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Greve, Ludwig

Wo gehörte ich hin?

Geschichte einer Jugend. S. Fischer Verlag, Frankfurt 1994. 196 Seiten.

Diese Frage, Ludwig Greve stellt sie in seiner Geschichte einer Jugend, einer jüdischen Jugend in der Nazizeit in Deutschland, stellen wir uns wohl alle, die wir in dieser Zeit als junge Juden oder Halbjuden aufwuchsen, d. h. solche, die in der säkularen Welt der assimilierten jüdischen Familien lebten und dann jäh herausgerissen wurden in eine fremde Welt, in der man nicht mehr zu denen gehören durfte, zu denen man gehörte, um zu denen zu gehören, zu denen man eigentlich nicht gehörte. Solche Kinder wuchsen meistens auf, ohne ihre Religion zu praktizieren oder auch nur zu kennen, behütet von christlichem Hauspersonal, das mit ihnen abends die üblichen Kindergebete betete und sie wohl auch mit in ihre Kirche nahm.

Ludwig Greve erzählt von den schönen Weihnachtsfeiern mit selbstgebastelten Geschenken für die Eltern, zusammen mit dem geliebten Hausmädchen Mimi. Dieses Weihnachten war so selbstverständlich und wichtig für den Buben Ludwig und seine kleine Schwester Evelyne, daß er nach dem Ausschluß aus der „normalen“ Staatsschule in der ziemlich improvisierten neuen jüdischen Schule das für ihn neue Chanukka für sich und seine Freunde in Weihnukka umbenannte, weil er es so besser in seine kindliche Erfahrungswelt einordnen und sich eine Art Kontinuität schaffen konnte. So leicht und mit Phantasie und Pragmatismus versuchten diese Kinder, ihr neues Leben zu meistern. Wäre ihnen das nicht geglückt, wären sie unter den sich täglich verändernden und immer bedrohlicher werdenden Umständen zerbrochen.

Ludwig Greve beschreibt seine Jugend ganz aus der Sicht des Berliner Jungen von damals mit allen Lausbübereien und auch den Schwierigkeiten mit den Eltern, die jedes Kind hat. Es ist tröstlich zu lesen, daß sogar das so mühsame und oft gefährliche Leben in Berlin vom Kind mit Aufmerksamkeit für Lustiges und Interessantes vor sich geht.

Die Irrfahrt auf dem Schiff St. Louis während der geplanten Auswanderung nach Kuba, wo sie nicht landen dürfen und das Schiff wieder Kurs zurück nach Deutschland nimmt und schließlich doch noch vorher in Boulogne landet, das improvisierte Warten dort auf die Verteilung in irgendwelche Unterkünfte in Frankreich ist höchst aufregend und abenteuerlich für das aufgeweckte Kind. Auf der Flucht aus Frankreich in Italien fallen sein Vater und die kleine Schwester der SS in die Hände. Er wird sie nie mehr sehen. Wie schmerzlich dieser Verlust für Ludwig Greve ist, kann man nur aus dem fast beiläufigen Understatement ermessen, denn er deutet alles, was unerträglichen Kummer und Trauer macht, nur an, um ja kein Mitleid zu erwecken und sich ein Sonderschicksal zuzulegen. Dafür ist seine Bescheidenheit und sein Takt zu groß — sein Erzählstil entspricht dieser Haltung vollkommen.

Die Erinnerung hält zwei an sich unscheinbare Erlebnisse fest, die genau der These Tzvetan Todorovs über die Taten der Sorge entsprechen. Greve konnte das Buch Todorovs „Angesichts des Äußersten“ nicht kennen, war er doch bei dessen Erscheinen schon tot. Todorov bezeichnet die Taten der Sorge als höchste Tugend, nämlich das selbstlose Einstehen eines Menschen für einen anderen, ohne Rücksicht auf Lohn oder Anerkennung. Todorov bemerkt richtig, daß solche Taten lebensrettend sein können und nicht einmal schlimme Folgen für den Sorgenden nach sich ziehen (müssen).

Greve beschreibt, wie die geliebte Mimi ganz selbstverständlich bei ihnen zu Hause auftaucht, als die SS den Vater ins Konzentrationslager holt und dann noch einmal, als die Habe der Familie vor der Auswanderung von den Nazibehörden ein- und abgeschätzt wurde. Durch die Anwesenheit dieser tapferen „Arierin“ war wenigstens der minimale Respekt der Nazis gegenüber dieser jüdischen Familie gewahrt worden. Greve hat es ihr nie vergessen und nach dem Krieg gedankt, auch mit diesem Buch.

Die Geschichte einer Jugend ist leider Fragment geblieben, weil der Verfasser, Leiter der Bibliothek des Marbacher Literaturarchivs, erst 66jährig 1991 in der Nordsee beim Schwimmen ertrank.

Als quasi zweites Kapitel lesen wir den Brief an einen katholischen italienischen Priester, der auf ebenso bescheidene wie effiziente Weise dem Jungen auf der Flucht in höchster Not half und sein Freund wurde. In diesem Brief steht ein Satz, der wohl vielen von uns vertraut vorkommen mag. Ludwig kennt den jungen Priester nicht, der ihm helfen will; sofort kommt die von außen gesehen abweisende, schroffe Abwehr: Glauben Sie ja nicht, daß wir deswegen konvertieren werden! Das ist die typische Reaktion des stolzen und verletzlichen „underdog“. Welche Erleichterung und welches Aufwallen der wirklichen Dankbarkeit nach der Versicherung, daß keine Gegenleistung für die Hilfe verlangt wird, daß man hilft um zu helfen.

Greves Sprache ist unverwechselbar seine eigene; sie ist nicht immer Dudenkonform, doch immer genau richtig, denn sein Sprachgefühl ist untrüglich. Wer seine Gedichte kennt, kennt den Zauber seiner Sprache. Er ist einer, der um den Wert des Lebens weiß, um das Hochgefühl einer sportlichen Leistung, eines hellen leuchtenden Tages und um die Freundschaft, aber auch um die dem — allem — Leben innewohnende Trauer. Das verwebt er in seiner Geschichte einer Jugend und im Brief an den Priester-Freund ohne Pathos, aber mit Empathie.

Was für ein Verlust für uns, daß er seine Geschichte nicht fertigschreiben konnte.

Der Freund Reinhard Tgahrt hat das Buch einfühlsam aus dem Typoskript zusammengestellt und herausgegeben und ein Nachwort beigefügt, das nicht nur Ludwig Greve, sondern auch ihm selber zur Ehre gereicht.

Eva Auf der Maur


Jahrgang 2/1995 Seite 129



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