Jüdische Kinder 1940-1944. Dietz Verlag, Bonn 1994. 264 Seiten.
Raphaël Delpard wurde 1943 als einjähriges Kind von seinen Eltern getrennt und vor den Nazis versteckt. Fast 50 Jahre später nimmt er Kontakt mit rund 70 Frauen und Männern aus Frankreich, Belgien, der Schweiz und den USA auf, die als jüdische Kinder das gleiche Schicksal erlitten haben. Delpard läßt sie ihre Erlebnisse schildern, er hört ihnen zu, fragt nach. Eine Zusammenfassung seiner Gespräche liegt in diesem Buch vor. Darüber nach dem Lesen eine Kritik zu schreiben, ist fast nicht möglich. Die erschütternden Zeugnisse von Simon, Annette, Jacques, Fanny, Sarah usw. usw. machen plötzlich alle weiteren Worte überflüssig. Zeile für Zeile wird man durch diese Zeugnisse an die Kindergedenkstätte von Yad Vashem in Jerusalem erinnert, wo inmitten einer dunklen Halle eine Kerze brennt, dessen Licht in tausende kleine Funken gebrochen wird. Jedes Kind, das seine Geschichte erzählt, spricht für 1,5 Millionen andere Kinder, die heute ihre Geschichte nicht mehr erzählen können, weil sie in der nazideutschen Vernichtungsmaschinerie ermordet wurden. So schreibt auch Delpard: „Trotz der bewundernswerten Solidarität Einzelner, die Kinder retteten und trotz des tapferen Widerstands von protestantischen, katholischen, kommunistischen und jüdischen Organisationen sowie den Gruppen des bewaffneten Widerstands, wurden noch eine Million und fünfhunderttausend jüdische Kinder verhaftet und in die Konzentrationslager deportiert. Sie starben an Hunger, Entkräftung und in den Gaskammern. Es blieb ihnen nichts erspart. Mit derselben Brutalität wie die Erwachsenen wurden sie unter Tritten, Prügeln mit Gewehrkolben und Peitschenhieben in die Viehwaggons getrieben. Und drinnen blieben sie genau wie die Erwachsenen mit Stroh auf dem Boden, ohne Trinkwasser und mit mangelhafter Luftzufuhr oft mehrere Tage und Nächte eingesperrt, bis zur Ankunft in den Todeslagern.“ Die anderen Kinder, die die „Befreiung“ erlebten und ihre Geschichte erzählen können, leiden heute noch unter dem Trauma ihrer Erlebnisse, den Ängsten, der Trennung von ihren Eltern, die sie nie wieder sahen, der verlorenen Kindheit. Rosette erzählt z. B.: „Alle meinten, ich habe ja noch Glück gehabt, daß ich am Leben geblieben wäre, schließlich waren so viele umgekommen. Ich hatte nicht das Gefühl von Glück, am Leben zu sein. Ich war vierzehn Jahre alt und konnte kaum lesen und schreiben. In meiner Niedergeschlagenheit ging es mir so schlecht, daß ich dachte, am besten bringe ich mich um.“ Delpard dokumentiert in seinen Gesprächen auch dieses Weiterleben der Kinder bis in die Gegenwart, ein Weiterleben, das behindert ist von den unterschiedlichsten Ängsten: „Angst im Dunkeln, Angst vor der Nacht oder vor geschlossenen Räumen . . . Auch bestimmte Geräusche, wie etwa das Schließen einer Tür, Schritte auf einer Treppe oder Sirenengeheul setzen oft enorme Unsicherheitsgefühle frei.“ Auch heute noch, 50 Jahre später! Der letzte Satz dieses Buches ist nicht nur eine Frage, die sich der Autor stellt, sondern die uns alle angehen sollte: „Wo werden wir sein? Was werden wir tun, wenn wieder die Schreie gequälter Kinder ertönen?“
Herbert Winklehner
Jahrgang 2/1995 Seite 217