Originalausgabe: Wartime Lies. Alfred A. Knopf, New York 1991. Übersetzt von Christa Krüger. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1994. 223 Seiten.
Da schreibt einer mit 60 Jahren seinen ersten Roman — ein kostbares kleines Meisterwerk.
Louis Begley hat nicht vergessen, wie es war, als er ein Kind war, ein jüdisches Kind in Polen zwischen 1933 und 1945. Er erzählt mit den Worten eines Kindes, eines gescheiten und aufgeweckten, lebhaften Kindes. Der Erwachsene, der sich erinnert, mischt sich nicht ein, überläßt dem Kind das Berichten. Seine erwachsenen Überlegungen fügt er durch Kursivdruck abgehoben ein. Es sind Reflexionen über Sünde und Sünder in Dantes Inferno. Der Autor hat in Harvard Recht und Literatur studiert und ist Rechtsanwalt in New York.
So wie das Kind Maciek seine Erlebnisse erzählt, wird nichts verfälscht, nichts ausgelassen, alle Schrecken dieser furchtbaren Zeit werden durchlebt — aber eben in der Erfahrung eines sechs- bis zwölfjährigen kleinen Buben. Das Grauen schnürt einem manchmal die Kehle zu, und doch bleibt der Bub ein Bub, nichts Altkluges oder vom heutigen Mann in das Kind projizierte Gedanken stören, oft blitzt der Humor auf.
Maciek ist in der Obhut einer bildhübschen, sehr gescheiten, lebensklugen Tante mit einem großartigen Überlebenswillen, die jede sich bietende Möglichkeit des Entkommens zu nützen versteht und immer wieder Freunde und Helfer findet, dank ihres Charmes und ihrer Intelligenz. Sie setzt sich über die übliche Moral souverän hinweg, hat einen menschlichen SS-Mann zum Freund, der ihr Unterschlupf bietet, sich um ihre alten Eltern kümmert und dem Buben, der jetzt gut polnisch Janek heißt, gutes Deutsch beibringt. Er bezahlt seine Menschlichkeit mit dem Leben. Es ist Tanja egal, daß die Leute sie als Nazihure betrachten, ihr einziges Ziel ist, sich, das Kind und, wo immer möglich, den alten Vater bis nach dem Krieg zu retten. Tanja kommt aus einer sehr begüterten jüdischen Familie, war verwöhnt und eine „Intellektuelle“, ist sich aber nicht zu gut, als Bauernmagd und Wodka-Schwarzhändlerin zu arbeiten.
Diese Frau muß man einfach bewundern und lieben, so wie sie Maciek/Janek liebt. Er liebt ihre Eleganz und Schönheit, wenn sie elegant sein darf oder auch aus überlebensstrategischen Gründen sein muß. Er spürt seine kindliche Sinnlichkeit, wenn er sich in dem einzigen Bett, das sie jahrelang teilen müssen, an sie kuschelt. Nichts ist schwül, alles ist natürlich, wahrhaftig und sehr zart. Das große Problem in all den Jahren ist Janeks beschnittener Penis, den der mit falschen Papieren ausgestattete Bub unter keinen Umständen fremden Blicken aussetzen darf, was unter den oft zusammengepferchten Lebensbedingungen gar nicht leicht zu bewerkstelligen ist. Und Janek ist ja nun katholisch, er hat sogar die Erstkommunion gefeiert. Dieses ganze Leben beruht auf Lügen, lebensrettenden Lügen, die absolut gelernt und verinnerlicht werden müssen. Wie schwierig ist es da, ein Mensch zu werden. Der Autor, der seine Kindheit nach 50 Jahren auftauchen läßt, stellt sich diese Frage auch. Für sich selber jedenfalls hat er den Beweis erbracht, daß auch unter grauenhaften Umständen einer ein Mensch im besten Sinn werden und bleiben kann. Wir warten voll Hoffnung auf weitere Bücher dieses großartigen Erzählers.
Eva Auf der Maur
Jahrgang 2/1995 Seite 213