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Gertrud Luckner
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Für eine bessere Welt

Internationaler Rat der Christen und Juden (ICCJ)

Das vorliegende Dokument wurde von der Theologiekommission des Internationalen Rates der Christen und Juden (ICCJ) erarbeitet. Mit Blick auf Dialog und Zusammenarbeit stellt es zum einen spezifisch jüdische und christliche Sichtweisen und zum anderen gemeinsame Auffassungen bezüglich einer gemeinsamen religiösen Basis für die Bemühungen von Juden und Christen um eine bessere Welt dar.

Die Kommission war gegründet worden, um jene, die sich innerhalb des ICCJ und seiner Mitgliedsorganisationen der Vertiefung des jüdisch-christlichen Gesprächs und der Verstärkung der Zusammenarbeit angenommen haben, anzuregen, über die Grundelemente nachzudenken, auf denen das Engagement der Arbeit des ICCJ beruht.

Die folgenden Ausführungen stellen nicht die offizielle theologische, philosophische oder ideologische Position des ICCJ und seiner Mitgliedsorganisationen dar, sondern sind als Anregung zu verstehen, sich über die Arbeit des ICCJ in ihren konkreten Zielen und Bestrebungen klarzuwerden. Sie beanspruchen keine Autorität, sondern können nur dadurch überzeugen, was sie selbst wert sind.

Eine frühere (englische) Fassung dieser Überlegungen war Delegierten jener ICCJ-Mitgliedsorganisationen vorgelegt worden, die an der vom ICCJ vom 12. bis 15. Juli 1992 in Eisenach (ehemals DDR) abgehaltenen theologischen Konsultation teilgenommen hatten, und war aufgrund der dort geführten Diskussionen abgeändert worden. In den anschließend erbetenen Stellungnahmen reagierten viele der Mitgliedsorganisationen direkt, andere hatten sich an theologische Experten in ihren Ländern gewandt, diese Erwägungen zu überprüfen. In der Schlußfassung dieses Textes haben wir versucht, den eingegangenen Reaktionen sorgfältig Rechnung zu tragen. Was heißt in einem derartigen Kontext jedoch „Schluß“? Sicher wird die Diskussion über die aufgeworfenen Fragen weitergehen. Wir hoffen aber, daß unsere Darlegungen für all jene hilfreich sein werden, die sich in unserer Arbeit engagieren, und sie darüber hinaus ermutigen werden, ihre Anstrengungen in noch stärkerem Maße fortzusetzen. Wir würden weitere Anregungen und Kommentare für die zukünftige Arbeit der Theologiekommission des ICCJ begrüßen.

Eine traumatische Vergangenheit

Immer mehr Christen und Juden sind heute in den Prozeß der Begegnung, des Dialogs und der Zusammenarbeit eingebunden. Sie bringen dazu sehr unterschiedliche Erfahrungen und Perspektiven mit. Dieser Prozeß wurde als Folge der Schoa, der nahezu vollständigen Zerstörung des europäischen Judentums, intensiviert und beschleunigt.

Christen erkannten, daß die Schoa, die in einer stark vom Christentum geprägten Kultur erfolgte, kein Unglücksfall der Geschichte, sondern zum großen Teil aus jahrhundertealten, antijüdischen Sichtweisen und Haltungen erwachsen und genährt worden war. Im Interesse seiner eigenen moralischen und religiösen Integrität sowie aus Verantwortung für die Juden und die Welt als Ganzes muß das Christentum von derartigen Auffassungen gereinigt werden. Christen wurden sich darüber hinaus auch der Tatsache bewußt, daß ein von seinen jüdischen Wurzeln abgetrenntes Christentum eine grundlegende Dimension seiner eigenen Identität verliert. Aus der Überzeugung, daß es unmöglich ist, sich in einen Prozeß der Neubesinnung und des Neuaufbaus zu begeben, ohne ein tieferes Verständnis für die jüdische Religion, Kultur und Geschichte zu entwickeln, suchten Christen die Begegnung und das Gespräch mit Juden.

Juden beteiligten sich an diesem Prozeß in dem Bewußtsein, daß Begegnung und Dialog helfen könnten, Vorurteilen, Diskriminierung und Verfolgung entgegenzuwirken, sowie in dem Bestreben, positiv auf Bemühungen christlicherseits zu reagieren, ein gesundes Klima des gegenseitigen Respektes und der Zusammenarbeit zu schaffen.

Da die Beziehungen zwischen Juden und Christen mit den Auswirkungen tragischer Konflikte, mit Trauma und Schuld belastet sind, sind bis heute viele Christen und Juden nicht in der Lage oder bereit gewesen, einen wirklichen Dialog zu beginnen. Nichtsdestoweniger hat eine beträchtliche Zahl Christen und Juden in diesen Bestrebungen durchgehalten, und so ist es auch gelungen, eine Basis gegenseitigen Verständnisses und Vertrauens zu finden, die es möglich macht, bisherige Verzerrungen einigermaßen richtigzustellen, über die Vergangenheit hinweg in die Zukunft zu schauen und die gemeinsame Verantwortung für die Welt von heute und morgen zu erkennen.

Auf dem Weg zu einer besseren Welt

Der jüdisch-christliche Dialog mag viele Ziele haben, das höchste aber ist die Schaffung einer besseren Welt, einer Welt, in der Gottes Wille befolgt wird, einer Welt in Gerechtigkeit und Frieden. Wir vom ICCJ sind uns bewußt, daß Europa, wo die Beziehungen zwischen Juden und Christen durch ständige Konflikte und Tragödien gekennzeichnet waren, als mahnendes Beispiel dient. Wir glauben, daß wir als Juden und Christen gemeinsam daran arbeiten müssen, ein neues Europa zu schaffen, das heute stärker denn je gefordert ist, seine moralische und geistige Struktur neu zu formulieren — in einer Zeit der Desorientierung, die aus dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme und der tiefen Wertekrise im Westen resultiert. Das Aufflammen von Intoleranz, von Fremdenhaß und extremem Nationalismus und Antisemitismus in Europa und anderswo haben in der jüngeren Vergangenheit deutlich gemacht, wie zerbrechlich das Zivilisationsgefüge auch heute noch ist. Tiefe Beunruhigung erwecken auch jene Bestrebungen, die im Versuch, diese negativen Tendenzen zu bekämpfen, die Restauration eines „christlichen Europas“ fordern. Die Antwort darauf kann nur lauten, daß europäische Kultur nicht auf ihre christliche Komponente reduziert werden kann und darf. Viele andere Faktoren, darunter die jüdische Religion und Kultur, haben bei der Entwicklung der europäischen Zivilisation eine wichtige Rolle gespielt, eine Tatsache, die nicht geleugnet werden darf.

Dieses Dokument wurde erstmals anläßlich unserer Konsultation im Jahre 1992 vorgelegt, fünfhundert Jahre nach der Vertreibung der Juden und Muslime aus Spanien sowie nach der „Christianisierung“ von Lateinamerika, die die Unterwerfung der eingeborenen Bevölkerung bedeutete.

Das Eingeständnis derartigen Religionsmißbrauches in der Vergangenheit muß uns ebenfalls mahnendes Beispiel sein. Die Verantwortung für die Schaffung einer besseren Welt obliegt uns allen. Sie kann nur mittels gezielter Diskussion auf allen Ebenen zum Tragen kommen. Auch dürfen entsprechend eingesetzte Maßnahmen keine Bedrohung für Traditionen, Glaubensstrukturen oder Wertsysteme all jener bedeuten, die solche Verantwortung übernommen haben. Jeder einzelne ist aufgerufen, in seiner eigenen Tradition angemessene Antworten auf die brennenden Probleme der heutigen Zeit zu finden, gleichzeitig aber Einsichten anderer Glaubenstraditionen und Wertsysteme zu erkennen und ernstzunehmen. Innerhalb dieser vielfältigen und vielseitigen Diskussion ist Raum und vor allem die Notwendigkeit für verschiedenartigste, bilaterale Dialoge. Einer davon ist der christlich-jüdische Dialog, der über viele Jahrhunderte hinweg praktisch unmöglich war. Doch wenn jetzt Juden und Christen versuchen, über ihre tragischen Beziehungen in der Vergangenheit hinauszublicken, finden sie — beide aus der eigenen besonderen Perspektive — in ihrer jeweiligen Tradition eine Basis, auf der sie den religiösen Dialog und die Zusammenarbeit mit dem jeweils anderen beginnen können. Dabei entdecken sie auch eine gemeinsame religiöse Basis, Ausgangspunkt für gemeinsame religiöse Beiträge zu umfassender Diskussion zwischen all jenen, die nach den Werten suchen, welche Europa und die Welt lenken und leiten sollen.

Die Beziehungen zwischen Judentum und Christentum weisen unverkennbar eine deutliche Asymmetrie auf, was jedoch weder auf der einen noch auf der anderen Seite einer Minderbedeutung gleichzusetzen ist. Diese Asymmetrie drückt sich in den unterschiedlichen Perspektiven aus, von denen aus Juden und Christen den Dialog und die Zusammenarbeit miteinander betrachten. Während das Christentum anerkennt, daß seine Wurzeln hauptsächlich im Judentum liegen, kann natürlich aus jüdischer Sicht keine derartige Beziehung zum Christentum bestehen. In dem wir diese Tatsache anerkennen, bestätigen wir ein gemeinsames Programm, in welchem wir die Bedürfnisse beider Seiten berücksichtigen.

Jüdische religiöse Perspektiven hinsichtlich Dialog und Zusammenarbeit mit Christen

Jüdische Haltungen gegenüber Nichtjuden und Christen
  1. Gemäß dem Bund, den Gott mit Abraham, Isaak und Jakob geschlos sen hat, ist Israel aufgerufen, den Namen Gottes überall in der Welt zi heiligen, indem es durch seine bloße Existenz als auserwähltes Voll Zeugnis von der Gegenwart Gottes ablegt, um ein Licht für die Natio nen der Welt zu sein. Mit dem Ziel, daß alle Menschen dieser Erde ei] Leben nach dem Willen Gottes führen, — nicht durch Bekehrung zur Judentum, sondern im Rahmen ihrer jeweils besonderen historische] und kulturellen Identität — ist Israel berufen, den Völkern zum Sege] zu sein.
  2. Die gesamte Menschheit ist in Gottes Bund mit Noach eingeschlosse und hat den Auftrag empfangen, nach den sieben noachitischen Gebo ten zu leben, welche das Wesen universaler Moral darstellen: die Ver bote zu töten, Götzen zu verehren, zu stehlen, Inzest zu begehen Gott zu lästern, Grausamkeiten an Tieren zu verüben sowie der Auf lage, Gerichtshöfe einzurichten. Jene, die diesem Bund entsprechen leben, heißen „die Gerechten unter den Völkern, welche Anteil habe] an der künftigen Welt“.
  3. Rabbinische Haltungen dem Christentum gegenüber haben sich in Lauf der Geschichte mehrfach stark verändert: von dem Gedanken das Christentum sei götzendienerisch oder zumindest ein „fehlerhaf ter Monotheismus“, über die Ansicht, es sei ein Hilfsmittel für di Menschheit, der universellen Erlösung näher zu kommen (Maimoni des), bis hin zu der Meinung, die Christen seien „ein den Wegen de Religion verpflichtetes Volk“ (Rabbi Menahem Ha-Meiri), oder jene Volk, das „an die Schöpfung, an den Exodus und an die Hauptprinzi pien der Religion glaubt und dessen ganzes Streben darin zu suchen ist, dem Schöpfer des Himmels und der Erde zu dienen“ (Rabbi Moshe Rivkis, der Be‘er ha-Golah).

Zumindest diese — letztere — Sichtweise impliziert die Anerkennung einer besonderen Beziehung zwischen Judentum und Christentum. Dies drückt sich nicht nur durch eine religiös-ethische Partnerschaft aus, sondern basiert außerdem auf dem gemeinsamen religiösen Erbe, den Hebräischen Schriften.

Gründe für Juden, mit Christen Beziehungen aufzunehmen, sind folgende:
  1. die Notwendigkeit, gegen Unwissenheit, Vorurteil, Bigotterie und deren gewalttätige Auswirkungen gemeinsam Position zu beziehen, ausgehend von dem mit Christen und Angehörigen anderer Religionen gemeinsamen Bekenntnis zu Gottes Gegenwart in unserer Welt;
  2. das Bestehen gemeinsamer Zielsetzungen, die aus jenen Glaubenssätzen und Glaubenswerten (z. B. der Glaube an Gott den Schöpfer, die Verpflichtung auf die noachitischen Gebote und die Erwartung der Herrschaft Gottes über die Erde) erwachsen, welche Juden und Christen aufgrund ihrer gemeinsamen biblischen und historischen Wurzeln verbinden;
  3. die gemeinsame Heiligung des Namens Gottes mit allen Menschen, die nach dem Willen Gottes leben, und die Möglichkeit einer Partnerschaft mit Christen, den Namen Gottes vor aller Welt zu heiligen;
  4. die Möglichkeit, Gott besser kennen- und tiefer liebenzulernen, indem man ihn überall dort sucht, wo immer sich Gotteserkenntnis im Leben und Glauben von Menschen anderer Religionen erfahren läßt. In religiösen Begegnungen mit den Gerechten unter den Völkern begegnen Juden auch anderen Sichtweisen auf den Allgegenwärtigen, die nicht vollständig in einer einzelnen Tradition zur Geltung kommen können: auf diese Weise wird ihnen eine tiefere Erfahrung des Göttlichen zuteil.

Christliche religiöse Perspektiven hinsichtlich Dialog und Zusammenarbeit mit Juden

Die Überwindung von Hindernissen, die aus gemeinsamen Wurzeln stammen.

Da das Christentum im Judentum wurzelt, entspringen viele Bilder, Symbole, Ideen und Begriffe beider Religionen einer gemeinsamen Quelle. Paradoxerweise ist diese gemeinsame religiöse Basis aber das größte Hindernis auf dem Wege zum Dialog und zur Zusammenarbeit, zumindest insofern, als das Christentum sich als Nachfolger des Judentums verstanden und als den einzigen und legitimen Bewahrer und Vertreter dieses religiösen Erbes betrachtet hat, dessen jüdische Interpretation es als antiquiert, fehlgeleitet und von hartnäckiger Ablehnung der Wahrheit geprägt definierte. Gerade das, was das Christentum mit dem Judentum verbindet, hat sich traditionellerweise als Hindernis für die Anerkennung und Würdigung der jüdischen Interpretation jener gemeinsamen Wurzeln erwiesen. Die größten Hindernisse christlicherseits für die Anerkennung einer gemeinsamen religiösen Basis für Dialog und Zusammenarbeit mit den Juden sind folgende:

  1. die Lehre, daß die Tora durch Jesus Christus als Gottes endgültige Offenbarung ersetzt worden sei;
  2. die Verkündigung, daß Jesus von Nazaret der Israel verheißene Messias sei;
  3. die Abwertung des nationalen Charakters des Bundes Gottes mit Israel, indem er durch einen göttlichen Bund mit allen, die „in Christus“ sind, als ersetzt angesehen wird;
  4. die Ablehnung der Tatsache, daß das Israel verheißene Land für das jüdische Volk von theologischer Bedeutung ist.
Neueres theologisches Denken christlicherseits versucht, diese Hindernisse auszuräumen und erklärt:
  1. Die Tora, als Manifestation des Sinaibundes, bleibt für die Juden fortwährend gültig, gleich einem Geschenk, das nie widerrufen wurde (Röm 9,4; 11,29). Ebensowenig ist die Tora für die Christen überflüssig geworden. Sie bleibt vielmehr Teil von Gottes Offenbarung, wenn auch in neuer Interpretation durch die Person von Christus (Mt 5,17; Joh 10,35). Die beiden Hauptgebote, die Jesus die größten nannte (Mk 12,28-31), sind Gebote der Tora (Dtn 6,4.5 und Lev 19,18); die Zehn Gebote, die das Volk Israel am Sinai erhalten hat (Ex 20 und Dtn 6), stellen das Kernstück der christlichen Ethik dar.
  2. Einer der wichtigsten Aspekte der Messiasverheißung an das Volk Israel — auch im Neuen Testament — ist die Befreiung Israels aus der Fremdherrschaft. Diese Befreiung fand allerdings nicht durch Jesus von Nazaret statt. Ihn als „den dem Volk Israel verheißenen Messias“ zu bezeichnen, wäre daher keine adäquate Beschreibung seiner Person. Im Laufe der christlichen Tradition hat die Kirche dem Namen „Christus“ (abgeleitet von der griechischen Übersetzung von „Messias“), den die frühen christlichen Gemeinschaften ihrem Herrn, Jesus von Nazaret, gaben, viele Assoziationen und Attribute hinzugefügt, um die ganze Größe seines Wesens zu verdeutlichen. Sie drücken die Mysterien des christlichen Glaubens aus (wie z. B. die Begriffe Inkarnation und Trinität), welche das Wort „Messias“ nicht unbedingt wiedergibt. So sollte man christlicherseits im Gebrauch dieses Wortes zurückhaltend sein, da es nicht geeignet ist, der Person Jesu Christi gerecht zu werden, obwohl es die jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens stark zum Ausdruck bringt.
  3. Gottes Bund mit dem Volk Israel wurde durch das Kommen des Christus nicht außer Kraft gesetzt. Die Kirche als der Leib Christi ist nicht Nachfolgerin oder Erbin des Bundes Gottes mit Israel, sondern ein neuer Weg, der den Menschen eröffnet wird, neben und mit dem Volk Israel Gemeinschaft mit Israels Gott zu erlangen. Demzufolge ist das Bestreben, Juden zu bekehren — oft als Judenmission bezeichnet — theologisch unhaltbar. Das Kommen Christi hat den Zweck der Tora, dem Leben Israels — als ein besonderes Volk mit einer besonderen Berufung — Form zu geben, nicht verändert.
  4. Das jüdische Volk ist unauflöslich mit dem Land Israel verbunden, das zum Bund Gottes mit diesem Volk gehört. Es fällt Christen oft schwer, dies zu verstehen, weshalb sie sich auch bemühen sollten, diese Verknüpfung und die starke innere Bindung der großen Mehrheit der Juden zum Land Israel und dadurch zum Staat Israel zu verstehen.

Es obliegt Christen keineswegs, die Tora in ihrer Gesamtheit zu befolgen, wie Juden dies tun, da sich die christliche Kirche doch wesentlich vom jüdischen Volk unterscheidet. Was sie als Jünger Jesu Christi, der die Tora als Ausdruck des Willens Gottes befolgte und zu ihrer Auslegung beitrug, tun können und sollen, ist, sich von den Werten und Beispielen der Tora inspirieren zu lassen, damit sie die vielen verschiedenen Elemente ihres nationalen, sozialen, ökonomischen, kulturellen und politischen Lebens im Licht der Tora gestalten.

Eine Nation oder eine unterdrückte Volksgruppe mag zum Beispiel den eigenen Befreiungskampf im Lichte des Exodus des Volkes Israel sehen. Gleicherweise mag man die dem Volk Israel gegebenen biblischen Gebote hinsichtlich der Bearbeitung des Landes (z. B. Anordnungen über das Sabbatjahr, nach denen das Land letztlich Gottesland ist; die Freilassung von Sklaven und der Erlaß von Schulden) als Beispiele für die eigene Haltung gegenüber Land und Menschen betrachten. Oder man nutzt jene Gebote, welche Rechte und Würde von Nichtjuden, die unter dem Volk Israel leben, betreffen, als Leitbild im Umgang mit Ausländern in der eigenen Gesellschaft. Das muß in dem Bewußtsein geschehen, daß solche Anwendung biblischer Gebote nur als Beispiel und in Analogie geschehen kann, ohne ihren ursprünglichen Sinn und Kontext als dem Volk Israel gegebene Gebote voll auszuschöpfen, zu verändern oder außer Kraft zu setzen.

Die gemeinsame religiöse Grundlage von Judentum und Christentum

Auf der Basis des gemeinsamen Patrimoniums der Heiligen Schrift, aus dem gemeinsame Glaubensinhalte und gemeinsame Werte entspringen, teilen Juden und Christen miteinander:  

eine besondere Sicht auf die Menschheit, die Welt und Gott, wie z. B.

  • den Glauben, daß die Welt die Schöpfung des Einen Gottes ist;
  • den Glauben, daß Gott jenseits jedes weltlichen Wesens, jeder Macht und Idee steht (auch nur eines davon als absolut zu betrachten, wäre Götzendienst);
  •   
  • die Erkenntnis, daß die Welt der Sorge und Pflege durch den Menschen anvertraut ist, der aufgerufen ist, sie nach dem Willen Gottes zu betreuen und zu schützen und — in Erfüllung dessen — Gottes Partner zu sein;
  • die Erkenntnis, daß jedes menschliche Wesen nach dem Bilde Gottes erschaffen wurde und deshalb für Gott unendlich wertvoll ist;
  • die Erkenntnis, daß die Menschen füreinander verantwortlich sind;
  • das Anerkennen von Gottes Souveränität in Gnade und Gerechtigkeit über die Menschheit und die Welt;
  • die Erkenntnis, daß Gott in der Geschichte und im Leben der Menschen gegenwärtig ist;
  • die Hoffnung auf die Errichtung des Reiches Gottes der Gerechtigkeit, des Friedens und der Liebe auf Erden;

ein spezielles Ethos oder eine Reihe von Werten, welche von diesem Gottes-, Welt- und Menschheitsverständnis herrühren, wie:

  • Schutz und Bewahrung von Gottes Schöpfung — alles nach seiner Art — in verantwortlicher Haushälterschaft;
  • die Bestätigung der Heiligkeit des menschlichen Lebens;
  • der Schutz der Würde jedes menschlichen Wesens, ungeachtet seiner Herkunft, Rasse, seines Geschlechts, seiner Eigenarten oder Fähigkeiten;
  • der Schutz der Familie;
  • das Streben nach Gerechtigkeit für alle Menschen, besonders für die Schwachen und Verletzlichen;
  • das Streben nach gegenseitiger Solidarität und Frieden in den Beziehungen der Menschen untereinander: in der Familie, in der Gesellschaft, in den Nationen und zwischen den Nationen;
  • die Ablehnung von Sklaverei, Unterdrückung und autoritären Systemen;
  • das Streben nach Demut als dem richtigen Gleichgewicht zwischen Stolz und Unterwürfigkeit;

eine reiche Literatur:

  • die Hebräische Bibel, bestehend aus Erzählungen, Poesie, Hymnen, prophetischer Literatur, Weisheitslehre und Geschichtsschreibung, die durchtränkt sind vom oben beschriebenen Gottes-, Menschheits und Weltverständnis und vom schon erwähnten Ethos. Sie haben für die Gegenwart große geistige, moralische, soziale und kulturelle Bedeutung.

Von besonderer Bedeutung ist die im Sabbat enthaltene Botschaft, welche lehrt, daß das Leben der Menschen auf Erden abwechseln soll zwischen Heiligem und Profanem, zwischen Aktivität und Passivität, zwischen Herrschaft und Abhängigkeit, zwischen Kreativität und Kreatur-Sein unter den anderen Kreaturen. Das Christentum hat einige Elemente des Sabbat im Feiern des Sonntags übernommen, aber die ganze Tragweite dieses Aspekts der Lehre der Tora für das menschliche Leben in der Gesellschaft und für die Beziehung der Menschen zur Umwelt wird selten erkannt.

Grenzen des Pluralismus

Da die menschliche Begegnung mit Gott von Natur aus begrenzt ist, besteht immer die Notwendigkeit für Reflexion und Überprüfung, für Reinigung und Erneuerung. Kurz, theologische Demut ist nötig. Religiöse Selbstkritik ist ein wesentlicher Bestandteil davon.

Es ist unangebracht und anmaßend, wenn Außenstehende darüber urteilen, was in einer religiösen Gemeinschaft deren wahre Religion und was Götzendienst sei. Wem die religiöse Symbolsprache, in der eine Glaubensgemeinschaft in Beziehung zum Göttlichen tritt, fremd ist, der hat keinen angemessenen Zugang zum Allerheiligsten dieser Religion. Das Recht einer Gemeinschaft, sich selbst zu definieren, ist ihren Mitgliedern vorbehalten. Dennoch verfechten wir die Ansicht, daß die Grenzen des religiösen Pluralismus für Juden und Christen dann erreicht sind, wenn religiöse Glaubensinhalte in ihrer Konsequenz

  • das Wohlergehen von Menschen und deren Gesellschaften bedrohen;
  • Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Verfolgung und Töten mit sich bringen;
  • die Würde und Integrität jedes menschlichen, nach dem Ebenbild Gottes geschaffenen Wesens nicht respektieren;
  • die Würde und Integrität der Schöpfung mißachten.

Als ihren Beitrag zum Aufbau einer besseren Welt sollten Juden und Christen die praktischen Konsequenzen aus jenen Lehren der Tora ziehen, welche ihre gemeinsamen Basen sind. Gleichzeitig sollten sie offen sein für Einsichten und Erfahrungen, die andere religiöse Traditionen und Gemeinschaften aus ihrer Begegnung mit dem Göttlichen anzubieten haben.

Juden, Christen und Pluralismus

Von ihrer gemeinsamen Basis her tragen Juden und Christen zur Diskussion über die zukünftige moralische und geistige Gestalt unserer Welt bei. Wesentlich in diesem Zusammenhang ist theologische Demut. Mitglieder aller religiösen Gemeinschaften sollten deshalb erkennen und dessen eingedenk sein, daß Gott auf noch andere Art mit Menschen und Gemeinschaften in Beziehung treten kann, als durch die Gottesoffenbarung gegenüber der eigenen Gemeinschaft. Sie sollten sich bewußt werden, daß neben den eigenen Erfahrungen in Begegnungen mit dem Göttlichen auch andere gültige Formen solcher Begegnungen bestehen. Wenn Begegnung mit dem Göttlichen in einer anderen religiösen Gemeinschaft als der eigenen stattfindet, dann schreiten auch dort Menschen auf heiligem Boden.

Martin-Buber-Haus, Heppenheim, Deutschland, 1. März 1993


Aus dem Englischen: U. und G. Braunschweig und G. Grundmann


Jahrgang 1 / 1993/94 Seiten 196-205



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