„München, 1946. November. In irgendeinem Besatzungsbüro . . . oder war es vielleicht in der Redaktion der ,Neuen Zeitung‘ . . . — kommt mir eine Frau in der Uniform der amerikanischen Armee entgegen, und ich ergreife die Flucht. Kein fünfsterniger General kann mich, den Zivilisten, erschrecken. Aber vor Frauen in Uniform habe ich immer eine panische Angst empfunden . . . Ich ergreife die Flucht, die Frau in Uniform schneidet mir den Weg ab, und — ich sehe in die treuherzigsten, freundlichsten Augen, die je einer Uniform Hohn gesprochen haben, und was ich höre, das kommt in einem so ureingeborenen und nie abzulegenden Schwäbisch heraus, wie es höchstens von Theodor Heuss übertroffen werden konnte. Es ist ein schwäbischer Sprudel von Worten, von Bitten, von Beschwörungen. Ja, sie bittet um Hilfe, um Verständnis, um Einverständnis, um Spenden — Spenden — nämlich Bücher, wo immer man sie herkriegen mag, um Kinderbücher, Märchenbücher, Bilderbücher, Lehrbücher, deutsche, fremdsprachige, um Hefte, Zeichenpapier, Buntstifte, Malkästen — und man begreift, da ist ein Quell von Güte, von Mitleiden, von Helfenwollen und auch von Hilflosigkeit, in olivfarbener Uniform. Das war Jella Lepman.“
1Jella Lepman war die Begründerin der „Internationalen Jugendbibliothek München“ und des „Internationalen Kuratoriums für das Jugendbuch“, eine Frau, beseelt von dem hochherzigen Gedanken, mit Kinderbüchern eine Brücke von Nation zu Nation zu bauen, eine „Kinderbuchbrücke“ für Frieden und Verständigung unter den Völkern. Daß man nach diesem unvorstellbar schrecklichen Weltkrieg bei den Kindern anfangen müsse, den Haß zu überwinden und daß man gerade das Kinder- und Jugendbuch als Medium benutzen müsse, um diesen Erziehungsprozeß zu verwirklichen, für diese Idee hat Jella Lepman gekämpft, hat sich Hilfe erzwungen, hat Generäle und Institutionen wie Festungen bestürmt und erobert.
„Überhaupt, Kind und Buch, das ist ein Kapitel ganz für sich und eines der schönsten, das wir kennen“, formuliert Jella Lepman in der Einleitung des Sammelbandes „Kindheit, Kindergestalten aus der Weltliteratur“, der 1961 erschien. „Gebt uns Bücher, sagten die Kinder, gebt uns Flügel. Helft uns, ihr, die ihr mächtig und stark seid, uns in die Ferne zu verlieren. Wir wollen so vieles von euch lernen, aber laßt uns die Träume!“
Jella Lepman wurde am 15. Mai 1891 als älteste Tochter des jüdischen Fabrikanten Josef Lehmann und seiner Frau Flora, geb. Lauchheimer in Stuttgart geboren. Mit den Schwestern Klara und Bertha und zusammen mit den Eltern verlebte sie eine glückliche Kindheit in der Sophienstraße. Sie wächst in einem liberalen Elternhaus heran, besucht das „Königliche Katharinenstift“ und setzt in Lutry bei Lausanne ihre Ausbildung mit dem Schwerpunkt Fremdsprachen fort. Ihren Vater charakterisiert sie als „Demokraten Uhlandscher Prägung“, der sich eher der liberalen Synagogengemeinde im Stuttgart der Jahrhundertwende zugehörig fühlte als der 1880 gegründeten orthodoxen „Israelitischen Religionsgesellschaft“, denn fortschrittliche Gesinnung und soziales Engagement kennzeichnen Stuttgarts gehobenes jüdisches Bürgertum in jenen Jahren. Eben diese Grundhaltung beweist die siebzehnjährige Jella, als sie voll Idealismus und Tatkraft 1908 eine „Internationale Lesestube“ für Arbeiterkinder aus dem Stuttgarter Osten einrichtet. Es ist die Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik in der Hackstraße, jenes von Emil Molt 1906 gegründete Unternehmen, in der Jella sich für Kinder ausländischer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen engagiert.
Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs heiratet Jella am 27. November 1913 Gustav Horace Lepman, einen um 14 Jahre älteren Deutsch-Amerikaner. Obgleich jung verheiratet, muß ihr Mann als Offizier in den Krieg ziehen und wird schwer verwundet. Als Gustav Horace aus dem Krieg kommt, ist er ein todkranker Mann. Im November wird das erste Kind, die Tochter Annamaria geboren, das zweite, der Sohn Günther, im November 1921. Doch schon im Februar 1922 stirbt Gustav Horace Lepman infolge seiner schweren Kriegsverletzungen. Wie unzählige andere Kriegerwitwen stand Jella Lepman nun allein mit den beiden Kindern. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten wird es auch für sie notwendig, einen Beruf auszuüben. Als erste Frau arbeitet Jella Lepman als Redakteurin beim „Stuttgarter Neuen Tagblatt“. Hier arbeitet die politisch engagierte Redakteurin, die dem Anspruch der Zeitung „in wahrhaft freiheitlichem und demokratischem Geist“ und „nach republikanischen Grundsätzen“ zu schreiben, in jeder Hinsicht entspricht. 1933 wurde mit einem Schlag alles ganz anders: Schon bald wurde ihr Arbeitsvertrag mit dem „Stuttgarter Neuen Tagblatt“ auf politischen Druck hin gelöst. Bis zum Jahr 1935 beschäftigte man sie noch ais freie Mitarbeiterin, dann jedoch mußte sie ihre Tätigkeit beenden. Nachdem bereits die Schwester Klara und ihr Vetter Max Horkheimer in die USA emigriert waren, entschloß sich auch Jella Lepman in Sorge um die Zukunft und das Leben ihrer Kinder zur Emigration.
In England hat sich Jella Lepman recht und schlecht durchschlagen müssen, zuerst beim BBC im Deutschen Dienst und dann bei der „American Broadcasting Station in Europe“ (ABSIE), von wo sie kurz vor Kriegsende zur US-Botschaft in London versetzt wurde. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Herbst 1945 forderte das amerikanische Hauptquartier Jella Lepman auf, als „Adviser“, als Beraterin für Frauen- und Jugendfragen nach Deutschland zurückzukehren. Das war für sie ein schwerer Entschluß: „Wäre es um die Erwachsenen gegangen, hätte ich keinen Augenblick gezögert, nein zu sagen.“2 Jetzt, als Jella Lepman gefragt wird, ob sie nach Deutschland zurückkehren wolle, um für deutsche Kinder ein Rettungs- und Erziehungswerk aufzubauen, jetzt wird ihr klar, daß sie nicht zurück, sondern nur vorwärts schauen muß. Aber im amerikanischen Hauptquartier in Bad Homburg wird ihr auch rasch bewußt, daß sie vom grünen Tisch aus kein wirkliches Bild von dem zerstörten Land und der Lage der Kinder gewinnen konnte. Im offenen Jeep mit einem amerikanischen Fahrer besuchte Jella Lepman im Oktober 1945 verschiedene württembergische Städte. In vielen langen Gesprächen mit Freunden, Politikern, Gleichgesinnten suchte Jella Lepman nach Ansätzen für ihre neue Tätigkeit, und ihr wird klar: Den Hunger, die große materielle Not kann sie nicht lindern. Aber gab es nicht auch einen geistigen Hunger, eine geistige Not? Hungerten die Menschen in all dem Elend nicht auch „nach Büchern, vor allem nach Büchern aus der freien Welt, die zwölf Jahre lang verbannt gewesen waren?“3 Allmählich reifte in ihr der Entschluß, eine „Internationale Jugendbuchausstellung“ zu organisieren, die den deutschen Kindern und Eltern zeigen sollte, was die Kinder anderer Länder lesen. Die Ausstellung sollte zugleich ein „Goodwill-Unternehmen“ sein, waren doch die meisten Länder, die um Bücher-Spenden gebeten wurden, im Krieg Gegner Deutschlands gewesen. Und während in unzähligen Kisten und Paketen die erbetenen Bücher eintrafen, suchte Jella Lepman nach geeigneten Ausstellungsräumen — ein nahezu unlösbares Problem in den zerstörten deutschen Städten. Noch bevor die Genehmigung zur Ausstellung eintraf, wurde eine Lösung gefunden. In München war das „Haus der Kunst“ in der Prinzregentenstraße nicht zerstört worden und bot geeignete Ausstellungsräume.
Diese erste internationale Kinder- und Jugendbuchausstellung in München vom 3. Juli bis zum 3. August 1946 wurde ein großer Erfolg: Mehr als 4.000 Kinderbücher wurden vorgestellt. Neu war, daß den Besuchern — in München wurden 25.000 Einlaßkarten ausgegeben — die Möglichkeit geboten wurde, in der Ausstellung zu lesen.
Von Anfang an als Wanderausstellung konzipiert, reiste diese Bücherschau im August 1946 nach Stuttgart.
Zum Weihnachtsfest 1946 hatte Jella Lepman nur einen Wunsch: den nach Büchern bettelnden Kindern ein Buch unters Kopfkissen zu legen. Und Not macht erfinderisch. Sie übersetzte das allseits geliebte Kinderbuch von Munroe Leaf „Ferdinand der Stier“ und ließ es als Sonderdruck in 30.000 Exemplaren auf Zeitungspapier herstellen und an die begeisterten Berliner Kinder verteilen.
Monate später — die Bücher der Wanderausstellung waren inzwischen in ihre Kisten verpackt worden, Jella Lepman arbeitete als stellvertretende Chefredakteurin an der in deutscher Sprache erscheinenden amerikanischen Illustrierten „Heute“ in München —, da hatte sie wieder unerhörtes Glück. Im Frühherbst 1947 erschienen zwei gut informierte Herren in ihrem Redaktionsbüro, Abgesandte der Rockefeller-Foundation New York, die nach förderungswürdigen Projekten in Deutschland Ausschau hielten. Der Gedanke der internationalen Verständigung durch Kinder- und Jugendbücher, wie ihn jene Ausstellung vorgeführt hatte, interessierte sie, und nun wollten sie die Frau kennenlernen, die diese Idee gehabt hatte. Jella Lepman erkannte sofort ihre Chance und nutzte sie mit dem Ergebnis, daß sie ein anspruchsvolles Arbeitsprogramm vorlegen durfte.
Die Rockefeller-Foundation hat Jella Lepman zu einer Reise in die USA eingeladen, um dort für ihre Idee zu werben. Ihr Besuch wurde erfolgreich, nicht zuletzt durch die aktive Unterstützung von Eleanor Roosevelt, der Witwe des Präsidenten, die großen Einfluß in der amerikanischen Presse besaß. Im Frühling 1949 traf das sehnlich erwartete Telegramm aus New York ein: „Rockefeller-Foundation genehmigt einen zweijährigen ,Grant‘ von 22.000 Dollar für die Errichtung der Internationalen Jugendbibliothek in München.“
Ihr erstes Domizil fand die neu gegründete „Internationale Jugendbibliothek“ in einem Haus in der Kaulbachstraße, in dem am 14. September 1949 unter großer Beteiligung der Kinder die Eröffnung stattfand. Obgleich man das System der „Freihandbibliothek“ am Anfang in Fachkreisen argwöhnisch betrachtete, setzte es sich auch in anderen Jugendbibliotheken durch. „Es verschwand kaum ein Kinderbuch, der Prozentsatz war lächerlich“, resümierte Jella Lepman später.
Nach amerikanischem Vorbild ergänzen bald weitere Angebote die Freihandbibliothek: ein Malstudio, Fremdsprachenkurse, Buchdiskussionen und eine sog. „Kinder-UNO“. Und für Jugendliche, meistens Schüler der Oberklassen, werden die Buchdiskussionsgruppen zur wichtigen, außerschulischen Erfahrung des Umgangs mit Literatur, aber auch wichtiger Ort zur Verarbeitung ihrer eigenen Erlebnisse und Probleme: Krieg, Flucht, Auseinandersetzung mit der Nazi-Zeit und der Schuldfrage.
Was ist aus der Bibliothek geworden? Längst ist ihr in der Kaulbachstraße der Platz zu klein geworden. Den Umzug 1983 von der Kaulbachstraße in das renovierte Schloß Blutenburg. Dieses wasserumflossene Dornröschenschloß am Autobahnende vor München, hat Jella Lepman nicht mehr erlebt. Sie ist am 4. Oktober 1970 in ihrer Wohnung in Zürich gestorben. In Schloß Blutenburg aber wird der große Saal nach ihr benannt, eine würdige Bronzetafel am Eingangsturm zur Burganlage erinnert an das großartige Lebenswerk von Jella Lepman.
- Jella Lepman, Die Kinderbrücke, Sonderauflage der AvJ 1988. S. Fischer, Frankfurt 1964. Vorwort von Carl Zuckmayer.
- Lepman, Kinderbrücke 21.
- Lepman, Kinderbrücke 39.
Jahrgang 2/1995 Seite 38