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Goldschmidt, Hermann Levin, Hrsg. von Willi Goetschel

Werkausgabe in neun Bänden

Passagen Verlag, Wien.

Werke 1: Philosophie als Dialogik. Frühe Schriften. 1992. 290 Seiten.
Werke 2: Das Vermächtnis des deutschen Judentums. 1994. 211 Seiten.
Werke 6: Freiheit für den Widerspruch. 1993. 180 Seiten.

Wer in den späten fünfziger oder sechziger Jahren Interesse an Philosophie oder Theologie oder ein Auge für jüdisches Denken hatte, dem ist der Name Hermann Levin Goldschmidt in guter Erinnerung. Die Zeit, in der etwa Martin Buber die umfangreichen Bände seiner Werkausgabe mit großem Erfolg herausbrachte, in der konfessionell gebundenes Denken intensiv über die eigenen Grenzen hinaussah, in der das Zweite Vatikanische Konzil Räume öffnete usw., war auch für das Werk Hermann Levin Goldschmidts eine gute Zeit. In der Biographie Goldschmidts, die in eigentümlicher Weise durch „Unzeitgemäßheit“ geprägt ist, schien sich hier eine für die Wirkung produktive „Zeitgemäßheit“ aufzutun, die aber — äußerlich gesehen — wieder verging, jedenfalls wenn man etwas äußerlich nach publikumswirksamen Publikationen in größeren Verlagen Ausschau hält.

Die Bibliographie Goldschmidts zeigt allerdings, daß in kleineren Verlagen und weniger auffällig stetig Schriften von ihm erschienen sind. 1984 gab es auch eine Festschrift für den Siebzigjährigen (Wege des Widerspruchs. Bern, Stuttgart 1984). Dennoch war es überraschend, daß 1992 eine große neunbändige Werkausgabe angekündigt wurde, zudem in einem Verlag, dessen Programm sozusagen für aktuellste Tendenzen der „Postmoderne“ steht.

Um diese Überraschung genauer zu formulieren, mag es nicht falsch sein, auf die eigentümliche Spannung von „Zeitgemäßheit“ und „Unzeitgemäßheit“ einzugehen, die ein Kennzeichen von Goldschmidts Werk ist. Das soll etwas genauer verdeutlicht werden, wobei die Vorstellung einer Werkausgabe es wohl auch erlaubt, kurz die Biographie zu rekapitulieren. Der 1914 in Berlin geborene Goldschmidt emigrierte (wenn denn dieses Wort nicht schon verharmlosend ist) 1938 nach Zürich („seine sozusagen zweite Geburt“, sagt der Achtzigjährige von sich). Er promovierte dort in Philosophie bei Eberhard Grisebach mit der Arbeit „Der Nihilismus im Licht einer kritischen Philosophie“ (1951). In Vorlesungen an der Basler und Zürcher Volkshochschule trug Goldschmidt seine Gedanken vor. Erst 1963 — die Schweiz macht dies nicht leicht — erfolgte die formelle Einbürgerung in Zürich; 1969 wird er zum Professor h. c. ernannt. Daß der Achtzigjährige nun sowohl mit einem Kolloquium an der Eidgenössischen Theologischen Hochschule Zürich geehrt wurde (1994) wie auch seine Veröffentlichungen in einer Werkausgabe sammeln kann, ist also ein auf einem langen Wege erreichtes Ergebnis.

Das Kennzeichen der Zeitgemäßheit wird man der genannten Dissertation, die in Band 1 der Werkausgabe abgedruckt ist, nicht absprechen können. Sie ist — dem Stil damaliger Dissertationen entsprechend, aber sehr selbständig wirkend — ein großer Essay über die Nihilismus-Deutung Nietzsches. Die Einleitung ist deutlich: „Gegenstand unserer Untersuchung ist der Nihilismus, ihr Ziel aber ist die Überwindung des Nihilismus.“ Goldschmidt differenziert einen unechten (eine bloß abwertende Prädikation bezeichnenden), den „russischen“ (nur ein „Sturmzeichen“ des heraufkommenden „echten“) und eben den „echten“ Nihilismus Nietzsches, der sich durch „die Totalität seines Anspruchs“ unterscheidet und den ganzen geistigen antik-christlichen Raum bekämpft, aus dem er stammt. Die einzelnen Analysen — im Gefolge Nietzsches — über seine Heraufkunft (Gründe im Christentum, der Aufklärung, den „Wertungen“, der Moral, der Philosophie) bilden einen geistvollen Essay, der auch heute noch zum Nachdenken anregt, wenn auch inzwischen an Nietzsche-Auslegungen kein Mangel ist. Der Hauptteil über das „Wesen des Nihilismus“ nimmt auch auf Martin Heideggers berühmte Freiburger Antrittsvorlesung Bezug und auf die damals wohl noch weniger berühmte Heidegger-Deutung Dolf Sternbergers (Der verstandene Tod, 1934). Für die „frühe“ Heidegger-Rezeption ein interessanter Beleg, auch wenn die nihilistische Deutung aus dessen weiterem Werk zu differenzieren ist. Die „Schlußfolgerung“ lautet hier: „daß es uns vor dem Abgrund des Nihilismus nicht mehr retten kann, im Seienden Wahrheiten zu finden und Weltanschauungsgebäude aufzurichten, weil eben dieses Seiende selbst es ist, das in allen seinen Erscheinungsformen als das Menschliche, Wahre, Gute oder Schöne zweifelhaft und anfechtbar geworden ist . . .“ Nach Goldschmidt führt diese Erkenntnis — wieder mit Nietzsche — notwendig weiter zum Wollen des Nichts. Die folgende Differenzierung der Formen und die Untersuchung der Folgen des Nihilismus führt schon zur Relativierung, indem der Nihilismus als abgeleitete Möglichkeit verstanden wird: „Der Nihilismus ist die Verneinung aller nur möglichen Weltanschauungen, aber in der Form einer Weltanschauung.“ Einer Auseinandersetzung mit Jaspers (positiver) Nietzsche-Deutung führt zur Kritik der Formen der „Überwindung“ des Nihilismus bei Nietzsche (Übermensch, Wille zur Macht, ewige Wiederkehr) und zum Aufweis von deren Hinfälligkeit gegenüber dem eigenen Anspruch. Etwas verwegen findet der heutige Leser wohl den abschließenden Versuch einer „Überwindung“ des Nihilismus auf knapp vier Seiten, der im Grunde nur ein Verweis auf die Philosophie Grisebachs darstellt. Vielleicht ist dies aus heutiger Sicht aber kein Nachteil, da man das Werk jetzt in die Denkgeschichte seines Verfassers einordnen kann, die weitergegangen ist zu einer eigenen Gestalt dialogischer Philosophie, wie sie vor ihm mit charakteristischen Unterschieden— um die bekannten Namen zu nennen— M. Buber, F. Ebner und F. Rosenzweig, aber eben auch E. Grisebach entwickelt hatten, auf den schon M. Buber in seiner Übersicht über die Geschichte des dialogischen Prinzips hingewiesen hat. Die weiteren frühen Arbeiten aus dem ersten Band der Werkausgabe gelten insbesondere den Quellen der dialogischen Philosophie. Sie decken sich zum Teil material mit der „Dialogik“ von 1964. Behandelt werden Feuerbachs auch für Buber grundlegende Intuition, dann aber auch die ersten großen Versuche jüdisch-deutscher „dialogischer“ Philosophie im 20. Jahrhundert: Hermann Cohen und Martin Buber. Hier werden Elemente einer Antwort auf die Nihilismus-Problematik erarbeitet, die heute als Teile eines breiteren Stroms der Philosophie eingeordnet werden können und zu dem auch weitere Denker gehören. Wenn man von „Zeitgemäßheit“ des Werks spricht, so kann man diese bescheinigen: Es lag auf der Linie des Denkens, das bis in die Mitte der sechziger Jahre im deutschsprachigen Raum wirksam war und — von der geistesgeschichtlichen Kurzepoche nach „1968“ abgesehen wie auch durch sie verwandelt — heute wieder im Zentrum des Nachdenkens steht.

Merkwürdigerweise lassen sich dagegen die spezifischen Schriften Goldschmidts zum Judentum — wie auch seine Gründung des jüdischen Lehrhauses — zunächst durchaus mit dem Epitheton der Unzeitgemäßheit belegen: Sein bewußter Versuch, die Traditionen des deutschen Judentums zu interpretieren und weiterzuführen, stand quer zur Zeit: Die physische Vernichtung durch den nationalsozialistischen Staat, die bewußte Hebraisierung aller jüdischen Kultur von israelitischer Seite, wohl auch der vielfältige Zweifel an der Kraft einer Tradition, die einem solchen Geschick nicht hatte wehren können, schienen gegen ihn zu sprechen. Die Schrift über „Das Vermächtnis des deutschen Judentums“ legte die Möglichkeit einer solchen Weiterführung aus einer geschichtlichen Betrachtung dar. Die drei früheren Auflagen von 1957-1965 zeigen, daß dies auch verstanden wurde: „ein Widerhall, den aber die seit 1968 aufkommende Empörung mitsamt dem, was sie zu Recht angriff, zu Unrecht mitverwarf“, beschreibt Goldschmidt die zweite Unzeitgemäßheit seines Versuchs. „Der Sturm traf nicht nur das — seit 1945 — fortgesetzte Beharren auf den wirtschaftlichen, politischen und geistigen Strukturen, deren Mitverantwortliche aus dem Schrecken und der Schande, die ihre Schuld gewesen waren, nichts gelernt hatten. Diejenigen, die in der Spur dieser Schuld für die dennoch notwendige Weiterführung deutscher und deutschjüdischer Kontinuität eingetreten waren, hilfreich schöpferisch, wurden blindlings mitverworfen.“ Band 2 der Werkausgabe bringt nun diese wichtige Arbeit, die vor allem das „Weitergehen des deutschen Judentums in der Gestalt des Vermächtnisses dieser Judenheit“ postuliert und gleichzeitig dokumentiert. Das Werk setzt mit dem Beginn der „jüdischen Neuzeit“ ein, mit Moses Mendelssohns Schaffung des „deutschen Judentums“: Wiedergewinnung der eigenen Tradition wie Aneignung des eigenen in der deutschen Sprache in dialektischer Verschränkung. Es folgt die Darstellung der Spannungen zwischen Gleichberechtigung und Angleichung, grundgelegt in der „biblischen Eigenart“ des Judentums zwischen Besonderung und Allgemeinheit, Glaubensbezogenheit und Geschichtsbezogenheit; die Schritte zur bürgerlichen Gleichberechtigung und die Gegner dieser Entwicklung. Die „innere Entfaltung“ (3. Teil) ist an die großen Namen geknüpft: Leo Baeck, Hermann Cohen, Simon Dubnow . . . ; schließlich gehört das Ringen um die deutsche Bibel bis zur großen Bibelübersetzung von Rosenzweig und Buber hierher — die Erfüllung dessen, was Mendelssohn begonnen hatte.

Eindrucksvoll finde ich die Kapitel über jüdisch-deutsches Dichtertum, weil in ihnen besonders Hoffnung und Gelingen dieses Selben und Anderen zeigt: „Ohne von den Wegen des Judentums abzugehen, war es, ist es, bleibt es möglich, den Gipfel jeder Heimat, Sprache und Kunst zu bezwingen.“ Gleichzeitig ist hier die Katastrophe nahe. Das geschichtstheologische Kapitel über die Reich-Gottes-Botschaft als das Erbe des Judentums in den nachjüdischen Weltreligionen und ihren säkularisierten Ablegern wäre größerer Aufmerksamkeit seitens der christlichen Theologie wert. Im vierten Teil „Das Ende, das Leiden, das Weitergehen“ beeindruckt vor allem die Deuterojesaja- (Gottesknecht) und Hiob-Interpretation (letzteres in Anknüpfung an Margarete Susman), eine Verbindung von Bibelinterpretation und Geschichtsdeutung: „Theologie nach Auschwitz“, bevor auch diese Formel Schlagwortcharakter bekam. Auf sehr nüchtern eingearbeitete Bilanz des Grauens können wir hier nicht mehr eingehen. Es ist aber außerordentlich eindrücklich, wie auf solchem Hintergrund das Plädoyer für das „Vermächtnis deutschen Judentums“ geschrieben werden kann. Es ist zu hoffen, daß dieser Band nicht nur als historische Belehrung zur Hand genommen, sondern als gegenwärtiger Anspruch verstanden wird.

Der dritte zu nennende Band könnte dazu auf andere Weise beitragen. Das Verblüffende der späten Werkausgabe im Passagen-Verlag ist nämlich — in der Spannung Zeitgemäßheit / Unzeitgemäßheit —, daß diese späte Publikation des Werks von Goldschmidt doch wieder ihre Logik hat, die sich dem aufmerksamen Leser leicht auftut. Die philosophische Öffentlichkeit nimmt ja seit einigen Jahren wieder andere Themen als diejenigen kritischer (neomarxistischer) Theorie einerseits und analytischer Philosophie anderseits zur Kenntnis. Sie ist dazu gerade auch durch gewichtige Werke jüdischen Denkens gezwungen worden. Neben schon erwähnten Namen seien nur die Schriften von Emmanuel Levinas noch genannt. „Freiheit für den Widerspruch“ (1976) stellt gegenüber der „Dialogik“ das späte zusammenfassende Werk Goldschmidts dar, wobei es für seine Lebendigkeit spricht, daß der Verfasser in Selbstkritik und Weiterführung ausgegrenzte Seiten dieser Arbeit in späteren Schriften thematisiert hat (vor allem die Fragen der Weiblichkeit und der außereuropäischen Kulturen). Die inhaltliche Weite dieses antitotalitären Essays — Veränderung, Technik, Unterdrückung, Fragen der Wirtschaft und Politik, Freiheit aus Widerspruch und Widersprüche der Freiheit usw. — ist aber breit genug, um zur Auseinandersetzung mit den gegenwärtig brennenden Weltfragen anzuregen. Goldschmidts Verbindung zu Peter Weiß und Robert Jungk können vielleicht andeuten, daß das „jüdische Lehrhaus“ immer Kontakte zur aktuellsten Gegenwart hatte (vgl. Peter Weiss: Briefe an H. L. Goldschmidt und R. Jungk. Leipzig 1992). Aus der Festschrift von 1984 läßt sich die große Offenheit für die Künste ersehen. Die Beiträge zum jüdisch-christlichen Gespräch wären zu ergänzen . . . Auch wenn der Hinweis auf die drei Bände einer Werkausgabe keine Würdigung eines Lebenswerks sein kann, sei diese größere Weite doch mindestens genannt.

So ist es dann am Schluß doch nicht verwunderlich, daß diese Werkausgabe heute erscheint. Sie präsentiert ein der Form nach essayistisches Werk, das aber immer an die Kernpunkte der philosophischen, theologischen und gesellschaftlichen Diskussion rührte, die Stringenz eines eigenen Weges aufweist und so eigentlich immer „gegenwärtiger“ geworden ist. Das schon genannte Symposion an der ETH Zürich zum 80. Geburtstag Goldschmidts ist inzwischen in einem äußerlich ähnlich aufgemachten Band des gleichen Verlags dokumentiert (Perspektiven der Dialogik. 1994). Hier wird das Werk Goldschmidts vor allem aus dem Postmoderne-Kontext gelesen.

Am Ende sei noch die vorzügliche Ausstattung dieser Ausgabe hinsichtlich Papier, Druck und buchbinderische Verarbeitung (Ganzleinen, Fadenheftung) erwähnt. Es ist zu hoffen, daß sie bis zum Abschluß finanziert und ohne Verzögerung weitergeführt werden kann.

Albert Raffelt


Jahrgang 2/1995 Seite 280



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