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Yerushalmi, Yosef Hayim

Ein Feld in Anatot

Versuche über jüdische Geschichte. Klaus Wagenbach, Berlin 1993. 96 Seiten.

Der Professor für jüdische Geschichte und Kulturwissenschaften an der Columbia University macht uns mit den fünf Vorlesungen, die in dem materiell kleinen Buch enthalten sind, ein riesiges Geschenk. Ja, es sind Vorlesungen, ohne nachträgliche Überarbeitung für den Druck. So erleben wir den Duktus des lebendigen brillanten Sprechens, wobei gleich noch anzumerken ist, daß die deutsche Übersetzung adäquat zu sein scheint, so flüssig liest sich das Buch.

Diese Vorlesungen sind so frisch, so persönlich, so faszinierend, daß es immer wieder passiert, daß man aus lauter Freude und — fast möchte ich sagen — Hingerissenheit über die Art der Darstellung vergißt, auf den Inhalt zu achten. Und man denkt sich, was müssen das für glückliche Studenten sein, die einem solchen Lehrer zuhören dürfen.

Nun, wenn man sich von der souveränen Art der Darstellung doch dem Inhalt zuwendet, dann tritt eine neue Faszination dazu. Es ist unglaublich, welches Wissen dahinter steht und wie genau der Autor sein Wissen weitergibt und wie luzid und eigenständig er denkt und erhellende Schlüsse zieht.

In diesen fünf Vorlesungen, die teils auf Englisch und teils auf Französisch gehalten wurden, geht es um die Erinnerung des jüdischen Volkes an seine Wanderungen und Leiden.

Yerushalmi befaßt sich hauptsächlich mit dem sephardischen Judentum in Spanien und Portugal und knüpft Verbindungen zum Holocaust in unserem Jahrhundert. Alte Ansichten und „Wahrheiten“ über das Exil in Iberien und die Vertreibung werden revidiert und in neuem Licht gezeigt.

Yerushalmi schreibt über das Vergessen, das im jüdischen Verständnis fast eine Todsünde ist, das Erinnern hingegen eine Pflicht. Dieses Erinnern wird täglich durch das Studium der Tora und die Gebete wach und lebendig gehalten.

Seine Vorlesung über „Exil und Vertreibung“ bietet eine ganz neue Sicht. Das Exil, also die Vertreibung aus dem Ursprungsland, wandelt sich zu einer neuen Heimat, wenn sich die Vertriebenen im Exil sicher fühlen und sich dauerhaft eingerichtet haben und ihr „Jerusalem“ jeweils in der neuen Umgebung gefunden haben. Das betrifft besonders die sephardischen Juden in Iberien (Spanien im heutigen Sinn gab es im 14. und 15. Jahrhundert noch nicht). Sie waren dort geachtet, „integriert und daheim“. Ihre Vertreibung 1492 war deshalb ja auch viel schmerzlicher und einschneidender als die Wanderungen vorher und nachher, bis zum jetzigen Jahrhundert, zum Holocaust.

Die Gegenüberstellung der Assimilation und des Antisemitismus in Iberien im 15. Jahrhundert und im 20. Jahrhundert in Deutschland ist neu und notwendig, denn es gibt sehr viel Gleichartiges, wenn nicht zu Anfang der Niederlassung der Juden, so doch unter der Herrschaft von Isabella und Ferdinand.

Nach Ansicht der „rechtgläubigen“ Kirche löschte die Taufe jeglichen Makel, der den Juden von Geburt an anhaftete, und die „conversos“ waren den Christen gleichgestellt. Dann kam der Neid auf gegen diese erfolgreichen „conversos“, die sich zum Teil mit wirklicher Überzeugung der Taufe unterzogen hatten, und auch gegenüber den Kryptojuden oder Marranen. Nun mußte man sich etwas anderes einfallen lassen, damit deren Einfluß aufgehoben werden konnte, und das war die Idee der „limpieza do sangre“, der Blutreinheit, und zwar zurück bis ins letzte Glied. Somit war den „conversos“, den Marranen und den bekennenden Juden der Zugang zu allen höheren Ämtern und Stellen und den artes liberales verboten. Dieser Neid konnte ja nicht offen zugegeben werden, also kaschierte man ihn unter dem Gesetz der Blutreinheit — damals wie heute und besonders in Deutschland unter den Nationalsozialisten.

Die letzte Vorlesung über „Ein Feld in Anatot“ ist eine Geschichte aus dem 32. Kapitel im Buch Jeremia. Der Befehl Gottes, auch in der verzweifelten Lage vor der Eroberung Jerusalems und der vierzigjährigen Gefangenschaft noch nach Recht und Gesetz ein Feld in Anatot zu kaufen und zu verbriefen, gibt der Hoffnung der Juden auf eine Rückkehr in die wahre Heimat und ewiges Bestehen das Fundament, solange sie sich an ihr Feld in Anatot erinnern. Was immer auch geschehen mag, der Bund mit Gott hält, wenn sie nicht vergessen und Ihm gehorchen.

Eva Auf der Maur


Jahrgang 1 — 1993/94 Seiten 303-304



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