The Library of Sephardic History and Thought, Vol. 2. Ktav, Hoboken/New York 1993. 120 Seiten.
Es handelt sich um eine wohl um 1950 geschriebene Dissertation. Das Dissertationsdatum wird nicht angegeben. Gaon war lange Zeit ein wichtiger Sprecher der sephardischen Juden und ist bis heute eine hochrangige Respektsperson. Er legt in seiner Dissertation dar, daß der in Spanien, Portugal und Venedig wirkende jüdische Staatsmann, Philosoph und Tora-Kommentator Isaak Abravanel (1437-1508) in seinem Bibelkommentar stark von den Ideen des katholischen Bischofs Alfonso Tostado (ca. 1400-1449) abhängig ist. Tostado war der Verfasser vieler einflußreicher theologischer Werke. Er wurde als weisheitliches und liberales Wunder des Zeitalters betrachtet und war auch als Bischof von Avila eine von Königen, Fürsten, Christen und Juden geschätzte Autorität. In den Konzilien von Konstanz (1414-1418) und Basel (1431-1449) vertrat er die Superiorität der Konzilien über den Papst und geriet deshalb ins Zwielicht und in weitgehende Vergessenheit.
Solomon Gaon beschreibt die Lebens- und Zeitgeschichte sowohl von Abravanel als auch von Tostado außerordentlich spannend und liebenswürdig (S. 1-44). Als Tostado starb, war Abravanel 12jährig. Die beiden haben sich also nicht gekannt. Aber Abravanel besaß nachweislich bei der Abfassung seines biblischen Kommentars ein Manuskript einer Pentateuchdeutung von Tostado. Abravanel nennt Tostado nie direkt als seinen Gewährsmann, aber Gaon meint, daß dessen Werke mehr Einfluß auf Abravanel hatten, als „eine gewöhnliche Enzyklopädie heute auf einen Gelehrten haben würde“ (S. 107). Mehrmals stellt er lateinische Texte Tostados neben hebräische Texte Abravanels und weist auf die charakteristische Übereinstimmung beider Texte hin. Seine Beweise der Abhängigkeit Abravanels von Tostado sind dann ziemlich überzeugend, wenn Abravanel mit einer Auslegung biblischer Gesetze sich in einem Gegensatz zur Auslegung der Rabbinen und jüdisch-mittelalterlichen Kommentatoren befindet.
Solomon Gaon untersucht, bei welchen Tora-Gesetzen über Sklaverei, Mord, Körperverletzung, Moral, Sabbat, Land, Zauber, Idolatrie, Gerichtswesen und die Regierenden des Volkes sich Übereinstimmungen und Abhängigkeiten zwischen Tostado und Abravanel beweisen oder vermuten lassen. Das Buch könnte zu neuen Diskussionen und Dissertationen über das Verhältnis zwischen mittelalterlichen jüdischen und christlichen Bibelkommentatoren führen.
Nicht alle Beweise Gaons sind einleuchtend. „The Library of Sephardic History and Thought“ weist aber mit dieser Publikation auf das große Feld der unaufgearbeiteten Beziehungen zwischen jüdischen und christlichen Bibelgelehrten im Mittelalter hin. Anhand dieses Buches zeigt sich, daß auch damals nicht überall absolute Gesprächslosigkeit herrschte.
Clemens Thoma
Jahrgang 2/1995 Seite 50