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Gertrud Luckner
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Piccard, Jacques

Die Schweiz und die Juden. 1933-1945

Chronos-Verlag, Zürich 1994. 559 Seiten.

Ein halbes Jahrhundert mußte verstreichen, bis eine Arbeit wie die von Jacques Piccard erscheinen konnte. Die Schweiz war vom Krieg verschont geblieben. Das führte zu der überheblichen, aber als selbstverständlich angesehenen Meinung, daß die Schweizer einesteils eine Vorzugsstellung bei Gott haben und andererseits, daß alles, was getan wurde, recht und gut war. Was das an Egoismus, Anpassung und Hilfestellung für die Deutschen und — sagen wir es ganz ehrlich — an menschenverachtendem Zynismus bedeutete, wurde verdrängt. Die Schweiz war ja schon immer das Land des Humanitären, des Asyls und des Beistands für Verfolgte. Das war so verinnerlicht, daß niemand oder fast niemand sich darüber Gedanken machte, ob diesem hohen Anspruch auch wirklich Genüge getan war, und niemand wollte es auch so genau wissen.

Nun, Piccard ging hinter die jetzt zugänglichen Archive, las Zeitungen von damals. Was dabei zum Vorschein kam, ist erschütternd und ungeheuerlich: Antisemitismus der obersten Magistraten, der sich unter dem Deckmantel des „Notwendigen“ und „Leider“ ausleben konnte, ohne den gefährlichen Nachbarn Deutschland zu reizen. Man kam dessen judenfeindlichen Vorschriften sogar mit eigenen diskriminierenden Vorschlägen entgegen. Natürlich gab es Ausnahmen, die Jacques Piccard immer dankbar erwähnt. Das Volk war über die politischen Machenschaften nicht unterrichtet und wäre in der Mehrheit nicht damit einverstanden gewesen.

Die Schweizer Juden waren gezwungen zu kuschen, um den geringen Spielraum zur Hilfe maximal ausnützen zu können. Sie trugen eine enorme finanzielle Last, denn anders als für die politischen Flüchtlinge mußten sie für die „rassisch“, d. h. jüdischen Verfolgten aus eigenen Mitteln aufkommen, wobei ihnen sogar der Transfer von ausländischem, amerikanischem Geld erschwert oder gar untersagt wurde. Bezeichnend ist z. B. das Wort „Nichtarier“ in amtlichen Verlautbarungen und innerbehördlichen Dokumenten. Es gab damals Schweizer und Nichtarier unter den Bürgern. Dieses Wort ist ein widerlicher Import aus Deutschland und war bis dahin in der Schweiz unbekannt.

Piccard deckt aber nicht nur die Schwierigkeiten der Schweizer Juden mit den eigenen Behörden auf, er geht auch genau den unterschiedlichen Haltungen und Auffassungen über das Verhalten und den Widerstand der verschiedenen jüdischen Gruppierungen in der Schweiz nach und schreibt so eine knappe, sehr instruktive Geschichte der Juden in der Schweiz und ihrer Herkunft. Der Umfang des Wissens ist groß, und trotz der Fülle der Fakten ist das Buch flüssig zu lesen. Bedauerlich ist allerdings, daß ein so wichtiges Buch nur so strotzt von oft sinnentstellenden Druckfehlern.

Was diese Arbeit, ohne es ausdrücklich hervorzuheben, deutlich macht, ist, daß die Schweiz mitnichten ein Sonderfall war oder ist, denn genau wie in Deutschland, Frankreich oder sonstigen Ländern unter deutscher Okkupation, gab es Antisemiten und gefährliche willfährige, z. T. offenkundige Nazifreunde. Sie lebten und leben ungeschoren in allen Ehren, ohne persönlich zur Rechenschaft gezogen worden zu sein. Sogar wenn sie, schon durch ihre hohe politische Stellung, bekannt waren und sind. Man nahm ihre nach dem Krieg, als es keinen Mut mehr brauchte, ja sogar wieder nützlich war, heuchlerische Entschuldigung, daß ihr Verhalten durch die schlimmen Zeiten bedingt war, einfach kommentarlos an. Das ist noch unverzeihlicher als ihre damalige Haltung, weil es zeigt, daß sich im Grunde nur wenig geändert hat und daß Wendigkeit sich bezahlt macht, besonders, wenn es dem „gesunden Volksempfinden“ weitgehend entspricht.

Jedenfalls ist Jacques Piccard für seine profunde und sehr nötige Arbeit zu danken und es ist zu hoffen, daß sie als Warnung und Mahnung diene. Als Anhang finden wir sehr ausführliche Anmerkungen, geordnet nach Kapiteln, ein großes Quellen- und Literaturverzeichnis und Namenregister, die die Überprüfung aller im Text gemachten Feststellungen und Behauptungen erlaubt und für eventuell eigene Nachforschungen hilfreich sind.

Eva Auf der Maur


Jahrgang 2/1995 Seite 290



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