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Wiesel, Elie

Noah oder Ein neuer Anfang

Biblische Portraits. Herder, Freiburg/Basel/Wien 1994. 200 Seiten.

„Noah oder Ein neuer Anfang“, das ist das neueste Buch des jüdischen Schriftstellers und Friedensnobelpreisträgers Elie Wiesel in deutscher Sprache. Wie in seinem bereits 1975 erschienenen Buch „Adam oder das Geheimnis des Anfangs“ beschäftigt sich Wiesel wiederum mit Gestalten aus der Bibel. Diesesmal werden Noah, Jiftach und seine Tochter, Rut, die Söhne Davids, Ezechiel, Daniel, Nehemia, Esra und Ester unter die Lupe genommen. Elie Wiesel gelingt es dabei erneut, neue oder alte Aspekte überraschend neu zur Sprache zu bringen. Getragen von der Tradition des Talmud und des Midrasch ist keiner der auserwählten biblischen Gestalten fraglos gut oder fraglos böse. In jeder Person spiegeln sich vielmehr die unterschiedlichsten Charakterzüge wider, und die verschiedensten Weisen, mit Gott oder den Menschen zu kommunizieren, werden deutlich. An jede Person stellt Wiesel existentielle Fragen und sucht Antworten aus ihrem Leben, wie es in der Bibel, im Talmud, im Midrasch, in Erzählungen und Legenden der jüdischen Tradition beschrieben wird. Somit entstehen Geschichten zwischen Gott und den Menschen, in denen sich die Geschichte der Juden und aller Menschen bis heute reflektieren lassen. Elie Wiesel betreibt keine Exegese im streng wissenschaftlichen Sinn, aber er erzählt die Geschichten neu, fragt an und gibt Antworten, so daß der tiefere Sinn und die Wahrheit der einzelnen Bibelstellen griffig und greifbar werden. Dadurch, daß Wiesel jede Frage zuläßt, niemanden mit seinen Fragen schont, auch nicht oder gerade nicht Gott selbst, erhalten seine Erklärungen eine Spannung und Dynamik, die den Leser selbst immer wieder ins Grübeln und Nachdenken bringen. Ob dabei eine Person oder ein Ereignis mehr der Legende zuzurechnen ist oder als historisch zu gelten hat, ist für Wiesel zweitrangig. Bei Noah etwa geht es ihm nicht um die Frage, ob hier von einem historischen Ereignis berichtet wird, er möchte wissen: War der Gehorsam Noahs gegenüber Gott nicht seine größte Sünde? Hätte er nicht rebellieren sollen, um Gott zu überreden, die Sintflut nicht eintreten zu lassen. Ezechiel ist für ihn nicht nur der genialste unter den Propheten, er muß sich auch den Vorwurf gefallen lassen, einen Fehler gemacht zu haben, weil er ein Geheimnis nicht für sich behalten hat. Und in der Geschichte von Ester stellt er die Frage, warum in dieser Geschichte des jüdischen Sieges Gott selbst nicht vorkommt. Allen Protagonisten gemeinsam ist ihre große Bedeutung für die jüdische Geschichte bis zum heutigen Tag. In allen Portraits spiegelt sich die jüdische Erfahrung und das jüdische Schicksal: Genialität und Katastrophe, Sieg und Niederlage, besinnungsloser Jubel, ständiges Bewußtsein von Verfolgung und Haß. Elie Wiesel ist auch mit diesem Buch ein Meisterwerk gelungen, in dem nicht nur deutlich wird, wie tief verwurzelt er in seiner jüdischen Tradition lebt, sondern in dem er spürbar macht, mit welcher Intensität er selbst um den Glauben ringt und auf der Suche nach Antworten ist.

Herbert Winklehner


Jahrgang 2/1995 Seite 145



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