Das verborgene Matriarchat. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1994. 252 Seiten.
In den 50er Jahren unseres Jahrhunderts entstand in den Vereinigten Staaten durch jüdische Schriftsteller das negative Stereotyp der „Jüdischen Mutter“: die dominante, nörgelnde Frau, die besonders ihre Kinder durch ihre übertriebene Fürsorge und dem stets erhobenen moralischen Zeigefinger unter Druck setzt. Wie konnte dieses Zerrbild jüdischer Mütterlichkeit entstehen? Mit dieser Frage beschäftigt sich R. M. Herweg. In ihrer Analyse zeigt sie die Geschichte der jüdischen Frau und Mutter von der biblischen Zeit bis in die Gegenwart hinein auf. Das Ergebnis ist ein hochinteressantes Werk jüdisch-feministischer Theologie. Anhand biblischer Personen und Texte und anhand der jüdischen Traditionsgeschichte macht sie auf die hohe Bedeutung der Frau und Mutter im Judentum aufmerksam: „Die Mutter ist die Partnerin Gottes, die neues Leben in der Welt gebiert und durch den Akt der Geburt die fortwährende Sorge Gottes für sein Volk bezeugt.“ „Die Mutter . . . ist die praktisch Handelnde, die Realistin und Hüterin des Hauses; sie ist die Quelle der Wärme, der Beistand und die emotionale Resonanz.“ Und schließlich: „Dreh- und Angelpunkt der Familie ist die jüdische Frau und Mutter in einem ,kaum versteckten Matriarchat‘ . . . , die das jüdische Haus als Zentrum religiösen Praktizierens hütet und gestaltet und es so als den traditionellen Ort der ,Heiligung‘ des Lebens bewahrt.“
Gerade der nicht-jüdische Leser erhält eine Fülle an Informationen über die Bedeutung von Ehe, Familie und Sexualität im Judentum und über die Gestaltung, Vorbereitung und Durchführung zahlreicher jüdischer Feste und Bräuche, die — soweit sie zu Hause stattfinden — in der Hauptverantwortung der Frau liegen. Herweg zeichnet das Bild jüdischer Geschichte aus der Sicht der Frau und Mutter, die diese Geschichte bis heute wesentlich mitgetragen und mitgestaltet hat. Daß das Bild der „Jüdischen Mutter“ gerade im amerikanischen Raum in den letzten Jahrzehnten zu einem negativen Klischee wurde, erklärt die Autorin mit dem Verlust einer Vielzahl von sozialen Funktionen, die die Frau im traditionellen Judentum innehatte: „Die Lebensbedingungen innerhalb der modernen, industrialisierten Wohlstandsgesellschaft haben dazu geführt, daß viele ihrer traditionellen Verhaltensmuster und -strategien, die einstmals für das Überleben der jüdischen Gemeinschaft zwingend notwendig waren, plötzlich in weiten Kreisen als sinn- und wertlos empfunden werden.“ Das Schlußplädoyer von Herwig lautet daher: „In dem Maße, wie es gelingt, die verlustiggegangenen Rollen innerhalb der jüdischen Familie wieder — und/oder neu — zu beleben und sie nachlebbar zu gestalten, wird das jüdische Mutterbild eine positive, weil werterhaltende Konnotation erfahren.“ Ihre Analyse über Wert und Stellung der Frau und Mutter in der jüdischen Tradition leistet dazu sicher einen wertvollen Beitrag.
Herbert Winklehner
Jahrgang 2/1995 Seite 226