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Günter Raacke

Der Jerusalemer Grundlagenvertrag

Man kann das, was am 16. Tevet des Jahres 5754/30. Dezember 1993 in Jerusalem geschehen ist, als längst fälligen Beschluß zum Austausch von diplomatischen Vertretungen zwischen Israel und dem Vatikan ansehen, also als eine Tagesaktualität abhaken, die sich reichlich verspätet, 45 Jahre nach der Gründung des Jüdischen Staates, ereignet hat (so Ursula Homann, Tribüne, 33. Jg., 81). Wer allerdings die Dokumente, die an jenem Tage unterzeichnet worden sind, mit ein wenig juristischem Sachverstand liest, möchte sich ein anderes Urteil zu eigen machen. Clemens Thoma, im März dieses Jahres in der Woche der Brüderlichkeit ausgezeichneter Brückenbauer (pontifex!) zwischen Christentum und Judentum, meint, das Dokument sei keineswegs zu unterschätzen. „Sowohl der Staat Israel als auch der Vatikan zeichnen sich als Meister der Diplomatie sowie des internationalen und des religiösen Rechtes aus“ (FrRu NF 219—93/94, 93).

Wir haben es in der Tat mit einem einzigartigen Dokument zu tun. Dieses Wort erscheint zweimal in der Präambel.

„Der Heilige Stuhl und der Staat Israel eingedenk des einzigartigen Charakters und der universalen Bedeutung des Heiligen Landes,
im Bewußtsein der einzigartigen Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und dem jüdischen Volk . . . kommen wie folgt überein . . .“

Daß das Territorium, auf welches sich der Vertrag bezieht, einzigartig ist unter allen Gebieten der Erdoberfläche, braucht hier wohl nicht näher ausgeführt zu werden.

Einzigartig ist aber nicht nur die Natur der Beziehungen zwischen den beiden Vertragsteilen; einzigartig sind auch diese Vertragsteile selbst. Der Staat Israel ist — zunächst — ein Staat wie jeder andere, unabhängig mit Gebietshoheit (wobei das Gebiet teilweise umstritten ist), mit Staatsbevölkerung, diplomatisch anerkannt, also ein „Völkerrechtssubjekt“ wie andere auch, der im „Zusatzprotokoll“ sich auf das internationale Recht und den allgemeinen Gebrauch für diplomatische Missionen berufen kann. Das tut sein Vertragspartner auch: man garantiert sich gegenseitig für die „Sondervertreter“ alle Rechte, Privilegien und Immunitäten, die die Leiter und das Personal diplomatischer Missionen genießen. Aber wie bezeichnet sich der Vertragspartner des Staates Israel im Eingang und vor den Unterschriften?

Heiliger Stuhl! — Heiliger Stuhl?
Stuhl: das erweckt Assoziationen etwa an den „Richterstuhl“ des Pilatus, an den „Stuhl des Mose“, wie er in Synagogen zu finden ist, an den „Karlsstuhl“ in Aachen; wer sich darauf niederließ, war eben der „Kaiser“, beanspruchte im Mittelalter die höchste weltliche Gewalt für sich. Die Bezeichnung des Vertragspartners als „Heiliger Stuhl“ bedeutet also: der amtierende Papst, Johannes Paul II., handelnd durch seine zuständige Behörde, ist für sich und alle seine Nachfolger auf seinem Stuhl die Vertragspflichten eingegangen. Verpflichtet wird damit aber nicht nur der kleine Vatikanstaat mit seinem halben Quadratkilometer Staatsgebiet und seinen 700 Einwohnern. Dieses Staatsgebiet braucht der Papst, um souverän sein zu können; Herrscher eines Teils der Erdoberfläche, in dem er von keiner anderen Staatsgewalt abhängig ist. Nach dem Ende des Kirchenstaates im Jahre 1870 bei der italienischen Einigung hat er ein solches seine Souveränität gewährendes Staatsgebiet erst wieder durch den „Lateranvertrag“ von 1929 mit dem italienischen Staat erhalten. Auf diesen Vertrag wird im „Zusatzprotokoll“ — zur näheren Bestimmung der Rechtsstellung der auszutauschenden Diplomaten — Bezug genommen. Mit dem Lateranvertrag war der Papst also wieder Staatsoberhaupt eines souveränen Staates.

Nach katholischem Rechtsverständnis (cann. 331-335 Codex Juris Canonici — hier zitiert nach Norbert Ruf: Das Recht der Katholischen Kirche nach dem neuen Codex Juris Canonici, Freiburg 1983) wird die innerkirchliche Stellung des Papstes wie folgt gesehen:

„Der Bischof der Kirche von Rom, in dem das vom Herrn dem Petrus, als dem Ersten der Apostel, einzigartig (sic!) übertragene Amt fortdauert, ist das Haupt des Bischofskollegiums (Collegii Episcorum caput), der Stellvertreter Christi (Vicarius Christi) und der Hirte der gesamten sichtbaren Kirche (universae Ecclesiae his in terris pastor). Daher besitzt er kraft Amtes die oberste, volle, unmittelbare und allgemeine ordentliche Gewalt in der Kirche, die er stets frei ausüben kann.“

Das bedeutet also: soweit die Primatialgewalt des Papstes, seine Jurisdiktion, reicht, werden alle Gliederungen, Patriarchate, Erzdiözesen, Diözesen, Pfarreien, Prälaturen, Klöster, ja, alle katholischen Gläubigen, mithin nahezu eine Milliarde Bewohner der Erde, aus diesem Grundlagenvertrag verpflichtet und berechtigt.

Aber auch der andere Vertragspartner handelt nicht nur für seine Bevölkerung und sein Staatsgebiet, sondern, wie sich aus der Präambel ergibt, für das (ganze) jüdische Volk. Der Vertrag soll die Freundschaft zwischen Juden und Katholiken fördern, soll im historischen Prozeß der Versöhnung ein wichtiger Schritt sein. Nahezu 2000 Jahre der Feindschaft hinter sich lassend, aufbauend auf Schuldbekenntnissen, Versöhnungsgesten (Besuch von Johannes Paul II. in der Synagoge von Rom, Besuch des Oberrabbiners bei ihm im Vatikan), grundsätzlichen Neuorientierungen (in Art. 1 Abs. 2 nimmt der Heilige Stuhl Bezug auf die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils zur religiösen Freiheit „Dignitatis Humanae“ und die Erklärung zu den nichtchristlichen Religionen „Nostra Aetate“), also in totaler Umkehrung der bisherigen Beziehungen — wird eine neue, eine „gesunde und dauerhafte Grundlage“ gelegt; aber keineswegs eine abgeschlossene, denn auf dieser Grundlage sollen sich gegenwärtige und künftige Beziehungen entwickeln.

Wie soll man sich nun an dieser historischen Wendemarke die weitere Entwicklung vorstellen?

Beide Parteien nehmen Bezug auf ihre Verpflichtung zur Wahrung und Einhaltung des Menschenrechts auf Religions- und Gewissensfreiheit, wie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in anderen internationalen Übereinkünften, die sie unterzeichnet haben (Staat Israel in Art. 1, Abs. 1; Heiliger Stuhl, ausdrücklich die katholische Kirche verpflichtend, nahezu gleichlautend in Art. 1 Abs. 2).

Bemerkenswert daran ist, daß zwei Völkerrechtssubjekte, die zugleich für zwei Religionsgemeinschaften mit langer Rechtstradition handeln, sich ihnen vorgegebenem profanen Recht unterordnen. Zu einem solchen Schritt war der Heilige Stuhl erst in der Lage, nachdem Papst Paul VI. im Jahre 1964 in einer feierlichen Zeremonie die Tiara, die dreifache Papstkrone, welche den Herrschaftsanspruch auf die Herrschaft auf, über und unter der Erde symbolisierte, niedergelegt hat.

In der Anerkennung der Verbindlichkeit vorgegebenen profanen Rechts, dem sich beide unterordnen, kommt gleichzeitig auch eine beiderseitige Bindung zur Einhaltung der Vertragstreue zum Ausdruck. Eine Parallele: Bei den ältesten völkerrechtlichen Verträgen, die die moderne Forschung entschlüsselt hat, Abkommen zwischen den Hethitern und den Ägyptern, wird die Einhaltung des Vertrags jeweils bei den Göttern der Gegenseite beschworen. Es ist in der Tat ja auch ein rechtstechnisches Problem, wie zwei souveräne Vertragspartner, die keine andere menschiche Gewalt oder Institution über sich anerkennen, Vorkehrungen für Vertragstreue treffen sollen. In alten Zeiten geschah das durch Anrufung der Götter der Gegenseite, dann durch Geiselgestellung, später durch eheliche Verbindungen der Fürstenfamilien — heute geschieht es durch Bezugnahme auf einen Normenkomplex, dem weltweite Geltung eingeräumt wird.

Künftige gemeinsame Aktivitäten werden wie folgt umschrieben:
„Der Heilige Stuhl und der Staat Israel verpflichten sich zu geeigneter Zusammenarbeit im Kampf gegen alle Formen des Antisemitismus und jede Art von Rassismus und religiöser Intoleranz und zur Förderung des gegenseitigen Verständnisses unter den Nationen, Toleranz in den Gemeinwesen und Respekt vor Leben und Würde des Menschen“ (Art. 2 Abs. 1).

Wenn im unmittelbaren Anschluß (Art. 2, Abs. 2) der Heilige Stuhl „bei dieser Gelegenheit seine Verurteilung von Haß, Verfolgung und jeder anderen Erscheinungsform des Antisemitismus, gerichtet gegen das jüdische Volk oder einzelne Juden überall, zu jeder Zeit und durch jede Person“ bekräftigt, insbesondere „Angriffe gegen Juden, Schändungen von Synagogen und Friedhöfen, Verunglimpfungen von Opfern des Holocaust“ verurteilt, so ist das von besonderer Bedeutung für die innerkirchliche Bindungswirkung. Auch der letzte Pfarrer von Hintertupfing muß einsehen, daß er bei Weitergabe tradierter Muster im Verhalten zum Judentum in Konflikt gerät mit dem obersten Hirten seiner Kirche. So schwer es fällt und so sehr das Gesetz der geistigen Trägheit dem entgegensteht: alte Predigtmuster, alte Katechismen müssen verbrannt werden!

Nun ist, was die Lage der Menschenrechte angeht, die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit groß. Die Normentexte sind ja ganz gut — was erheblich verbesserungsbedürftig ist, sind die Institutionen und Verfahren zu ihrer Verwirklichung. Wenn die Diplomatie des Heiligen Stuhls und die Diplomatie des Staates Israel — beide stehen im Rufe, im besten Sinne eine Elite, eine Auswahl der Tüchtigen, Klugen und Bedächtigen zu sein — auch auf diesem Gebiet zukünftig zusammenarbeiten wollen, dann läßt das hoffen!


Jahrgang 1 — 1993/94 Seiten 2845-288



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