inneren Kraft und Würde das Judentum nicht nur tolerieren, sondern in seiner historischen Mission akzeptieren?“

Ratzinger entfaltete die Antwort anhand der Aussagen des 1992 vom Lehramt der Katholischen Kirche veröffentlichten Weltkatechismus als einen „authentischen Ausdruck ihres Glaubens“. Dabei setzte er sich mit einer Reihe klassischer und moderner Positionen katholischer und evangelischer Theologie auseinander und widersprach einer vorschnellen Harmonisierung von jüdischen und christlichen Deutungen Jesu ebenso wie einer grundsätzlichen, dialektischen Gegenüberstellung von Gesetz und Evangelium. In den Mittelpunkt stellte er die Spannung zwischen Universalität und Partikularität — für Israel — „in dem Paradox, daß sein Glaube auf Universalität ausgerichtet war: Da er dem einen Gott aller Menschen galt, trug er in sich die Verheißung, der Glaube aller Völker zu werden. Aber das Gesetz, in dem er seinen Ausdruck fand, war partikular, ganz konkret auf Israel und seine Geschichte ausgerichtet . . .“

Der Katechismus sieht Jesus als den verheißenen Sproß aus Juda, der Israel und die Völker vereinigt im Königreich Gottes. Jesus ist gekommen, nicht das Gesetz abzuschaffen, sondern zu erfüllen bis in das kleinste Gebot. Das Gesetz und das Evangelium stehen in Kontinuität und innerer Kohärenz zueinander. Der Tod Jesu wird erklärt als innerste Solidarität mit dem Gesetz und mit Israel. Der Konflikt Jesu mit dem Judentum seiner Zeit war ein Konflikt von tragischer Tiefe. Gehorsam stand gegen Gehorsam. Das Gesetz, das den auf Universalität ausgerichteten Glauben Israels zum Ausdruck brachte, war partikular auf Israel ausgerichtet und konnte in dieser Form nicht universalisiert werden. Jesus von Nazaret lebte als Jude selbst unter diesem Gesetz, aber er wußte sich gleichzeitig als Vermittler der Universalität Gottes. In der Deutung des Todes Jesu hält der Katechismus fest, daß — historisch gesehen — die Juden nicht kollektiv verantwortlich für Jesu Tod sind. Theologisch gesehen war Jesu Tod kein Zufall aufgrund des unglücklichen Zusammenkommens verschiedener Umstände, sondern Teil des Geheimnisses des Planes Gottes. „Alle Sünder haben Christi Leiden verursacht.“ Jesu Blut ruft nicht nach Vergeltung, sondern es ruft alle zur Versöhnung.

5. Rabbi Irving Greenberg

ist Professor in New York. Er legte einen Entwurf der Auseinandersetzung mit der Moderne aus der Sićht jüdischen Glaubens vor, ein höchst eindrucksvolles Plädoyer für das Leben. Er hob die positiven Züge der Neuzeit hervor: Armut, Kriege, Unterdrückung, Krankheit und Tod sind mehr zurückgedrängt als je zuvor. Die Fähigkeiten des Menschen, des Ebenbildes Gottes, sind entwickelt wie nie zuvor. „Warum“, so fragte Greenberg, „wird so viel dieser menschlichen Leistung definiert als ,Freiheit von Gott‘, in Opposition zur religiösen Tradition und ihren Werten?“ Greenberg kritisierte das Verhalten von Judentum und Christentum beim Aufkommen der Moderne: Beide waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, konzentrierten sich in ihrer Theologie zu sehr auf das Leiden — im Christentum auf das Kreuz, im Judentum auf die Machtlosigkeit. Sie haben nicht verstanden, ihre religiöse Tradition als eine Wahl des Lebens überzeugend zu machen.

Greenberg entfaltete die drei „Geschichten“, die das Volk Israel als Zeuge Gottes der Menschheit „erzählt“ : erstens die von der Welt als Schöpfung Gottes, von der göttlichen Vision einer als vollkommen geplanten Welt. Sie will den Menschen wegführen von der Sicht, die geprägt ist durch die Erfahrung der Zerbrechlichkeit menschlicher Existenz, durch den Tod alles Lebens, durch die Zerstörungen in dieser Welt, hin zu der verborgenen, unendlichen Quelle des Lebens mit ihrer grenzenlosen Güte und ihrer unbegrenzten Macht. Drei große Bewegungen entfalten sich: Die Welt bewegt sich vom Chaos zur Ordnung, vom Nicht-Leben zum Leben und hin auf das Wachstum des Lebens, um mehr und mehr seinen göttlichen Urgrund widerzuspiegeln. In seiner menschlichen Form wird das Leben seinem Schöpfer so ähnlich, daß es Ebenbild Gottes genannt wird. Die zweite Geschichte ist die des Bundes: Gott tritt in die Geschichte ein und lädt den Menschen ein, sein Partner in dem Prozeß zu sein, der die Welt ihrer Vervollkommnung zuführt, und in dem Kampf zwischen den kosmischen Kräften des Todes und den Kräften des Lebens in all seinen Handlungen „das Leben zu wählen“ (Dtn 30). Jeder gute Akt bedeutet die Wahl des Lebens — das ist im Judentum die Definition des Guten. Drittens: Die prophetische Vision lehrt: Am Ende wird die göttlich-menschliche Partnerschaft freiwillig und gemeinsam den Garten Eden wieder erschaffen, der der ursprünglich gemeinte Raum für die Existenz des Menschen im Schoße Gottes war. Dann wird der Triumph des Lebens vollkommen sein.

In der Entfaltung dieser Gedanken setzte sich Greenberg kritisch auseinander mit den religiösen Strömungen im Judentum wie im Christentum, die den Rückzug der Gläubigen aus dieser Welt fordern, sei es in mystischer Versenkung oder in der Vertröstung auf ein Jenseits. Aber er widersprach auch einer unkritischen Anpassung. Nach einer sorgfältigen Analyse des historischen Konfliktes zwischen Juden und Christen hielt Greenberg den Dialog zwischen ihnen für unaufschiebbar. Die Entstehung des Christentums interpretierte er als einen neuen Schritt in der Entfaltung des auf Universalität gerichteten Bundes Gottes mit Abraham.

6. Marvin Wilson,

protestantischer Theologe aus Massachusetts, USA, sprach für die Evangelikale Bewegung, die allein in den USA etwa 70 Millionen Menschen — in theologischer und politischer Vielfalt — umfasse. Aufgrund ihres stark an das Wort gebundenen Schriftverständnisses haben die Aussagen der Bibel über Israel für sie einen hohen Stellenwert. Wilson plädierte für eine neue Beziehung zwischen Juden und Christen, die Kirche müsse sich ihrer Wurzel im Judentum wieder bewußt werden.

7. Metropolit Damaskinos Papandreou,

Genf, plädierte als Vertreter des Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel für eine gemeinsame Weiterarbeit von Juden und Christen: „Wir müssen auf dem bestehen, was uns vereint, und verstehen und respektieren, was uns trennt. Wir müssen gemeinsam die Geschichte neu schreiben.“

8. George Carey

Erzbischof von Canterbury, der Primas der Gemeinschaft der Anglikanischen Kirchen, zeichnete ein lebendiges Bild der multikulturellen Gesellschaft seines Landes. In England ist keine frühere Generation mit so viel verschiedenen Glaubensrichtungen konfrontiert gewesen wie die jetzige. Zeitgleich vollzieht sich ein Prozeß der Säkularisierung, der auf eine Marginalisierung der großen religiösen Gruppen hin tendiert. Als übergreifende Verpflichtung sah der Erzbischof, anzuerkennen, „daß wir Nachbarn sind, daß wir in nachbarlicher Weise miteinander umgehen“: Als Nachbarn haben wir die gemeinsame Aufgabe, vom Ewigen zu einer Welt zu sprechen, die von dem Gegenwärtigen beherrscht wird. Als Nachbarn können wir einander vertreten in den Korridoren der politischen Macht. Als Nachbarn sollten wir uns zu einem Dialog verpflichten, der uns in eine reale geistliche Begegnung führt. Als Nachbarn müssen wir die angemessenen Grenzen des Evangelisierens wahren. Juden waren oft die Opfer intoleranten christlichen Evangelisierens, eines Antisemitismus in den Kirchen, der half, das Klima zu schaffen, in dem der Holocaust Realität wurde.

Schwierigkeiten am Schluß

Zum Abschluß der Tagung sollten zwei religiöse Führer aus Israel zu Wort kommen. Auf dem Hintergrund der Proteste des rechten Flügels der jüdischen Orthodoxie sagte jedoch der Oberrabbiner seine Teilnahme ab. An seiner Stelle zog der Oberrabbiner von Südafrika, Cyril K. Harris, in einem auf die globale Situation bezogenen Referat die praktischen Konsequenzen aus den Vorträgen der vorausgegangenen Tage. Aus dem Erfahrungshintergrund eines katholischen Geistlichen, der Palästinenser ist, sprach der lateinische Patriarch von Jerusalem, seine Seligkeit Michael Sabbah. Er beschrieb seinen Dienst als inmitten moralischer und physischer Gewalt und täglicher Ängste und Leiden. Die Dynamik des israelisch-palästinensischen Konflikts habe zu einer Politisierung der Existenz geführt, die die Menschen auf ihre politische und ökonomische Dimension reduziere und so entmenschliche und entsakralisiere. Die kleine christliche Minderheit muß ihre Identität als Christen in der Spannung zu ihrer Identität als Palästinenser halten — auch in ihren Versuchen der Zusammenarbeit anstelle der Konfrontation mit den Israelis. Sabbah warnte vor religiösem Extremismus auf allen Seiten und forderte die religiösen Führer der Juden, der Christen und der Muslime gerade in Jerusalem zu einem Dialog und zu gemeinsamem Eintreten für die Religionsfreiheit als der fundamentalsten aller Freiheiten auf, einschließlich des ungehinderten, aber disziplinierten Zugangs zu den Heiligen Stätten der Juden, Muslime und Christen.

Was hat die Jerusalemer Konferenz erbracht?

Die Konferenz ist von verschiedenen Seiten kritisiert worden: Durch die zeitliche Nähe zum Abschluß der politischen Vereinbarung zwischen dem Vatikan und dem Staat Israel sei auf der christlichen Seite der römisch-katholische Akzent in der Öffentlichkeit zu stark hervorgetreten. Der israelische Minister für Tourismus habe die Konferenz erheblich mitfinanziert, um den Tourismus — eine wichtige Einnahmequelle für Israel — durch Verstärkung der christlichen Pilgerreisen weiter anzukurbeln. Das mag alles sein — die eigentliche Bedeutung der Konferenz wird dadurch aber nicht getroffen.

Die Thematik der religiösen Führung in einer säkularisierten Gesellschaft — und diese eingebettet in den jüdisch-christlichen Dialog — traf offensichtlich auf eine akute Fragestellung; sonst hätte die Tagung nicht so viele wirkliche Führungskräfte, namhafte Bischöfe, Professoren, führende Laien angezogen — statt der erwarteten 200 Teilnehmer kamen über 500. Das Programm war — vergleichbar akademischen Kongressen — frei von dem Erfolgsdruck zu verabschiedender Resolutionen und Arbeitspapiere. So konnten wirkliche Begegnungen stattfinden — ein wichtiges Moment für jegliche internationale Zusammenarbeit, besonders in einem so sensiblen Feld wie den Beziehungen zwischen Christen und Juden. Für die christliche Seite boten die Tage darüber hinaus die Chance der Begegnung in einer Breite der Konfessionen, wie es sie sonst kaum gibt.

Im Kontext des jüdischchristlichen Dialogs bedeutet die Jerusalemer Konferenz zunächst die Dokumentation dessen, was dieser Dialog seit dem Zweiten Weltkrieg erbracht hat, und zwar auf globaler Ebene. Für das Judentum bedeutete dies eine bedeutsame Verbreiterung der Gesprächsebenen — bisher wurden die internationalen Dialoggruppen zumeist personell und geistig stark vom amerikanischen Judentum geführt als der geistig und wirtschaftlich führenden Kraft des Diasporajudenturns. Nun wurde dieser Dialog im Herzen Israels geführt, aufgrund einer Initiative in Jerusalem und unter der Beteiligung führender Rabbiner anderer Kontinente. Für die christliche Seite bot die Tagung eine Zusammenschau von bisher getrennt geführten Gesprächen.

Die globale Zusammensetzung des Teilnehmerkreises ließ Fragen erkennbar werden, die außerhalb des Programms der Konferenz lagen, aber des weiteren Studiums bedürfen. Bisher war der jüdisch-christliche Dialog inhaltlich weitgehend von den Fragestellungen in Europa und Nordamerika bestimmt. Was aber bedeutet solch ein Dialog z. B. für Juden und Christen in den lateinamerikanischen Ländern wie Brasilien oder Chile, wenn sie ihren spezifischen Kontext berücksichtigen? Was bedeutet er für die Kirchen, die als kleine Minderheiten in den islamischen Ländern Afrikas oder Asiens leben? Was bedeutet er für die südlichen Kirchen, die in ihrer Theologie und in ihrer kirchlichen Praxis ein unmittelbareres Verhältnis zum Alten Testament haben als wir Europäer, die wir durch eine jahrhundertealte philosophische Tradition geprägt sind? Zusammengefaßt gefragt: Was bedeuten die Erkenntnisse der Jerusalemer Konferenz, des jüdisch-christlichen Dialogs für den Prozeß der Inkulturation?

Inhaltlich hat die Konferenz klar gezeigt: Der innerste Kern des Glaubens von Juden und Christen enthält nicht nur die beiden Seiten geläufigen tiefgreifenden Unterschiede, sondern auch einen breiten gemeinsamen Fundus. Die Fragen und Aufgaben, die aus der geistigen, der naturwissenschaftlich- und der wirtschaftlich-sozialen Entwicklung unserer Zeit entstehen, stellen nicht nur Juden und Christen vor gemeinsame Aufgaben, sie berühren auch gemeinsame Glaubensüberzeugungen und ethische Maßstäbe. Diese Entwicklung stellt neue Themen für den Dialog, wobei jeder Partner das Spezifische seines Glaubens und seiner historisch gewachsenen Prägung einzubringen vermag. Zur Fruchtbarkeit der Gespräche auf der Konferenz hat zweifellos beigetragen, daß jeder Partner seine Bilanz im Angesicht des anderen zog — im Unterschied zu den Berichten an die eigenen Reihen.

Zur Dokumentation gehört die Rezeption. Sowohl im Judentum als auch in den christlichen Kirchen ist der jüdisch-christliche Dialog bisher vor allem die Sache engagierter, aber zahlenmäßig kleiner Kreise gewesen, auch dort, wo sich der Dialog in der Form kirchenoffizieller Kommissionen vollzog. In Jerusalem konnte sich zum ersten Mal eine große Zahl kirchlicher Verantwortungsträger mit diesen Themen vertraut machen und zugleich sich an solchem Gespräch unmittelbar beteiligen. Marvin Wilson forderte in seinem Referat zu Recht, die Rezeption weiterzuführen und darauf zu dringen, daß im christlichen Religionsunterricht und in den sonntäglichen Predigten nicht das alte, verzeichnete Bild von den Juden weiter tradiert werde. Das jüdisch-christliche Gespräch muß nach wie vor Widerspruch überwinden. In Jerusalem wurde das in der ablehnenden Reaktion des orthodoxen jüdischen Flügels sichtbar, in den christlichen Kirchen wird es kaum solch lautstarken Widerspruch geben, wohl aber Skepsis und Indifferenz, die gleichfalls lähmen. Das Bewußtsein dafür, daß es für uns unumgänglich ist, uns mit dem Erbe aus unserer über Generationen hin belasteten Geschichte auseinanderzusetzen und daraus etwas Neues für die Gegenwart und die Zukunft wachsen zu lassen, muß verstärkt werden. Die Jerusalemer Konferenz hat erneut gezeigt, wie hilfreich es für solchen Rezeptionsprozeß ist — der immer auch zugleich ein innerkirchlicher Klärungsprozeß ist, wenn er mit einem Dialog mit jüdischen Partnern verschränkt werden kann.

Wie werden die Impulse dieser Konferenz aufgenommen werden? Die Konferenz ist aus der Initiative einzelner Persönlichkeiten heraus entstanden. Damit kann sie — anders als die internationalen kirchlichen Konferenzen — für die Weiterarbeit keinen strukturellen Halt bieten. So bleibt es wieder der Initiative der einzelnen Teilnehmer überlassen, das, was sie an Anregungen mitgenommen haben, in ihrem Verantwortungsbereich umzusetzen. Im Judentum ist dies geläufig — ihm fehlen institutionelle Strukturen, die denen der Kirchen vergleichbar sind. Für die christliche Seite — jedenfalls im europäischen Raum — ist dies ungewohnt. Die Jerusalemer Konferenz war ein Angebot — es liegt nun an den Teilnehmern, dieses umzusetzen, inhaltlich zu vertiefen und weitere Kreise daran teilhaben zu lassen. Eine geplante weitere Konferenz soll den Islam als Gesprächspartner einbeziehen.


G. Diestel ist Oberkirchenrätin a. D. der ev.-luth. Kirche in Bayern.


Jahrgang 1 / 1993/94 Seiten 183-191



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