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Ehrlich, Leonard H.

Fraglichkeit der jüdischen Existenz

Philosophische Untersuchungen zum modernen Schicksal der Juden. Verlag Karl Alber, Freiburg/München 1993. 363 Seiten.

Das Buch des jüdischen Philosophen entstand aus Vorlesungen im Rahmen von Gastprofessuren in Kassel, Mainz und Freiburg und aus Vorträgen an anderen Orten. Mit „Fraglichkeit der jüdischen Existenz“ ist die Frage gemeint: Was konnte und könnte die jüdische Existenz in Frage stellen? Die Fraglichkeit jüdischer Existenz ist insofern ein Phänomen des Judentums, als in dasselbe „die Moderne“ eingebrochen ist. „Die Moderne als solche stellt das Judesein in Frage, d. h. nicht nur, indem gesellschaftliche Bewegungen und politische Entwicklungen dem Juden seine Existenz bewußt, mitunter sogar programmatisch strittig machen, sondern auch, und vielleicht insbesondere, indem die Moderne als die Bedingung irgendeiner Existenz überhaupt gilt, so auch die eines Juden“ (15). Es geht um „das Phänomen der fraglichen Möglichkeit und doch unentrinnbaren Notwendigkeit, in der modernen Welt als Jude zu gelten“ (22). Nach Ehrlich sind es Aufklärung, Emanzipation und Assimilation, die „auf je eigene Art und Weise auf die Fraglichkeit jüdischer Existenz“ weisen (29). Denn diese drei Bewegungen erschweren und gefährden genuine jüdische Existenz, so daß der Jude sich vor die Aufgabe gestellt sieht, sein Judesein trotz dieser Gefährdungen der jüdischen Identität durchzustehen, zumal sich zeigte, daß die Moderne als „unentbehrliches Geleise eines Lebens in unserer Zeit überhaupt“ das eigentliche Jude-Sein „ins Unerhebliche, ins Irrelevante, ins Altmodische, ins zeitweise Rituelle und Lippenbekenntnishafte, . . . ins Störende und Fremdartige und unberechenbar Unmodische“ (109) zu verdrängen drohte.

Ehrlich fragt: Was ist denn das, was Substanz, Wesen und Geltung des Judentums ausmacht? Er verweist in seiner Antwort auf das uralte Selbst-Verständnis des Judentums als „'Am Jisrael“ (73); auf „die unbedingte Beziehung zu Gott als Seinsgrund“ (75); auf „das Bewußtsein des Auserwähltseins“ (76), das mit der Zeit „in ein Bewußtsein der Verheißung der Erlösung und ein Bewußtsein dessen, daß das jüdische Volk in der erwarteten Erlösung eine besondere Rolle hat“ mündete (77); auf das Leben nach der Halacha. „Die Lebensbedingungen der Moderne haben aber dieses Jude-Sein faktisch und zum Teil auch radikal, seiner Möglichkeit nach, in Frage gestellt“ (ebd.). Männer wie Moses Mendelssohn und Franz Rosenzweig u. a. haben je auf ihre Weise versucht, dieses In-Frage-Stellen der jüdischen Existenz zu überwinden (dazu 22 f. ; 89-100). Ehrlich kommt dann ausführlich auf die „Problematik der Zerstörung und Vernichtung“ des europäischen Judentums in der Schoa, die ja die härteste und radikalste In-Frage-Stellung des Judentums war, und ihre Vorgeschichte zu sprechen (113-321).

Einige Sätze aus diesem Großabschnitt des Buches:

„Diesen bitteren und bedrückenden Schicksalsschlag der Juden zu vergessen ist der Ansatz zur Unmenschlichkeit; seiner eingedenk zu sein die Chance der Menschlichkeit“ (130).

„Denn daß die Zerstörung keinen Sinn hatte, entgegen allem Sinn war, Sinn selbst zerstörte, dürfte sich aus der Reflexion über die ungeheuerlichen Tatsachen ergeben“ (131).

„Der Sog von Auschwitz zog nicht nur das naive Gottesbekenntnis mit sich, sondern auch alles, was bisher doktrinal oder metaphysisch als Theodizee erdacht wurde“ (219).

„Auschwitz bedeutet einen tiefen Einschnitt in der Geschichte der Juden, und dieser bestimmt das jüdische Bewußtsein“ (228) nach Auschwitz, besonders das Gottesbewußtsein des Juden, das ihn seit den Zeiten Abrahams begleitet hat, das aber durch die Schoa in Frage gestellt ist. „Besteht eine Aufgabe der Juden angesichts der Sinnfrage, dann die, die Sinnlosigkeit der Zerstörung und der Vernichtung zu vertiefen und sein Gottesbewußtsein mit ihr zu verflechten. Von nun an kein Jude-Sein ohne Erinnerung an Auschwitz, kein jüdisches Gottesbewußtsein ohne diese Erinnerung“ (237).

„. . . die Erinnerung an die Vernichtung wird wohl so lange wach sein und so lange unter den Menschen wach gehalten werden, als es Juden gibt“ (293).

Der dritte Abschnitt des Buchs trägt die Überschrift: Problematik der Politisierung. In ihm geht es naturgemäß um den Staat Israel als „die zentrale Manifestation und das vornehmliche Instrument des jüdischen Willens, angesichts der Gefahren der Moderne das Fortbestehen des Judentums zu gewährleisten“ (336). Auch in diesem Abschnitt kommt Ehrlich nochmals auf das Gottesbewußtsein des Juden nach Auschwitz und auf sein Ethos zu sprechen und bestimmt dieses als ein Ethos der „Auflehnung gegen Gott, den Gott, der sich angesichts von Auschwitz in Schweigen gehüllt hat“ (354), und den doch der Jude nicht vergessen und vor dem er nicht fliehen darf. „Aber eines weiß ich: sich von Gott dadurch abzuwenden, daß man aufhört, Jude zu sein, ist keine der Frage [wo war Gott in Auschwitz?] angemessene Antwort. Ganz im Gegenteil: die Frage muß erhalten bleiben, und das kann sie nur, indem sie als jüdische Frage gestellt wird. Auch in diesem Sinne kann das Judentum keinen Juden entbehren, alle sind unentbehrlich, auch um diese Frage aufrechtzuerhalten“ (327). Und so ist letztlich „die Grundstimmung der jüdischen Selbstbehauptung“, wie sie sich auch in der Existenz eines Staates Israel manifestiert, „ein bewußtes ,Nein‘ zum Nichts der Vernichtung“ (354).

Es sei dem Lehrer des Neuen Testaments am Ende erlaubt, eine kritische Bemerkung anzubringen. Ehrlich meint, „der Evangelist Johannes war ein hellenisierender Jude“ (343), unter Hinweis auf den Logosbegriff im Johannes-Prolog. Der Kontext desselben läßt eindeutig erkennen, daß wir in ihm die Christologisierung der jüdischen Sapientialtheologie und Toralogie vor uns haben, was nichts mit „Hellenisierung“ zu tun hat.

L. H. Ehrlich hat ein Buch geschrieben, von dem niemand, der sich ernsthaft mit der jüdischen Existenz in der „Moderne“ beschäftigt, absehen sollte. Seine Gedanken sind profund; es hilft dem Christen, mit dem Juden zusammen die „Erinnerung“ an das furchtbare Geschehen der Schoa zu pflegen.

Franz Mußner


Jahrgang 2/1995 Seite 126



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