Über Johannes den Täufer berichtet Josephus,1 daß er „die Juden aufforderte, sich in der Taufe zu reinigen, indem sie sich der Tugend hingeben, gegeneinander Gerechtigkeit und gegen Gott Frömmigkeit üben sollen. Denn nur so schien ihm die Taufe wirksam und nicht, wenn man sie als Mittel zur Vergebung der Sünden anwendet, sondern als Reinigung des Körpers, nachdem freilich die Seele schon vorher durch Gerechtigkeit gereinigt worden ist.“
Ich habe in meinem Jesusbuch darauf hingewiesen, daß hier Josephus Tatsächliches über die Taufe des Johannes wiedergibt: durch die Schriftrollen vom Toten Meer hat sich nämlich gezeigt, daß der Täufer die Taufdogmatik der Essener übernommen hat. Das Tauchbad kann nur dann den Körper reinigen, wenn die Seele vorher durch die Buße von Sünden gereinigt worden ist. Was ist aber der tatsächliche Hintergrund hinter der Forderung des Johannis, man solle gegeneinander Gerechtigkeit und gegen Gott Frömmigkeit üben? Die Antwort darauf wird nicht einfach sein.
Ein jüdischer und christlicher Leser des Josephus wird als selbstverständlich annehmen, daß bei diesen Worten Josephus das bekannte jüdische Doppelgebot der Liebe gemeint hat, das wir aus den jüdischen Quellen kennen, unter anderem auch aus der Didache 1,2, und dessen Wichtigkeit auch esus (Mt 22,34-40) hervorgehoben hat. Wir wissen allerdings nicht, ob auch Johannes bei seiner Taufpredigt diese Doppelregel erwähnt hat.
Doch die Frage ist noch verwickelter. Wir können nämlich nicht einmal wissen wie weit überhaupt Josephus bei den Worten über das Gebot der Gerechtigkeit und Frömmigkeit aus einer jüdischen Überlieferung geschöpft hat. Wenigstens der Begriff „Tugend“ ist sicher nicht jüdisch, sondern griechisch. Es ist also der griechische Einfluß auf die Aussage bei Josephus zweifellos. Wie weit hat sich hier auch sonst Josephus griechischer Farben bedient? Es hat sich nämlich gezeigt, daß es auch bei den Griechen einen Doppelkanon der Gottesfurcht und Nächstenliebe gegeben hat, und zwar seit archaischer Zeit. Darüber hat A. Dihle2 eine wichtige Arbeit verfaßt.
Dihle verfolgt die Wandlungen des Kanons der zwei Tugenden seit dem Anfang bis zu dem Ausgang der Antike. Er weiß von der analogen Vorstellung im Judentum, aber bei seiner Untersuchung klammert er sie fast ganz aus. Er sieht in dem griechischen Doppelkanon der Beziehung zu den Göttern und zu den Mitmenschen einen unphilosophischen Ausdruck der griechischen Vulgärethik. Die klassische griechische Philosophie, auch wenn sie gottgläubig (oder: göttergläubig) gewesen ist, hat die Beziehung zu dem Göttlichen als einen Teil der Ethik verstanden, und darum war für sie die angestammte Einteilung in Frömmigkeit und Gerechtigkeit strukturell untragbar. Natürlich hat die komplementäre Zweiteilung in Frömmigkeit und Gerechtigkeit weiter bestanden. Sie wird in dem 95. Brief Senecas an Lucilius sogar konstitutiv. A. Dihle (S. 25/32) weist darauf hin, daß dieses System bei Seneca von dem Philosophen Poseidonius (etwa 135-50 v. Chr.) stammt. Die Ausführungen Senecas sind als eine bedeutende Parallele zum jüdischen (und christlichen) Gedankengut wichtig.
Seneca spricht dort von drei Regeln der praktischen Philosophie. Griechisch würde man, wie er uns mitteilt, von Dogmen sprechen – wobei natürlich das Wort Dogma noch nicht die moderne starre normative Bedeutung hatte.3 Die drei Regeln beziehen sich auf die folgenden Fragen: Wie soll man die Götter ehren; wie soll man mit den Menschen umgehen; wie soll man mit den Dingen umgehen?4 Dihle hat wahrscheinlich mit Recht vermutet, daß die dritte Kategorie ein sekundärer Zusatz ist, so daß man auch in diesem Fall von dem bekannten Doppelkanon der Tugenden sprechen kann.
Die Ähnlichkeit zwischen dem Wortlaut des Kanons der zwei Tugenden bei Seneca und den jüdischen (und urchristlichen) Parallelen springt in die Augen. Das wird ganz offensichtlich, wenn wir uns das Doppelgebot der Liebe bei Mt 22,3440 näher ansehen.5 In Mt wird von den zwei „großen Geboten im Gesetz“ gesprochen, von denen das ganze Gesetz (d. h. die Tora) abhängt. Das ist schon richtig, nur daß der „historische“ Jesus nicht von dem großen Gebot im Gesetz, sondern von der großen Zusammenfassung im Gesetz
, von dem großen allgemeinen Satz, von dem obersten Grundsatz in der Tora gesprochen hat.6 Es ist kein Zufall, wenn Rabbi Akiba zu dem Gebot der Nächstenliebe in Lev 19,18 sagt, es sei der oberste Grundsatz in der Tora (Sifra zur St.). Und in demselben Zusammenhang7 wird gesagt, daß von dem Abschnitt der Tora, in dem sich das Gebot der Nächstenliebe befindet, alle wesentlichen Teile des Gesetzes abhängen. Die Worte Jesu selbst zeigen außerdem, daß die Zuordnung von Dtn 6,5 zu Lev 19,18 auch deshalb entstanden ist, weil die beiden Bibelverse mit demselben Wort („du sollst lieben“) beginnen. Jesus sagt ja ausdrücklich (Mt 22,38), daß das zweite Grundgebot dem ersten ähnlich ist.
Der Vergleich zwischen dem Spruch Jesu – und seinem jüdischen Hintergrund – weist auch eine äußere Ähnlichkeit mit der Formulierung bei Seneca auf: Seneca spricht von den Dekreten, den ,Dogmen‘, während Jesus von zwei Grundgeboten im Gesetz gesprochen hat. Und es gibt noch eine innere Ähnlichkeit zwischen dem griechischen Doppelkanon und den jüdischen zwei Grundgeboten. Dihle hat gezeigt, daß es bei den Griechen oft geschieht, daß das Gebot der Gottesfurcht in dem Gebot der Menschlichkeit aufgeht. Der griechische und der jüdische Humanismus haben da zu einer analogen Entwicklung geführt. So wird man nämlich wahrscheinlich die Erscheinung im rabbinischen Judentum verstehen müssen, daß, im Unterschied zu anderen jüdischen Schriften, in den erhaltenen rabbinischen Quellen – mit einer späten Ausnahme8 – es nur ein Grundgebot gibt, nämlich das Gebot der Nächstenliebe in Lev 19,18.
In dem Bericht des Josephus über Johannes den Täufer weiß er zu erzählen, daß der Täufer von den Menschen verlangt hat, sie sollen gegeneinander Gerechtigkeit und Gott gegenüber Frömmigkeit üben (Ant XVIII,117). Wenn dies bei Philon von Alexandrien stehen würde, könnte man den tatsächlichen Kern hinter diesen Worten als sehr niedrig einschätzen. Dagegen lehrt die Erfahrung, daß man bei Josephus sehr vorsichtig sein muß. Aber durch den griechischen Kanon der zwei Tugenden werden wir belehrt, daß der Anteil des griechischen Gedankengutes an den Worten des Josephus über den Täufer sicher nicht gering gewesen ist. Es wäre sogar möglich, daß in unserem Falle die jüdische Komponente fast nur als Impuls für eine rhetorische Ausmalung in griechischer Manier gedient hat. Doch die griechische Analogie zu dem jüdischen Doppelgebot der Liebe ist hauptsächlich darum wichtig, weil sie uns vielleicht ermöglichen kann, das Nebeneinander und Miteinander des griechischen Geistes und des jüdischen Gedankengutes richtiger zu verstehen. Man dürfte nicht daran zweifeln, daß das Doppelgebot der Liebe eine innerjüdische Schöpfung ist, und zwar aus dem Geiste des jüdischen Humanismus, dessen Blüte in die hellenistische und römische Periode fällt. Auch bei den Griechen gab es eine Einteilung in die göttliche und menschliche Sphäre, und so ist bei ihnen der Kanon der zwei Tugenden entstanden, der Frömmigkeit und Gerechtigkeit. Die Beziehung zu dem Menschlichen, und hauptsächlich zu dem Göttlichen als Liebe zu verstehen, blieb freilich den Griechen fremd.9 Dabei mußte es auch auf diesem Gebiet Berührungen zwischen dem Hellenismus und dem Judentum auch in seinem Lande gegeben haben. Man sollte da aber nicht voreilig von einer Hellenisierung des Judentums sprechen, denn das Judentum war damals eine autonome Größe und nicht eine untergeordnete Kultur der Eingeborenen.10 Wir können hier sicher nicht das Problem aufrollen. Nur das sei hier gesagt: Im hellenistischen Zeitalter ist die altorientalische Welt zusammengebrochen, und der Hellenismus hat auch dort, wo er nicht direkt einen Kulturwandel verursacht hat, doch ein neues Weltgefühl geschaffen. Es gab sozusagen eine andere Luft. Man darf diese Art von Symbiose nicht vergessen, wenn man das jüdische Doppelgebot der Liebe mit dem griechischen Kanon der zwei Tugenden vergleicht.
- Ant XVIII,117. Siehe D. Flusser, Jesus. Reinbeck 1968. 25f.
- A. Dihle, Der Kanon der zwei Tugenden. Westdeutscher Verlag, Opladen 1968. — Zu den zwei Tugenden siehe auch: D. Flusser, Vor Gott und Menschen angenehm zu machen. FrRu NF 31993/94, 177 ff.
- Er übersetzt dort (Kap. 10) das griechische dogmata mit: decreta, scita, placita.
- Kap. 47: quomodo sit dei colendi; Kap. 51: quomodo hominibus sit utendum; Kap. 54: quomodo rebus sit utendum.
- Mt 27,34-40 ist viel weniger bearbeitet als Mk 12,28-34 und Lk 10,25-28. Wir müssen uns hier in bezug auf die Perikope auf das Nötige beschränken.
- Zu der Ausdrucksweise siehe W. Bacher, Die exegetische Terminologie der jüdischen Traditionsliteratur. Leipzig 1899, Nachdruck Darmstadt 1965. Bd. 1, 80 ff.
- Siehe Bacher, 11 f.
- Darüber siehe D. Flusser, The Ten Commandments and the New Testament, in: The Ten Commandments in History and Tradition. Jerusalem 1990. 241 ff.
- Y. Amir, Philons Erörterungen über Gottesfurcht und Gottesliebe in ihrem Verhältnis zum palästinensischen Midrasch, in: Die hellenistische Gestalt des Judentums bei Philon von Alexandrien. NeukirchenVluyn 1983. 164 ff.
- Die einzige Weltanschauung, welche in der Vergangenheit einen Einfluß auf die Struktur des Judentums ausgeübt hat, war der Zoroastrianismus.
Jahrgang 2/1995 Seite 27