Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Diogenes, Zürich 1994.501 Seiten.
Lebens und Trostbrot, oder Schreiben als Broterwerb
„Ich gehöre zu den Menschen, die glauben, der Schrei einer Möwe am Kap der Guten Hoffnung könne am Ende der Kausalkette ein Schiff auf dem Ärmelkanal zum Kentern bringen.“ Ebenso verwickelt wie hier der Ich-Erzähler Esau das Verhältnis von Ursache und Wirkung sieht, präsentiert der israelische Schriftsteller Meir Shalev die Rezeption eines biblischen Themas in seinem 1991 erschienenen Roman ,Esau‘, der nun in der deutschen Übersetzung als ,Esaus Kuß‘ vorliegt.
Die Hauptgeschichte des vierepisodigen Romans berichtet der eingangs zitierte Ich-Erzähler einer entfernten, platonisch geliebten Literatin: Begebenheiten, Lücken, manchmal Zusammenhänge über das Leben der sephardischen Bäckersfamilie Levi, insbesondere die Lebensgeschichte von Esaus Zwillingsbruder Jakob. Den Plot resümiert der Erzähler selber: „Jakob und ich sind herangewachsen und unserer Wege gegangen. Er hat, kurz zusammengefaßt, die Frau geheiratet, die ich mir zugedacht hatte, hat die Bäckerei geerbt, die mein Vater mir zukommen lassen wollte, hat drei Kinder gezeugt und den Erstgeborenen verloren. Ich bin in die Vereinigten Staaten gefahren, habe keine Frau geheiratet, keine Kinder gezeugt und auch keine verloren. Das ist eigentlich schon die ganze Geschichte.“ Diese Geschichte spielt auf zwei Ebenen, vorerst in der Kindheits- und Jugendzeit des Brüderpaares im Palästina der zwanziger bis vierziger Jahre unseres Jahrhunderts, dann in den späten siebziger und anfangs achtziger Jahren. Kein lineares Erzählen bietet dabei Esaus Retrospektive, sondern ein munteres Hin- und Herhüpfen, denn wichtig ist ja auch gar nicht die Handlung — so wird der Erzähler nicht müde, uns zu versichern —, sondern die Sprachvirtuosität, die Metaphernbuntheit, der Episodenreichtum oder, wie Esau es in seiner kochbuchhaften Metasprache ironisiert: „Wir dürfen nicht vergessen, daß die Aubergine der Füllung Rahmen verleiht, die Füllung der Aubergine aber Bedeutung.“ Würze dieser pikanten ,Auberginenfüllung‘ ist nicht zuletzt auch das Gewebe der vier Episoden des Romans. So dient die scheinbar losgelöste Eingangsnovelle „Herzog Anton und die Dienstmagd Soga“ als Motivarsenal für die folgende Haupthandlung. Mit detektivischer Freude werden Leser und Leserin den Wagen des griechischen Patriarchen von Jerusalem durch den Roman verfolgen, den transportablen Galgen, die Mikrographie, die Schmerzunfähigkeit . . . Die oben skizzierte Haupthandlung beleuchtet die drei anschließenden Teile aus je verschiedener Erzählperspektive und mit erzähltechnisch brillant innovativen Verknüpfungen (dem zukünftigen Lesepublikum möchte ich das Geheimnis des dritten Teils nicht vorwegnehmen).
Um den von Bilderopulenz überbordenden Roman in einer Interpretation zu zähmen, scheinen mir insbesondere zwei Aspekte geeignet, die ich hier kurz beleuchten will: die Metasprache einerseits, andererseits die Art, wie Meir Shalev die biblisch-rabbinische Vorlage des Jakob-Esau-Motivs rezipiert.
Leitmotivisch, breit angelegt und doch spielerisch leicht ziehen sich die metasprachlichen Betrachtungen durch den Roman. Der Akteur Esau, der sein Leben als Kochbuch-Autor verdient, verschlüsselt in seinen Backanweisungen Kochrezepte. Und die Kritiken, die Esau Levi über sein Brotbuch sammelt, könnte ich ungebrochen auf Meir Shalev übertragen, der „vor unseren Augen eine wunderbare mediterrane Mischung aus Mythologie, Gastronomie und Historie knetet“. Wie kaum ein anderer Autor macht sich Shalev dabei einen Riesenspaß daraus, den von ihm fingierten, literarisch versierten Leser zu narren. Jede literaturwissenschaftliche Prämisse wird fröhlich überrannt und das ehrfürchtige philologische Credo „Literatur ist wahrer als die Wirklichkeit“ kurzweg in unzähligen Varianten zerzaust. Der Erzähler, der frei von der dritten zur ersten Person wechselt, wird nicht müde, uns Lesende vor ihm zu warnen: ein notorischer Flunkerer sei er, dem es leichter falle, eine Tatsache zu erfinden, als eine zu entdecken. Der Argwohn, den der Leser dem Erzähler entgegenbringen soll, ist herrlich eingefangen im Bild von Esaus angeborener Kurzsichtigkeit. Als Esau, bereits im Schulalter, erstmals eine Brille aufsetzt, ist er erschüttert über die Wirkung: Die Reduktion auf das Konkrete scheint dem von Erfindungsgabe Überschäumenden als Ernüchterung und Verarmung. Schnell nimmt er die Brille ab und überläßt sie seinem ebenso kurzsichtigen Zwillingsbruder. In der Folge fabuliert ein primär unbebrillter, doch dafür um so phantasievollerer Esau-Erzähler, der sich bei gleichem Erlebnis ausgiebig und anders erinnert als der bebrillte Jakob. Man möge dies höflicherweise ,schöpferisches Erinnern‘ nennen — so Esau. Schließlich zitiert und stiehlt der Erzähler ungeniert und unbändig, pêlemêle, echte und gefälschte Zitate, von historischen und erfundenen Autoren, die literarische Autoritätsgläubigkeit erfrischend karikierend.
Den sympathisch verlogenen Charakter von Literatur führt uns der Roman aber nicht nur an der Erzähler- und Protagonisten-Figur vor Augen, sondern auch an der Erzählperspektive. Unter anderem arrangiert die Regieführung die Beschneidungsszene von Esaus Neffen Michael in der galiläischen Heimat, indem sie Esau an eine Meerespromenade in Cape May, New Jersey, setzt: „. . . und ich in meinem fernen Krähennest sah mit Tausende Kilometer überspannendem Blick Simeon den Hof in Erwartung der geladenen Gäste rechen und Jakob Tische aufstellen.“ Die Ironie über die Erzählperspektive gipfelt in den ,letzten Worten‘ großer Persönlichkeiten. Zusammen mit dem Dorfbibliothekar Jechiel sammelt, verkauft und erfindet Esau ,richtige letzte Worte‘. Das erzähltechnisch Absurde des reichlich bizarren Unternehmens führt eindrücklich die Schlußszene des ersten Teils vor Augen. Völlig abgeschieden von der Welt gehen Herzog Anton und seine Geliebte in den Freitod. Trotzdem halten nicht weniger als drei Chronisten ihre letzten Worte fest — in drei verschiedenen Fassungen! Immer wieder das Spiel um wahre Lügen und nie dagewesene Wahrheit.
Doch nicht all diese ironischen Äußerungen über das Schreiben sind bloß Spott an die Adresse literarischer Schöngeister. Aus ihnen kristallisiert sich Meir Shalevs eigene Literaturphilosophie heraus. Autor und Erzähler teilen hier zweifellos ihre Auffassung über Literatur. Der Wert der Literatur liegt nicht in der Abbildung der Welt, sondern vielmehr darin, daß die literarischen Muster die Welt erst erfaßbar machen. So wie der ganz in seiner Bücherwelt verankerte Esau die Gestalt seiner Mutter und die Züge der Geliebten durch Beschreibungen Jules Vernes sieht, so bettet Meir Shalev sein Brüderpaar in die biblische Matrix von Jakob und Esau — ein Verfahren, das der modernen Story eine zusätzliche, vielleicht die eigentliche Botschaft erschließt.
Der zweite hier beleuchtete Aspekt, die Rezeption der biblisch-rabbinischen Vorlage vom Jakob-Esau-Motiv, ist aufs engste mit dem metasprachlichen Aspekt verbunden, faßt doch Meir Shalev gerade auch metasprachliche Betrachtungen in biblische oder traditionell jüdische Muster. So tritt zum Beispiel der Topos von den ,letzten Worten‘ auf als moderne Fassung des biblischen Schlußsegens in den Vätergeschichten. Oder Esau als Plagiator findet sein rabbinisches Pattern in R. Nathanels Zitat von Midrasch Jelammdenu.
Die Einbindung der Geschichte aus dem 20. Jahrhundert in das theologische Modell realisiert der Verfasser mit den verschiedensten Mitteln. Da sind zuerst ganz direkt der Titel ,Esau‘ und die Namenszuteilung auf die Protagonisten, dann auch unmittelbar eingefügte wörtliche Zitate aus Kernstellen des Jakob-Esau-Zyklus wie etwa das Stoßen — oder rabbinisch: ,Laufen‘ — der Zwillinge im Mutterbauch (Gen 25,22). Symbolische Begriffe, so unter anderem den des Brotes, kostet Meir Shalev aus vom ,Brot des Müßiggangs‘ der Proverbien bis hin zum Trostbrot Ezechiels, dem Trostbrot des jüdischen Trauerritus. Mytheme, wie zum Beispiel Rahels Theraphim oder der Kampf am Jabboq, tauchen unvermittelt als metaphorische Attribute auf. Weiter übernimmt der Schriftsteller traditionelle Rollenverteilungen, so Esaus einfühlsame Pflege für den alten Vater, entsprechend dem rabbinischen Topos von Esaus aufopfernder Liebe zu Isaak nach Bereschit Rabba 65,16.
Die erwähnten Rezeptionselemente könnten nun den falschen Eindruck erwecken, der moderne Roman biete eine leicht durchschaubare Mimesis von Bibel und Midrasch, doch die Abbildung ist oft bis zur Unkenntlichkeit verformt. So verschiebt der Autor bekannte Mytheme auf ,falsche‘ Akteure: Linsengerichte sind nicht Esaus, sondern seines Vaters Leibspeise, und Esaus Schwester und Nichte sind es, die am ganzen Körper behaart zur Welt kommen. Vor allem aber fordern gewagte Transzendierungen der traditionellen Motive in moderne Pendants die Leserschaft zur Dekodierung heraus. Dem Erschleichen von Erstgeburt und Segen entspricht wohl in der neuen Handlung, daß Jakob seinem Zwillingsbruder die Frau und die Bäckerei ablistet. Und eine letzte Illustration: Auf die Bedeutung von Jakobs folgenschwerem Unfall, dem abgeschnittenen Finger, weist der Autor nur mit ,Maachelet‘, dem Schlachtmesser von Isaaks Opferung aus Genesis 22. Die ,Maachelet‘ als das Stichwort der Akeda zeichnet den Unfall als Opfer, und erst dadurch wird der Bannkreis um den Fingerstummel plausibel.
Das bisher Angeführte zeigt lediglich Facetten der Rezeption. Kernpunkt der Jakob-Esau-Beziehung in der jüdischen Tradition ist aber die klare Symbolik vom guten Jakob-Israel gegenüber dem bösen Esau-Edom-Rom. Diese Schwarzweißmalerei löst Meir Shalev allerdings völlig auf in alle Nuancen der Farbskala. Keine Spur mehr vom negativ überzeichneten Esau aus Baba Batra 16b, der am Todestag seines Vaters gleich fünf schreckliche Sünden begeht. Und auch Chajjim Nachman Bialiks volksliedhafter Refrain „oj oj oj, oj le-Esaw Goj“ hallt kaum noch nach.
Wie viele zeitgenössische israelische Schriftsteller rezipiert auch Shalev das biblisch-rabbinische Schrifttum, indem er die Tradition säkularisiert und umstößt. Will man in unserem Roman den beiden Protagonisten überhaupt noch einen Symbolwert zuschreiben, so mag man in Esau den ,Jored‘ sehen, der Israel verläßt und den Annehmlichkeiten Amerikas frönt. Demgegenüber wäre Jakob der Israeli, der die ganze Härte des israelischen Lebens erfährt. Jakob backt das Brot, Esau schreibt darüber. Von schrecklicher Konsequenz ist schließlich die Umkehrung des Segens, der die biblischen Vätergeschichten überstrahlt. In Meir Shalevs ,Esau‘ weicht der Segen mehr und mehr dem Fluch, und die Einkleidung der Todesszene Michaels in die Draperie von Genesis 18 ist von kaum zu überbietendem Sarkasmus: Dem biblischen Paradetext von Verheißung entströmen nur Todesengel.
Als Schlußnotiz zum Aspekt der Rezeption hier noch eine Bemerkung zum Titel, den Arlette Pierrot gewählt hat für ihre französische Übersetzung von 1993 ,Le baiser d‘Esau‘, und den auch Ruth Achlama in der deutschen Version mit ,Esaus Kuß‘ übernimmt. Die Versöhnungsszene des verfeindeten Zwillingspaares in Genesis 33,4, genauer das ,und er küßte ihn‘, ist eine der zehn mit Punkten versehenen Stellen in der Tora, die Bedeutung damit bewußt dunkel gehalten. Die spätantiken jüdischen Weisen interpretieren die außergewöhnliche Schreibweise dahingehend, daß die Versöhnung keine war. Wie dem auch sei, auf jeden Fall spiegeln die Punkte von Esaus Kuß die ganze Spannung im Verhältnis der Brüder. Auf diesem Hintergrund ist der Titel der Übersetzungen ein wirklicher Kunstgriff.
Die Gesamtbeurteilung des Romans fällt schwer. Sicher ist es ein eindrückliches Werk eines großen Dichters. Allerdings kritisiere ich den Erzählbogen, der in der zweiten Hälfte bricht, sich beinahe ins Episodenhafte auflöst und erst am Schluß wieder zu seiner Spannung findet. Doch die ,Auberginenfüllung‘ allein schon lohnt die Lektüre: die Originalität der Bilder und die gewaltige Sprache, welche mit Wortspielen, dem gebrochenen Hebräisch von Esaus Mutter, mit unterschwelligen ,Drohungen‘ des Erzählers, daß überall Palindrome, Notarika, Gematrien etc. lauern könnten, fordern die Übersetzerin hart.
Als Fixpunkte für eine Charakterisierung des Schriftstellers Meir Shalev würde ich François Rabelais und Reto Hänny wählen. Mit dem mehrmals im Roman erwähnten französischen Humanisten des 16. Jahrhunderts teilt Shalev nicht nur die sprachliche Breite, sondern auch die emotionale Tonart, größte Grausamkeiten unverfroren ironisch berichtend. Als Illustration nochmals das Motiv der ,letzten Worte‘. Nachdem uns der Autor seitenlang mit allen möglichen, in ihrem Pathos grotesken ,letzten Worten‘ amüsiert hat, läßt er Jechiel, den Hauptfetischisten der literarischen Miniaturtestamente, sterben, ohne daß dieser seinen wohlpräparierten Abschiedsvers hätte deklamieren können, „denn die Kugel, die ihn traf, zersprengte seinen Kiefer, riß ihm die Zunge weg und erstickte seine Kehle mit Blut“. Nicht zuletzt in dieser Art, Gewalt und ebenfalls Erotik chirurgisch zu beschreiben, reiht sich Meir Shalev andererseits auch in die internationale moderne Literaturszene. Der diesjährige Gewinner des Ingeborg-Bachmann-Preises, Reto Hänny, hat in Klagenfurt einen Romanausschnitt vorgetragen, der aus Meir Shalevs Feder stammen könnte. Doch während ,Guai‘ eher einen ästhetischen Eigenwert darzustellen scheint, setzt Shalev seine ans Sadistische grenzenden Passagen ein zur politischen Stellungnahme. Der dritte Teil „Elija Salomo und Mijiam Aschkenasi, eine wahrheitsnahe Geschichte über Menschen mit fiktiven Namen“, wo die vorher verschwommenen Dimensionen Ort und Zeit plötzlich beengend konkret werden, zeichnet das Verhältnis Juden — Araber in einer Art, wie man sie beim Freigeist Meir Shalev kaum erwartet hätte — eine erschütternde politische Einschätzung.
Soweit ein paar Gedanken zu einem mehr als lesenswerten Buch. Eine Menge literarischer Rosinen wäre noch anzubieten, doch möchte ich Leser und Leserin ermuntern, selber in ,Esaus Kuß‘ eine Unmenge davon zu kosten.
Gabrielle Oberhänsli-Widmer
Jahrgang 2/1995 Seite 6