Quaestiones disputatae 129. Herder, Freiburg/Basel/ Wien 1991. 245 Seiten.
Der Band enthält die Vorträge, die auf einem Kolloquium in Siegen im November 1989 gehalten wurden. Seine Beiträge befassen sich mit einem aktuellen und zugleich fundamentalen Problem, das sich dem Christenturn, aber auch dem Judentum und dem Islam stellt. Es ist die Frage, ob es für die heutige Theologie und damit für heutige religiöse Lebenspraxis nur die ruinöse Alternative zwischen neuzeitlicher kritischer Rationalität und einem religiösen Fundamentalismus gibt. Jener lehnt durchaus im Bewußtsein der Fallibilität der Vernunft alle Wahrheitsansprüche der Offenbarung als Illusion ab und bestreitet, daß es für ein kritisches zeitgemäßes Ethos der Wahrheitssuche letzte Gewißheiten geben kann. Dieser leitet alle religiöse Sicherheit aus göttlicher Offenbarung ab, die als irrtumsfreie Mitteilung Gottes gegenüber menschlicher Vernunft und Skepsis allein Vertrauen verdient.
In diesem Band wird dieses Problem auf hohem Niveau und mit vielen Facetten diskutiert. Aus der Sicht der Fundamentaltheologie zeigt vor allem der Herausgeber Jürgen Werbick, daß neuscholastische Offenbarungsmodelle dem fundamentalistischen Denken in der Kirche Vorschub geleistet haben und durch ein anderes, an der Bibel orientiertes Modell abgelöst werden müssen. Danach darf die Wahrheit der Offenbarung nicht primär als göttliche Information verstanden werden, die von Generation zu Generation als identische Nachricht weiterzugeben sei, sondern als Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus, in dem sich Gott zu verstehen gegeben hat. Dieses kommunikativ-partizipative Offenbarungsverständnis, das aus der Faszination eines Weges in den Spuren Jesu Christi lebt, bedarf auch der ständigen Rückbesinnung auf den historischen Ursprung und fordert deshalb die historisch-kritische Exegese geradezu heraus, ohne sie zu fürchten. Für das christlich-jüdische Gespräch kann dieser Ansatz ergiebig sein, wiewohl der jüdische Ursprung Jesu und der Kirche und die Reflexion auf den Gott Israels nur punktuell angesprochen werden. Eine weitere Entfaltung dieses Konzepts im Hinblick auf das Erste Testament, auf Israel und das Judentum wäre wünschenswert, erscheint aber leistbar.
Margret Peek-Horn kommt in ihren Beobachtungen an der Bet-El-Geschichte (Gen 28,10-22) zu dem Ergebnis, daß fundamentalistische Positionen der Bibelerklärung die Aktualität der Bibel aus dem Auge verlieren. Man vergäße den lebendigen, freien Gott, wenn man ihn zum Wahr-Sager und zur Auskunftei irrtumsfreier Erkenntnisse machte. — Ingo Broer zeigt auf, daß das paulinische Offenbarungsverständnis mit einer fundamentalistischen Bibelhermeneutik nicht erfaßt werden kann, da dialogische Komponenten bei Paulus unverkennbar seien und weil die Situation darüber entscheidet, was Paulus jeweils der Offenbarung entnimmt und wie er sie versteht. Danach setzt auch Paulus in seinem Offenbarungsverständnis nicht einfach zeitlose Inhalte voraus.
Der Beitrag von Johann Maier über den Offenbarungsbegriff des Judentums in der Antike mit kritischem Ausblick auf fundamentalistische Strömungen im heutigen Judentum und auch in der Politik des Staates Israel beeindruckt ebenso durch die hohe Sachkompetenz, die nüchterne Darstellung und das kritische Urteil.
Vergleichbar in Anspruch und Qualität ist auch der Beitrag von Hans Zirker über Offenbarung, Endgültigkeitsansprüche und Fundamentalismus im Islam und im Christentum. Zirker stützt sich hier auf seine wichtigen Publikationen zu diesem Thema, die eindrücklich die Konkurrenz zweier Absolutheitsansprüche beschreiben und für das Christentum theologische Lösungen dieses Grundproblems andeuten.
Schließlich zeigt Hans Reinhard Seeliger in einer kirchengeschichtlichen Betrachtung auf, wie kompliziert und differenziert die Entwicklung des Offenbarungsbegriffs um 200 in der Kirche war. Eine zeitgeschichtliche Nachbemerkung beschreibt die seltsamen Blüten von speziellen oder privaten Offenbarungen, die es auch im 20. Jahrhundert in großer Fülle gibt, z. B. im Heimholungswerk oder bei den vielen Marienerscheinungen.
Der Band setzt sich intensiv mit einem Grundproblem der heutigen Theologie auseinander. Wenn er sich auch nicht in jedem Beitrag direkt auf das christlich-jüdische Gespräch bezieht, so bietet er doch für dieses viele Transfer-Möglichkeiten, wenn er historische Entwicklungen des christlichen und jüdischen Offenbarungsverständnisses aufzeigt, fundamentalistische Versuchungen abweist, theologische Infragestellungen der Offenbarung nicht verdrängt und neue Ansätze zu einem Offenbarungsverständnis ohne fundamentalistische Verengung erarbeitet. Ob letztere Chancen der Akzeptanz in Theologie und Lebenspraxis haben, sei hier nur vorsichtig angefragt. Es wäre wünschenswert und notwendig.
Werner Trutwin
Jahrgang 2/1995 Seite 143