1. Was vor 100 Jahren geschah
Der französische jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus (1859-1935) wurde gegen Ende des vorigen Jahrhunderts vom französischen Militärgericht des Hochverrats an Frankreich für schuldig erklärt. Im Dezember 1894 begann der Prozeß gegen ihn vor dem höchsten Pariser Militärgericht. Am 5. Januar 1895 wurde Dreyfus degradiert und im darauffolgenden Februar auf die „Teufelsinsel“ im Stillen Ozean deportiert. Vier Jahre später (1899) fand der erste Revisionsprozeß mit einer Teil-Rehabilitierung statt. Die volle und offizielle Unschuldserklärung erfolgte erst 1906. Der Dreyfus-Prozeß war ein Justizskandal ersten Ranges. Ein Offizier jüdischer Herkunft wurde von nationalistisch-antisemitischen Kreisen manipulatorisch zum Hochverräter gemacht und unschuldig verurteilt. Emile Zola (1840-1902) trug mit seinem offenen Brief an „L'Aurore“ („J'accuse“) am 13. Januar 1895 entscheidend dazu bei, daß man sich in Frankreich des Antisemitismus der Mittelstandsgesellschaft bewußt wurde. Hauptmann Dreyfus war das Opfer dieses französischen Antisemitismus geworden. Das Drum und Dran des Prozesses wurde immer deutlicher zu einem die französische Gesellschaft aufwühlenden und entlarvenden Ereignis. Auch die Juden in ganz Europa wurden aufgeschreckt. Es war an der Zeit, sich zu wehren! Theodor Herzl, der Begründer des politischen Zionismus (1860-1904), nahm als Korrespondent der Wiener „Neuen Freien Presse“ am Dreyfus-Prozeß teil. Er war zutiefst geschockt über die überaus heftigen antisemitischen Tendenzen in dem von ihm bewunderten französischen Volk. Eine wichtige Rolle spielte auch Bernard Lazare (1865-1903). Lazare, ursprünglich ein assimilierter jüdischer Anarchist, nahm noch vor Emile Zola den Kampf zur Rehabilitierung von Dreyfus auf. Anläßlich des Prozesses entdeckte er sein Judentum.
2. Hundert Jahre danach: Tagung in Jerusalem
Vom 6.-11. November 1994 fand in der Hebräischen Universität Jerusalem eine hochrangig besetzte Tagung von Historikern, Politologen und Juristen aus aller Welt statt. Ein ganzes Jahrhundert war seit dem Prozeßbeginn gegen Dreyfus vergangen. Der Politologe der Hebräischen Universität Zeev Sternhell hatte die Tagung organisiert. Der Titel seines Einführungsreferates war auch das Leitthema: „Die Dreyfus-Affäre als Vorspiel für Entwicklungen im 20. Jahrhundert“. Es ging in der ganzen Tagung um dieses historisch und ideologisch bis heute weithin ungelöste Problem. Die Spitzen der israelischen Gesellschaft nahmen — gerade deswegen — mit Einwänden, Aussagen und Referaten aktiven Anteil an der Tagung: z. B. Schamgar, der Vorsitzende des israelischen Gerichtshofes, und die Wissenschaftsministerin Schulamit Alloni. Am Schluß der Tagung hielt Außenminister Shimon Peres eine einstündige Rede. Nach Meinung von Peres, die in breiten Kreisen als communis opinio gilt, leitete der Dreyfus-Prozeß die große Wende in der Geschichte des jüdischen Volkes ein: die Wende hin zum aktiven Zionismus. Der Prozeß vertiefte laut Peres aber auch den Riß quer durch das jüdische Volk: Sollen wir einen Staat anstreben oder bleiben wir besser im Diasporamilieu innerhalb der westlichen Gesellschaft? Es knisterte während der Tagung in Jerusalem mehrmals, wenn es um die Relevanz der Dreyfus-Affäre für den heutigen Staat Israel und seine Gesetze ging. Selbstkritisch und vergleichend wurde gefragt, ob im Staat Israel Recht, Gerechtigkeit und Gleichheit aller vor dem Gesetz immer die oberste Norm sei. Oder stellen wir vielleicht auch — ähnlich wie das damalige Frankreich — unsere politischen Interessen über Gleichheit und Recht?
3. Die Dreyfus-Affäre, Beginn des politischen Zionismus?
An der Jerusalemer Dreyfus-Tagung nahm auch der Neuhistoriker Prof. Dr. Michael Graetz teil. Er doziert seit 1975 neuzeitliche und moderne jüdische Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem. Derzeit hat er seinen „Zwischensitz“ an den Hochschulen Luzern und Heidelberg. Sein Vortrag bei der Dreyfus-Tagung trug den Titel: „Das Gewicht der Dreyfus-Affäre in der Geschichte des Zionismus“. Graetz erfuhr besondere Aufmerksamkeit seitens der Teilnehmer, weil er gegen verbreitete historische Topoi anging und damit neue Impulse für die heutige Geschichtsforschung zu geben vermochte. Es lohnt sich, auf Graetz und seine Gedanken und Schlußfolgerungen einzugehen. Sie zeigen, wie eine historische Beurteilung neues Licht auf vergangene Ereignisse werfen und ihren Rang verändern kann. Graetz leugnet nicht — wie könnte er auch? —, daß die Dreyfus-Affäre einen unmittelbaren Einfluß auf einzelne Vertreter des Judentums hatte. Sie führte nicht nur im Leben von Theodor Herzl zu einer Wende, sondern auch im Leben von Max Nordau (1849-1923), Bernard Lazare und anderen. Daß diese Wende keine plötzliche, unvorbereitete war, ist besonders deutlich bei Theodor Herzl zu sehen. Herzl war schon vor dem Dreyfus-Prozeß in Wien und in Budapest mit dem Antisemitismus befaßt; er wußte um die Intensität des Antisemitismus in Deutschland. Trotzdem konnte immer wieder die These aufgestellt werden, die Hinwendung Herzls zum Zionismus sei die Folge des Dreyfus-Prozesses, und der politische Zionismus sei das Ergebnis der Manipulationen der antijüdischen Ankläger des jüdischen Hauptmanns Alfred Dreyfus. Herzl selbst — so Graetz — hat diesen Theorien Auftrieb gegeben. Er schrieb später (1899), was ihn erschüttert habe, sei — während des Dreyfus-Prozesses und danach — der Haßausbruch des Pöbels in Paris gewesen, sowie die Rufe: „Mort aux Juifs!“ Herzl erkannte im Schicksal von Dreyfus ähnlich wie Lazare und Nordau einen paradigmatischen Fall, der die Gefahr des Antisemitismus und seine Dynamik vor Augen führt: die ,Schuld‘ des einzelnen werde dem ganzen jüdischen Volke angelastet. Die Hinwendung Herzls zum politischen Zionismus war das Resultat einer Evolution, in der die Dreyfus-Affäre nur eine Etappe darstellte.

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Alfred Dreyfus. Copyright dpa-Bild |
Graetz will mit dieser Beurteilung die Bedeutung der Dreyfus-Affäre nicht minimalisieren. Er meint sogar leicht sarkastisch: Wenn es diese Affäre nicht gegeben hätte, dann hätte man sie — im Sinne der frühen Zionisten — erfinden müssen. Sie bündelte eine zentrale Frage der zionistischen Ideologien. Sie hatte eine dramatische Beweiskraft für eine zentrale These der zionistischen Ideologie: Auch der extrem assimilierte Jude hat keine Aussicht, dem kollektiven Schicksal seines Volkes zu entkommen. In irgendeinem Stadium kann jedem Juden in der Diaspora seine Religionszugehörigkeit zum Verhängnis werden. Sogar der erfolgreiche Jude, ein Mann wie Alfred Dreyfus, der Karriere in der Armee gemacht hatte, und seine Familienmitglieder, die zu den reichen Industriellen des Elsaß gehörten, konnten in den Strudel der Verleumdung, Ehrlosigkeit und Verurteilung hineingerissen werden.
Kein anderes Beispiel war so geeignet, die Notwendigkeit, ja Unausweichlichkeit des Zionismus zu zeigen.
4. Der jüdische und der allgemeine Aspekt
Der Dreyfus-Prozeß war nicht nur eine die Juden betreffende antisemitische Veranstaltung. Er legte auch allgemeine gesellschaftliche Probleme von Recht und Gerechtigkeit bloß. Auch dies ist für Graetzens Argumentation wichtig. Der Prozeß zeigte die Schwachstellen zwischen Staat und Bürgern, zwischen parlamentarischer Demokratie und Militär und zwischen liberalen und extrem nationalistischen Strömungen im französischen Staat. Die Zionisten des „fin de siècle“ wollten sich aber kaum mit diesen weitgreifenden Problemen im Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre befassen. Max Nordau wiederholte z. B. in seinen Reden immer wieder, daß für die Zionisten nur der Antisemitismus an der Dreyfus-Affäre wichtig sei. Alle anderen Aspekte seien Sache der Franzosen. Auch der Vater des sozialistischen Zionismus, Nachman Syrkin (1868-1924), hob den Antisemitismus-Aspekt hervor. Er beschuldigte die französischen Sozialisten, sie hätten bei der Dreyfus-Affäre eine opportunistische Haltung eingenommen, weil es auch ihnen um machtpolitische Überlegungen gegangen sei.
Die Zionisten der Jahrhundertwende waren nicht in der Lage, den Dreyfus-Prozeß in seiner ganzen Breite zu berücksichtigen. Als nationale Befreiungsbewegung der Juden befand sich der Zionismus damals im ersten Entwicklungsstadium. Damit standen für ihn partikularistische Aspekte im Vordergrund. Erst nach der Gründung des Staates Israel hat sich die Optik geweitet, so daß heute auch universalistische Aspekte von Recht und Gerechtigkeit der modernen Nationalstaaten ins Bild kommen.
5. Destruktiver Antisemitismus und konstruktiver Zionismus
Die Dreyfus-Affäre war für die Zionisten im Grunde nur ein Erinnerungselement. Eine Erinnerung für sich allein kann aber eine politische Bewegung weder gründen noch zusammenhalten. Außerdem war der Antisemitismus damals — und ist dies auch heute noch — eine Kraft der Aggression, der Zersetzung und der Zerstörung. Als destruktive Erscheinung konnte und kann der Judenhaß keine nationale Bewegung aufbauen. Der damalige Antisemitismus konnte höchstens Denkprozesse in Richtung Zionismus anregen. Aber der Plan für einen Judenstaat und die damit verbundenen politischen und gesellschaftlichen Grundsätze und Ziele konnten nur aus den aufbauenden Motiven der geistig-religiösen Quellen des Judentums und aus der Mitte der jüdischen Gesellschaft geschöpft werden.
6. Eine junge Elite
Weshalb denn — fragt Graetz — konnte sich der Zionismus zu einer politischen und geistigen Bewegung entwickeln, wenn der Dreyfus-Prozeß dafür nicht mehr als ein Erinnerungselement war? Graetz antwortet darauf so: Verschiedene Gruppen von jüdischen Intellektuellen Osteuropas eröffneten diese Möglichkeit. Viele junge Juden aus Rußland, Polen und dem Baltikum studierten damals im Westen: in Wien, Freiburg i. Br., Lausanne, Heidelberg etc. Als sogenannte „Chowewei Zion“ waren sie schon Zionisten, bevor Herzl mit der Dreyfus-Affäre befaßt war. Sie entwickelten ihren Zionismus sowohl auf Grund der Pogrome im Rußland der Zaren als auch — noch weit mehr — auf Grund ihrer geistig-kulturellen Wurzeln im Judentum. Das Judentum, wie sie es verstanden, befähigte diese Studierenden, der zionistischen Bewegung von Anfang an konkrete Inhalte zu geben, die kein antisemitisches Ereignis hergeben konnte. Chaim Weizmann (1874-1952), Leo Motzkin (1867-1933) und Martin Buber (1878-1965) gehörten schon vor der Jahrhundertwende zur geistig führenden jüdischen Studentenelite. Sie standen unter dem entscheidenden Einfluß von Achad Haam (1856-1927; ursprünglicher Name: Ascher Ginsberg), dem Vertreter par excellence des „Kulturzionismus“.
Was die Dreyfus-Affäre nicht zustande bringen konnte, gelang den jungen Leuten aus dem europäischen Osten. Sie waren von der jüdischen Tradition und vom dortigen soziokulturellen Rahmen geprägt und konnten dem Zionismus politische und inhaltliche Motive und Impulse geben. Mit Recht konnte daher der Jewish Chronicle, der über den ersten Zionistenkongreß in Basel 1897 berichtete, schreiben: „Es sieht so aus, als ob die überwiegend osteuropäischen Delegierten, in ihrer Mehrheit junge Leute, nicht zum Kongreß Herzls gekommen sind, sondern daß Herzl zum Kongreß der jungen osteuropäischen Zionisten gekommen ist.“
Mit seinem Vortrag in Jerusalem hat Michael Graetz neue Perspektiven zur Erforschung des politischen Zionismus eröffnet. Dieser gehört zu den wichtigsten Bewegungen des 19./20. Jahrhunderts. Ohne den politischen Zionismus hätte der Staat Israel nicht entstehen können. Auch die Geschichte Europas ist von ihm mitgeprägt worden. Gegen den Antisemitismus zur Zeit von Alfred Dreyfus und später im Hitlerreich war der Zionismus schon durch seine bloße Existenz ein grelles, leider zu spät gehörtes Warnzeichen. Aus allen diesen Gründen verdient der Forschungsbeitrag von Michael Graetz hohe Beachtung. Dies gilt nicht nur für die jetzt stattfindenden Hundertjahr-Gedenkveranstaltungen zur Dreyfus-Affäre und auch nicht nur für die nächsten Jahre, da die Centenarfeier des ersten Zionistenkongresses von Basel (1897) auf uns zukommt. Zurechtgerückte Geschichtsbilder helfen vielmehr auf die Dauer weiter, wenn es darum geht, Verständnis für unsere jetzige, von der Geschichte bereitete Lebenssituation zu bekommen.
Jahrgang 2/1995 Seite 81