Ein Beitrag zur Lehrplantheorie am Beispiel Verhältnis Christenturn Judentum. Reihe „Lernprozeß Christen Juden“ Band 6. Herder, Freiburg 1991. 398 Seiten.
Helga Kohler-Spiegel möchte mit ihrem Buch (Dissertation Feldkirch 1990) darauf hinwirken, daß der christliche Religionsunterricht (RU) das Judentum als Basis des eigenen Glaubens ernst nimmt und es als solche den Schülern vermittelt. Vorurteile gegenüber den Juden sollen abgebaut werden, und die Verwendung des Judentums als Negativfolie, um das Neue des Evangeliums herauszustellen, soll aufhören.
Um ihre Vorschläge zur Neugestaltung der Lehrpläne abzusichern, legt die Autorin zunächst einmal ein äußerst breites und solides Fundament: Sie erläutert die verschiedenen „Begründungszusammenhänge“, die den Religionsunterricht allgemein legitimieren und seine konkrete Gestalt bestimmen. So wird festgestellt, daß die Bestimmung des Begriffs Religion durch Thomas von Aquin („religio ordinat hominem solum ad deum“) ausgezeichnet zum Korrelationsprinzip der Religionsdidaktik passe. Daneben wird gezeigt, wie der RU hineingestellt ist in den gesellschaftlichen Bildungsprozeß („Gestaltung des Tradierten auf Gegenwart und Zukunft hin“, 22) und in die Institution Schule. Die Doppelheit des Bezugs dieses Faches auf Staat und Kirche wird als Problem angesprochen; die neueren kirchlichen Dokumente zum RU werden referiert.
In allen Unterrichtsfächern sollten die Lehrpläne den Stand der Didaktik reflektiert haben. So wird in einem zweiten Kapitel die Entwicklung der Didaktik im 20. Jahrhundert dargestellt — von Weniger über Klafki und die Curriculumkonzeption Robinsohns samt deren kritischer Weiterentwicklung bis zur kybernetisch-informationstheoretischen und lerntheoretischen Didaktik.
Ein Kapitel „zum Diskussionsstand in der Religionspädagogik“ schließt sich an.
Der Didaktik folgt die Darstellung von Lern und Entwicklungspsychologie. Auch hier wird kenntnisreich über die wichtigsten Autoren informiert.
Um die Gefahr des Selbstzwecks in der Theoriedarstellung zu vermeiden und die Fundamentfunktion der Ausführungen gegenwärtig zu halten, wird jedes Kapitel mit einer „kritischen Würdigung im Hinblick auf die Erstellung eines Gesamtkonzepts“ abgeschlossen.
Nach diesem ausführlichen, wohlfundierten Überblick über den Forschungsstand in den für den Unterrichtsablauf insgesamt zuständigen Wissenschaften — immerhin fast die Hälfte der Arbeit — kommen die inhaltlichen, eher fachwissenschaftlich orientierten Vorüberlegungen zu ihrem Recht. Im fünften Kapitel wird die theologische Diskussion zum Verhältnis Christentum — Judentum vergegenwärtigt und die Arbeit in den Kontext des Freiburger Projekts zum Verhältnis Christen Juden eingestellt. Aus der Konzeption des Paulus (Israel als der Ölbaum, das Christentum als das aufgepfropfte, wilde Reis) wird ein kritischer Maßstab gewonnen, an dem die verschiedenen, in Bibel und Theologie formulierten Deutungsmodelle für das Verhältnis der beiden Religionen gemessen werden können. Nicht zu halten ist danach die Rede von Verwerfung (Israels) und Erwählung (des neuen Israel, der Kirche). Einschränkungslos positiv werden das Transzendierungsmodell (Selbstüberstieg des Judentums auf die universale Verheißung hin) und das personalistische Modell (die Juden und die Christen als „Geschwister im Glauben“ mit gemeinsamer Zukunftshoffnung) vorgestellt. Sehr zu Recht plädiert die Autorin dafür, Gemeinsamkeiten (die ja größer sind als gemeinhin geglaubt) und Trennendes deutlich zu artikulieren.
Eine nichttheologische inhaltliche Vorüberlegung wird noch eingeschoben: über „Vorurteile im Bereich Christentum Judentum“ (Kap. 6). Was hier — aus der Sicht von 1990 — aus Untersuchungen der frühen achtziger Jahre über die Fortdauer eines latenten Antisemitismus bei einem Großteil der deutschen Bevölkerung referiert wird, gewinnt aus unserer heutigen Perspektive fast schon so etwas wie eine prophetische Qualität. Vorschläge, die Vorurteile zu „verlernen“ — nicht kognitiv, sondern über Identifikation — runden das Kapitel ab.
Die letzte Vorarbeit vor dem Darlegen der eigenen Vorschlägen stellt eine Analyse der Lehrpläne des (katholischen) Religionsunterrichts im deutschen Sprachraum dar, und zwar für Grundschule und Gymnasium. Hier erhält der Leser einen sehr informativen Überblick über die Vielfalt dessen, was in Deutschland, der Schweiz und Österreich zum Thema zu behandeln ist. Auch wenn einzelne Lehrpläne positiv (z. B. Hessen) bzw. negativ (z. B. Österreich) hervorgehoben werden, zieht die Autorin fast durchgängig ein Fazit: Die Behandlung des Judentums als eigenständige Religion geschieht, zumindest in den Lehrplänen, im allgemeinen objektiv. Schwierig wird es, wenn es um Jesus geht: Hier wird zumindest nicht überall sein Judesein wirklich ernst genommen, das Judentum gerät vielmehr nicht selten immer noch zur negativen Folie für das Neue, das Jesus gebracht habe.
Im letzten Kapitel werden einige Impulse für einen „vertikalkonsekutiven Aufbau“ des Themas Juden und Christen durch alle Klassenstufen hindurch formuliert: Der Weg der heilsgeschichtlichen Entwicklung des Glaubens von Abraham über Exodus und Propheten zu Jesus wird als durchlaufendes Konzept für die Lehrplanentwicklung vorgeschlagen.
Den Abschluß des Buches bildet eine Zusammenstellung von Konsequenzen und Forderungen für die Zukunft.
Inhaltlich wird man an der Arbeit kaum etwas aussetzen können. Sie bewegt sich immer auf der Höhe der fachwissenschaftlichen Diskussion und kommt zu sehr sinnvollen Schlußfolgerungen.
Eine Anfrage sei zum fünften Kapitel gestattet: Im sicher berechtigten Wunsch, jede Abwertung des Judentums zu vermeiden, lehnt Kohler-Spiegel es ab, für das Christentum einen Anspruch „des größeren Maßes an Wahrheit und Heil“ zu erheben (212).
In der philosophischen Hermeneutik ist die Ablehnung eines relativierenden Standpunktes wie etwa des Historismus, der meint, verschiedene Wahrheiten als gleichberechtigt gelten lassen zu können, spätestens seit dem Streit zwischen Gadamer und Apel/Habermas (vgl. „Hermeneutik und Ideologiekritik“ 1971) wohl unstrittig: Das relativ größere Recht des Standpunktes, auf dem jeder einzelne durch die ihn bestimmenden Traditionszusammenhänge sich immer schon vorfindet, ist für ihn nicht zu leugnen. Auf unser Problem angewandt: Die Religion, in der ein Mensch groß geworden ist, ist für ihn ganz selbstverständlich die einzig richtige. Er kann diese Überzeugung ändern, sich gegen seine Tradition entscheiden und zu einer anderen Religion bekehren: Dann wird diese sein primärer Bezugsrahmen. Einer, dem mehrere Religionen gleich wahr sind, ist kein religiöser Mensch mehr, sondern höchstens ein Religionswissenschaftler.
Ähnlich „unsymmetrisch“ argumentiert übrigens auch „Nostra aetate 2“, ein Konzilsdokument, auf das Kohle-rSpiegel sich wiederholt beruft: Zwar wird „der Strahl jener Wahrheit, . . . die alle Menschen erleuchtet“, anerkannt, der „nicht selten“ in fremden Religionen zu sehen sei, zugleich aber wird Christus als „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ festgehalten, „in dem die Menschen die Fülle des religiösen Lebens finden, in dem Gott alles mit sich versöhnt hat“. Die Betrachtung des Paulus in Röm 9-11 schließlich — auf diese Kapitel beruft sich Kohler-Spiegel als „umgreifenden Zentralbegriff“ für unser Problem — endet mit dem heilsgeschichtlichen Ausblick auf die endzeitliche Bekehrung ganz Israels; Paulus hat ja auch in einer Unbefangenheit Judenmission getrieben, wie sie uns heute bestimmt nicht mehr möglich wäre. Meine Anfrage einschränkend, möchte ich noch anfügen, daß Kohler-Spiegel die hier vorgetragene Position im wesentlichen kennt; sie wertet nur anders (vgl. z. B. 219, Anm. 65).
Problematischer scheinen mir Aufbau und Proportionen der Arbeit. Ein breites und solides Fundament ist selbstverständlich ganz entscheidend — dennoch wirkt es kurios, wenn auf einem quadratkilometergroßen Steinsockel ein Holzhäuschen von 1 m Seitenlänge errichtet wird: 10 Seiten Ergebnissen stehen 320 Seiten Vorarbeiten gegenüber. Hier scheint der an sich durchaus berechtigte Anspruch an Doktorarbeiten, einen fundierten Überblick über den Stand der Fachwissenschaft nachzuweisen, mit dem zu kollidieren, was sachlich vom Ziel der Arbeit her gefordert ist.
Was man durch eine Beschränkung an Mühe und Arbeitszeit spart, hätte dem Ergebniskapitel zugute kommen können. Die hier angestellten Überlegungen sind zweifellos richtig, aber doch recht mager und auch nicht unbedingt ganz neu.
Wissenschaftlichkeit wird hier an einem (sowieso illusionären) Vollständigkeits- und Gründlichkeitsideal gemessen, das andere Kriterien (z. B.: Wer kann mit dem Produkt so vieler Mühen einmal etwas anfangen?) allzusehr zurücktreten läßt.
Zum Schluß möchte ich meine kritischen Anfragen energisch einschränken: Die Kapitel 5-8 sind für alle, die mit Religionspädagogik zu tun haben, unbedingt lesenswert; insbesondere der Überblick über die Lehrpläne ist höchst aufschlußreich und instruktiv. Der neue Lehrplan, der soeben in Baden-Württemberg in Kraft getreten ist, berücksichtigt manche Forderungen der Autorin (so wird in der Christologie-Einheit des Grund- und Leistungskurses 12/13 das Judesein Jesu eigens herausgestellt), von einer „konsequenten Sequentialisierung“ im Sinne des 8. Kapitels von Kohler-Spiegel ist er aber noch weit entfernt. Hoffen wir, daß bei künftigen Lehrplan-Revisionen das Buch seine Wirkung entfaltet!
Horst Gorbauch
Jahrgang 1 — 1993/94 Seiten 294-297