Eine erkenntnistheologische Studie. Mit einem Vorwort von Hans Waldenfels. Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz 1994. 274 Seiten.
Vorab und zunächst: Dieses Buch setzt Meilensteine für die christlich-jüdische Kommunikation. In den sehr dichten, zugleich genau und einfühlsam austarierten Reflexionen dieser Dissertation wird eine fundamental-theologische Erkenntnislehre vorgelegt, welche die Juden als Subjekte anerkennt, dies auch angesichts von christlichen Theologien, die noch immer so tun, als hätte es Auschwitz nicht gegeben (vgl. 27 das von J. B. Metz formulierte Kriterium für heutige Theologie). Näherhin bestimmt sich das Ziel so: „Präsenz und Fehl der Juden, ihr ,Sein‘ und ,Nichtmehr-Sein‘, so bleibt in dieser Studie nachzuweisen, berühren Theologie in ihrer Mitte, dem Wort von Gottes Heilshandeln in seinem Christus“ (36). Mit Hilfe des methodologisch-epistemologischen Instrumentariums der Loci theologici (1563) Melchior Canos wird dabei erhofft, „die Kontur einer Theologie zu finden, die sich ,substantiell‘ coram Deo et coram Israel vollzieht“ (43, vgl. 54).
Judenhaß von Christen ist eine abgründige Verleugnung Jesu; er trägt mit Schuld an der Schoa (102, vgl. 27). Doch auch angesichts des Menetekels „Auschwitz“ (vgl. 19) fehlt es noch immer an christlicher Trauerarbeit (30). Im Gegenteil: Die Rezeption von bereits vorliegenden Theologien einer positiven Verhältnisneubestimmung zwischen Christen und Juden, z. B. die „Freiburger Leitlinien zum Lernprozeß Christen Juden“ [1981], erfolgt nur unter großen Widerständen (31 f.); zugleich werden nach wie vor gravierende Negativurteile über die Juden gefällt und weiter tradiert (vgl. etwa 183 u. 185).
Christsein ist wesentlich Zeugesein. Von ihrem Zeugnischarakter her hat christliche „Theologie an einer Form zu arbeiten, in der sich das In-, Mit-und Pro-Israel-Sein ihres Herrn nachvollzieht und eine entsprechende Lebenspraxis der Christen provoziert“ (56). Das ungeheuerliche Geschehen der Schoa stellt sich von daher als radikale Infragestellung christlichen Lebens dar. Als Fazit (132-136) der mit dem Organon der Loci theologici als Topologie durchgeführten Analyse christlicher Theologien ergibt sich: „Im Innern nahezu eines jeden locus theologicus, zumal der christlichen loci proprii, tritt ein jüdischer zutage: als Nächstes und — wenn nicht Fernstes, so doch — bestimmt und hartnäckig Fremdes, Anderes“ (132). Das Jüdische ist allem Christlichen wesentlich inne, ist ihm zutiefst koexistential — gleichsam intimior intimo meo. „Der Genese der Kirche in und aus Israel entspricht die Präsenz der Juden als Subjekte bereits in der Genese der Theologie“ (135). Kirche, Theologie und Glaube bleiben konstitutiv auf Israel verwiesen und gewinnen ihre Identität an und aus Israel. Nach F. -W. Marquardt ist von Jesus her ein lutherisches „totaliter-aliter“ als Verhältnisbestimmung zwischen AT und NT auszuschließen (181). Vielmehr ist die Aufgabe gestellt, eine Christo-logik zu suchen, „in der entgegen den vorherrschenden Traditionen die christologischen Aussagen nicht als Moyens der theologischen Liquidierung der Juden fungieren . . .“ (ebd.). Jedoch bestehen in christlicher Theologie aufgrund antijüdischer Definitionsanmaßungen nach wie vor „tragisch und sündhaft zu nennende Züge“ (235). In den Kirchen findet weitestgehend (noch) keine Trauerarbeit statt (vgl. 243); stattdessen arbeitet sich christliche Theologie an einem horror vacui, dem Fehlen der Juden ab (so 244 f.). Das Verleugnen des Judeseins Jesu in ihrem Leben und ihrer Lehre durch die Zeugengemeinschaft, die Jesus als ihren Christus bekennt und die zu ihm betet, und das aus diesem Verleugnen resultierende versagte Anerkennen und Achten der Juden als Subjekte führt zu der Frage nach der Authentizität und der Wahrhaftigkeit des christlichen Zeugnisses und der christlichen Rede von Gott überhaupt (vgl. dazu auch die Seite 98 in Anm. 145 genannte bedeutende Monographie von J. Kirchberg, Theologie in der Anrede als Weg zur Verständigung zwischen Juden und Christen, Innsbruck 1991). Nach der Konzilserklärung Nostra aetate Nr. 4 — von Papst Johannes Paul II. als entscheidende Wende im Verhältnis zwischen Christen und Juden gewertet — „steht Israel unverbrüchlich im Bund. Nur im Raum, den der Bogen dieses Bundes aufspannt, kann christliche Theologie nach den Juden und ihrer Bedeutung für die eigene Gottesrede suchen“ (97). Die bleibende Verwiesenheit „der Christen auf die Juden im Stehen vor Gott wiederholt sich im Reden von Gott“ (204).
Andererseits bleibt nach einem sehr gründlichen Durchgang durch die bisherige Praxis und Lehre der Christen sowohl für den Autor als auch für den Leser am Ende eine offene Anfrage — vergleichbar E. Zolas „J‘accuse“ — bestehen. „In diesem Sinn ist hier abschließend zu fragen, ob sich das Wort von Gottes Heil in seinem Christus, das die Theologie, die unter dem Wort steht, auszusprechen hat, nicht gegen sie kehrt und als Wort vom Gericht auf sie zukommt. Tritt der Theologie der in ihrer Rede Bezeugte nicht sub signo temporis als Gegenzeuge, als Zeuge der Anklage entgegen? . . . Das jüdische Non bedingt, daß christliche Theologie auf diese Fragen nicht hinreichend zu antworten weiß. Sie wird die Antworten schuldig bleiben müssen. Und mit den offenen Fragen bleibt sie selbst fraglich. Spricht der, der diese oder ähnliche Fragen stellt, womöglich wie in Mt 25,41 angekündigt: ,Geht weg von mir . . .‘?“ (251 f.).
Zusammenfassend läßt sich festhalten: Es wird Aufgabe aller Disziplinen christlicher Theologie sein, die Ergebnisse dieser Untersuchung von P. Petzel aktiv zu rezipieren und sich entsprechend neu zu formulieren. Der christliche Glaube wird mit Hilfe dieser erkenntnistheologischen Perspektivik seine Mitte neu bedenken und neu formulieren können — in bleibender und nur so Identität stiftender Verwiesenheit auf seinen jüdischen Grund. Es ist das Verdienst des Autors, dieses Beziehungsgefüge sehr überzeugend und mit höchstem fachtheologischen Wissen dargelegt zu haben. Dieses Buch ist Pflichtlektüre für alle, die bereit sind, heute eine glaubwürdige, nicht judenfeindliche Theologie zu formulieren und zu vermitteln.
Georg Bubolz
Jahrgang 2/1995 Seite 227