Als besonders ärgerlich empfindet Professor Ernst Ludwig Ehrlich, Riehen-Basel (Schweiz), die Nr.1964 im Katechismus der Katholischen Kirche (KKK) mit folgendem Text:
Das alte Gesetz ist eine Vorbereitung auf das Evangelium. „Das Gesetz war eine Pädagogik und eine Weissagung der zukünftigen Güter“ Irenäus, haer. 4,15,1). Es kündigt das Werk der Befreiung von der Sünde an, das mit Christus vollendet wird; es liefert dem Neuen Testament die Bilder, »Typen“, Symbole, um das Leben nach dem Geiste zu veranschaulichen. Das Gesetz wird vervollständigt durch die Lehre der Weisheitsbücher und der Propheten, die es auf den Neuen Bund und das Himmelreich ausrichten.
„Manche, die in der Zeit des Alten Bundes lebten, hatten die Liebe und die Gnade des Heiligen Geistes und erwarteten hauptsächlich geistige und ewige Verheißungen; und insofern gehörten sie zum neuen Gesetz. — Ebenso sind im Neuen Testament manche fleischliche Menschen noch nicht zur Vollkommenheit des neuen Gesetzes gelangt. Diese mußten auch im Neuen Testament durch Furcht vor Strafen und durch gewisse zeitliche Verheißungen zu den Tugendwerken geführt werden. Wenn das alte Gesetz auch die Gebote der Liebe gab, so wurde durch es doch nicht der Heilige Geist verliehen, durch den ,die Liebe in unsere Herzen ausgegossen ist‘ (Röm 5,5)“ (Thomas v. A. s. th. 1-2, 107, 1, ad 2).
Die Journalistin Tanja Kröni aus Emmenbrücke (Schweiz) schreibt uns:
Der KKK bietet erfreuliche Ansätze einer neuen katholischen Sichtweise des Judentums, von einer „Bereinigung“ der früheren Polemiken kann allerdings nicht die Rede sein. Von „Dialog“ ist in ihm kaum die Rede, wohl aber von „Mission“ und „Missionsauftrag“ eines jeden Christen an allen Nichtchristen: 977 „. . . Wer glaubt und sich taufen läßt, wird gerettet; wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden“ (Mk 16,15-16). In 674 ist Röm 11,20-26 zitiert, wonach der verherrlichte Messias erst dann wiederkommt, wenn er von ganz Israel anerkannt wird, über dem zum Teil „Verstockung liegt“. 597 wird durch 600, Apg 4,27-28 wieder eingeschränkt: „Wahrhaftig verbündet haben sich in dieser Stadt . . . Herodes und Pontius Pilatus mit den Heiden und den Stämmen Israels, um alles auszuführen, was deine Hand und dein Ratschluß im voraus bestimmt haben.“
Nach 563 ist es nicht möglich, ohne die Anbetung Jesu zu Gott zu kommen. In 522 wird das AT als Vorbereitung auf Jesus bezeichnet. In 708 heißt es, daß das Gesetz (Moses) dem Volk gegeben wurde, um es Jesus entgegenzuführen. Es vermöge aber die Menschen nicht zu retten. In 349 ist eine deutliche Überhebung zu finden: „Die erste Schöpfung findet ihren Sinn und Höhepunkt in der Neuschöpfung (Auferstehung = Anmerkung der Autorin) in Christus, welche die erste an Glanz übertrifft.“ Die endzeitliche Messiashoffnung von Juden und Christen behandelt 840: „. . ., auf der anderen Seite erwartet man für das Ende der Zeiten das Kornmen des Messias, dessen Züge verborgen bleiben — eine Erwartung, die freilich durch das Drama der Unkenntnis oder des Verkennens Jesu Christi begleitet wird.“
Der KKK enttäuscht im Hinblick auf das jüdisch-christliche Gespräch und bleibt weit hinter dem Geist des II. Vatikanums zurück. Die oben angeführten Stellen verunmöglichen einen gleichberechtigten Dialog. Wenn die Wiederkehr Jesu als verherrlichter Messias von der Bekehrung aller Juden abhängt, dann ist für die Vertreter der katholischen Kirche ja nur Mission möglich, und wenn die Hebräische Bibel auf Jesus hin gelesen werden muß, dann gibt es noch nicht einmal eine gemeinsame Forschungsbasis. Es hat sich also nichts geändert. Einzig das „geheimnisvolle Band, das Juden und Christen verbindet“, wird positiv gesehen, und der Tod Jesu darf in Verkündigung und Katechese nicht mehr kollektiv allen heute und zur damaligen Zeit lebenden Juden angelastet werden.
Wir zitieren in Auszügen Rabbi Leon Klenicki, New York/USA, UNA SANCTA 3/1994 (aus dem Englischen übersetzt von Ernst L. Schnellbächer und Gerhard Voss):
Die Texte des II. Vatikanums über die Juden und das Judentum . . . empfehlen der Geistlichkeit und den Pädagogen, die katechetischen Texte von negativen Charakterisierungen der Juden zu reinigen. Der Katechismus trägt zu diesem Prozeß theologischer Urteilsbildung bei, indem er zur Bildung des katholischen Verständnisses des Judentums und der Juden folgende Punkte betont:
— Der Bund, den die Hebräische Bibel bezeugt, ist nicht widerrufen worden.
— Jesus war Jude.
— Die christliche Liturgie wurzelt in der jüdischen Liturgie.
— Die Juden sind für den Tod Jesu nicht kollektiv verantwortlich . . .
Einige Abschnitte des Katechismus scheinen in ihren Lehraussagen an Formulierungen festzuhalten, die zur traditionellen Verächtlichmachung gehören und so eventuell bei Lehrern oder künftigen Autoren katechetischer Texte Verwirrung stiften. Diese Abschnitte erfordern ein gemeinsames katholisch-jüdisches Nachdenken und bereiten jüdischen Lesern Sorge.
In Nr. 121 stellt der Katechismus fest, daß die Hebräische Bibel, das sogenannte „Alte Testament“, ein unaufgebbarer Teil der Heiligen Schrift ist, daß diese biblischen Bücher von Gott inspiriert sind und einen dauernden Wert behalten, „denn der Alte Bund ist nie widerrufen worden“. Nr. 122 sagt jedoch: „Der Heilsplan des Alten Testamentes war vor allem darauf ausgerichtet, die Ankunft Christi, des Erlösers von allem, vorzubereiten.“ Diese theologische Auffassung kann negativ verstanden werden. Sie läßt das Jüdische als eine Spiritualität von nur vorläufiger Bedeutung erscheinen. Sie mißachtet den fortdauernden Prozeß der rabbinischen Auslegung, die erklärt, was der Sinn der Gebote Gottes ist und wie sie im Leben des einzelnen und der Gemeinschaft zu erfüllen sind . . .
Der Katechismus betont in Nr. 140 die Einheit von Hebräischer Bibel und Neuem Testament: Das sogenannte „Alte Testament bereitet das Neue vor, während dieses das Alte vollendet. Beide erhellen einander; beide sind wahres Wort Gottes.“ In Nr. 134 zitiert der Katechismus die Meinung Hugos von St. Victor: „Die ganze Heilige Schrift ist ein einziges Buch, und dieses eine Buch ist Christus, und die ganze göttliche Schrift geht in Christus in Erfüllung.“ . . .
Der Katechismus zeigt die Neigung, der Hebräischen Bibel einen bloß vorläufigen Wert zuzuerkennen. Nr. 1334 beispielsweise erklärt zunächst die Bedeutung von Brot und Wein in der Hebräischen Bibel, besonders im Zusammenhang mit der Pessachfeier der Erlösung, hebt dann aber hervor, daß Jesus durch die Einsetzung der Eucharistie „der Segnung des Brotes und des Kelches einen neuen, endgültigen Sinn gab“. Aufgrund rabbinischer Theologie und des Rituals, das Jesus kannte, ergibt sich eine andere Sicht.
Nr. 593 unterstreicht Jesu Liebe zum Tempel und dem mit ihm verbundenen Ritual. Aber der Tempel wird typologisch dargestellt; es wird gesagt: „Der Tempel deutet im voraus sein Mysterium an.“ Der Wert dieser Institution für die jüdische, auch für die judenchristliche Spiritualität jener Zeit wird übersehen . . .
Die Nrn. 595-598 sind einer Betrachtung des Todes Jesu gewidmet. Der Tod Jesu wird typologisch gesehen: Er erscheint als schon in der Hebräischen Bibel angedeutetes Geheimnis universaler Erlösung. Insbesondere versteht der Katechismus den Tod Jesu als Erfüllung der prophetischen Worte über den leidenden Gottesknecht von Jes 53,7-8.
In Nr. 595 heißt es: „Unter den religiösen Autoritäten Jerusalems gab die Person Jesu immer wieder Anlaß zu Meinungsverschiedenheiten; der Pharisäer Nikodemus und der angesehene Josef von Arimathäa etwa waren heimliche Anhänger Jesu.“ Das hilft, Verallgemeinerungen zu vermeiden, die dazu führen, die Juden zu verdammen. Doch stellt Nr. 596 fest: „Die Pharisäer drohten solchen, die sich an Jesus halten würden, den Ausschluß an.“ Angesichts der Uneinheitlichkeit der pharisäischen Bewegung, die der Katechismus gerade selbst angedeutet hat, ist das relativ. Weiter heißt es in diesem Paragraphen, der Hohe Rat habe Jesus als Gotteslästerer zum Tode verurteilt. Im Griechischen kann man in Mt 26,66 statt „Er ist des Todes schuldig“ wohl auch „Er ist zum Tod verdammt“ übersetzen. Die französische Ausgabe des Katechismus folgt der letzteren Version. Der Katechismus führt dann weiter aus, daß der Hohe Rat „das Recht, jemanden hinzurichten, verloren“ hatte. Mit Hinweis auf Lk 23,2 heißt es: Er „lieferte Jesus den Römern aus und klagte ihn des Aufstands an“. Diese Behauptung erfordert mehr Aufmerksamkeit. Die Rolle des Sanhedrins, seine Rechte und die römische Oberaufsicht darüber hätten bei der Behandlung dieser Periode sorgfältig beachtet werden müssen. Es wäre sehr wichtig gewesen, die Leser daran zu erinnern, daß der Hohepriester von den Römern ernannt und von den religiösen Führern und vom Volk der Juden sehr kritisch betrachtet wurde.
Der Katechismus weist den Vorwurf des Gottesmordes zurück und stellt fest: „Die Juden sind für den Tod Jesu nicht kollektiv verantwortlich.“ Dies ist als Überschrift der Nr. 597 vorangestellt, und es folgt als Überschrift zu Nr. 598: „Alle Sünder sind am Leiden Christi schuld.“ Das so in Erinnerung zu bringen ist eine ausgezeichnete Art der Unterweisung: Hier wird deutlich eine Anschuldigung gebrandmarkt, die über Jahrhunderte hin eine Verachtung des Judentums und Judenverfolgungen hervorgerufen hat.
Diese jüdische Besprechung des Katechismus der Katholischen Kirche wird hier in einem Geist der Freundschaft vorgelegt und mit großem Interesse an der katholischen Lehre und ihrer Darstellung des Judentums.
Die Darstellung des Katechismus wird zahllose Generationen von Katholiken und wohl auch das katholisch-jüdische Verhältnis beeinflussen . . . Ein gemeinsames katholisch-jüdisches Nachdenken ist notwendig, wie auf der Ebene des Kirchenvolkes mit dem Katechismus umzugehen ist und der Blick auf die einzigartige Bedeutung des interreligiösen Dialogs gelenkt werden kann. Der christlich-jüdische Dialog hat durchaus Fortschritte gebracht in der Unterweisung, besonders in der Interpretation des Neuen Testamentes und in der Darstellung der Juden und des Judentums. Doch muß von beiden Seiten noch viel mehr getan werden. Jüdischerseits brauchen wir ein Nachdenken über das Christentum, seine Bedeutung und Sendung im Plan Gottes. Dies ist in der Tat ein schweres Unterfangen, weil christlicherseits jahrhundertelang eine Verachtung gelehrt wurde, die dem Antisemitismus Nahrung bot und sich in manchen Tendenzen christlicher Theologie oder in theologischen Dokumenten weiterhin findet. Christlicherseits muß man unter diese nahezu klassische Lehrtradition der Verachtung des Judentums einen Schlußstrich ziehen. Beide Religionsgemeinschaften haben viel aufzuarbeiten. Solche gemeinsame Anstrengung wird jedoch ihre je eigene Berufung vertiefen . . .
Abschließend sollen einige Punkte genannt werden, die einer gemeinsamen katholisch-jüdischen Behandlung bedürfen:
— Die Darstellung der hebräischen Heiligen Schriften (des „Alten Testamentes“) als Vorbereitung auf die Sendung Jesu.
— Die verengte Darstellung des Judentums im ersten Jahrhundert, die seinem spirituellen Reichtum und seiner Vielfalt zu dieser Zeit nicht gerecht wird.
— Der Gebrauch und Mißbrauch von Typologie in der Darstellung biblischer Ereignisse, durch die Jesus als Erfüllung der Verheißungen Gottes an Israel herausgestellt wird.
— Die Notwendigkeit, das jüdische „Gesetz“ oder die Halacha als Teil der Geschichte des ersten Jahrhunderts zu studieren, um die Gegenüberstellung von „Gesetz“ und „Liebe“ zu vermeiden, die zu den Lehrinhalten gehörte, aus denen die Verachtung und Herabsetzung jüdischer Spiritualität erwachsen ist.
Jahrgang 2/1995