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Tempelkult und Tempelzerstörung (70 n. Chr.)

Der Tempel von Jerusalem — eine offene Frage. Gedanken zur Festschrift für Clemens Thoma. Judaica et Christiana 15, Bern 1995. 265 Seiten.

„Die hellste Leuchte der Welt ist erloschen. Das römische Imperium wurde enthauptet. Mit dieser einzigen Stadt sind das ganze Universum und die menschliche Kultur untergegangen.“ Was Hieronymus in seinem Vorwort zum Kommentar zu Ezechiel voranstellt, macht klar: Mit dem Untergang Roms ging nicht nur eine Stadt zugrunde, sondern eine ganze Welt, eine Kultur. Obwohl der Tempel in Jerusalem nicht mit dem römischen Imperium zu vergleichen ist, so war seine Zerstörung im Jahre 70 n. Chr. doch von ähnlicher Tragweite für das Judentum insgesamt und für das frühe Christentum: Da wurde mehr zerstört als ein prachtvolles Gebäude aus Steinen. Der Tempel als wirtschaftliches, kulturelles und religiöses Zentrum bildete das Rückgrat und den Kristallisationspunkt der für das Judentum zentralen Ideen: als der Ort, an dem Gott seinen Namen wohnen läßt; der Ort, wo Himmel und Erde zusammenkommen, wo Himmlische und Irdische gemeinsam feiern; der Ort auch, von dem die Weisung ausgeht, die Sünden vergeben und Opfer dargebracht werden. Die Zerstörung eines so symbolischen Ortes greift tief und führt zu tiefgreifenden Änderungen, die nicht genug gewichtet werden können. Es wäre indes falsch, bliebe der Blick nur auf die Zerstörung fixiert. Der Tempel und alles was zu ihm gehörte, war seit der Zeit der Seleukidenherrschaft alles andere als unumstritten. Er war Gegenstand heftigster Kontroversen. Diese Kontroversen steigerten seine Bedeutung. Gruppierungen, die sich gegen den Tempel und seinen Kult wandten, benutzten die damit verbundenen Vorstellungen, um ihre eigene Glaubenshaltung und Lebensform zu legitimieren. Diese oppositionellen Gruppierungen richteten ihre Vorstellungen am Ideal aus, was der Tempel und der Kult eigentlich sein müßten, was sie jedoch nicht waren. Deshalb betrachteten sie sich, wie z. B. die Gemeinde in Qumran, als lebendigen Tempel, welcher die Voraussetzung bot für den endgültigen, von Gott zu erbauenden Tempel.

Die Symbolik des Tempels war aber nicht nur produktiv für die dem Tempel und seinem Kult gegenüber kritisch Eingestellten, sie bestimmte auch die Identität der verschiedenen Gruppierungen. Weder Pharisäer, noch Sadduzäer noch Zeloten lassen sich ohne den Blick auf den Tempel beschreiben. Auch für die in der Diaspora lebenden Juden war der Tempel von entscheidender Bedeutung. Die räumliche Distanz zu ihm wirkte sich in ihrer Lebensform aus. Die Katastrophe der Zerstörung des Tempels traf die verschiedenen Gruppierungen des Judentums daher sehr unterschiedlich. Sie löste aber auch neue Kräfte aus zu der Bewältigung der Krise. Denn nach wie vor baute die Halakha auf einer durch den Tempel begründeten konzentrischen Heiligkeit auf. Damit greift der Tempel von Jerusalem bis heute materialiter ins jüdische Leben ein.

Die Beschäftigung mit der Tempelzerstörung ist daher sehr zentral und wichtig, auch im Hinblick auf das Christentum. Gelegenheit dazu bot der 60. Geburtstag von Prof. Dr. Clemens Thoma, der sich seit Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn immer wieder mit diesem Thema auseinandergesetzt hat. Freunde, Schüler und Schülerinnen feierten ihn im Rahmen eines kleinen Symposiums, deren Beiträge nun schriftlich vorliegen.

In seinem Artikel „Christliches Beten angesichts der jüdischen Praxis“ geht Thomas Willi vor allem auf das Verhältnis von Gebet und Kult in biblischer Zeit ein. Opferhandlungen empfangen ihre Kraft durch das Wort. Sie sind nicht durch sich allein wirkmächtig. Durch das lobpreisende Gebet wird das bereits Vorhandene auf das Ziel der Schöpfung hin transparent. Exemplarisch kommt dies im „Höre Israel“ zum Ausdruck. Denn dadurch, daß Israel die Einzigkeit Gottes proklamiert, bekennt es jetzt schon beispielhaft, was in Zukunft alle Völker der Welt bekennen werden: An jenem Tag wird der Name des Ewigen einzig sein (Sach 14,9). „Ziel und Sinn der Weltenwende erweist sich als identisch mit der Bestimmung Israels und mit dem Ziel seines Weges. Die Annahme der Tora Gottes und die Anerkennung seines Willens, die Israel konstituiert, wird auf Erden allgemein werden“ (19). Damit wird auch deutlich, weshalb das Gebet und die Tora einen entscheidenden Einfluß gewinnen konnten zur Bewältigung der Krise, deren Höhepunkt die Tempelzerstörung war.

Der eschatologische Aspekt war dem Tempel schon zur Zeit seines Bestandes eigen, wie Simone Rosenkranz mit ihrem Artikel „Vom Paradies zum Tempel“ zeigt. Sie behandelt die zwischentestamentliche Literatur, in welcher die Paradiesvorstellungen mit der Zionsvorstellung und dem Tempel zusammenfallen, das Paradies also zum (eschatologischen) Heiligtum wird: „Die Vorstellung des himmlischen Jerusalem entwickelte sich nicht erst als Folge der Zerstörung des irdischen Jerusalem . .. , durch die Verwüstung der irdischen Stadt mit dem Tempel erhielt die Vorstellung des himmlischen Heiligtums jedoch eine neue, zusätzliche Aktualität“ (90). Wenn in der Folge die Rabbinen das Paradies mit dem eschatologischen Tempel in Verbindung brachten, konnten sie an alte, bereits vor der Zerstörung vorhandene Vorstellungen anknüpfen. Diese Vorstellungen wiederum wurden zum Teil in Auseinandersetzung mit griechisch-hellenistischem Gedankengut und dessen Übernahme geprägt.

Mit diesem letzten Aspekt befaßt sich Wilhelm Wuellner in „Der vorchristliche Paulus und die Rhetorik“. Er zeigt, wie sehr die Rhetorik alle Bereiche des Lebens geprägt hat. Die Rhetorik diente der jüdischen Identität, indem sie in das pharisäische Lehrhaus Einzug hielt und die Elementarschule prägte. Sie war in der Synagogenpredigt und den halakhischen Kontroversen am Werk. Das aber heißt, daß es durchaus eine eigenständige jüdische Rhetorik gab und gibt.

Daß die Tempelzerstörung nicht nur für die Juden, sondern auch für die Christen ein herausragendes Ereignis war, arbeitet Peter Dschulnigg („Die Zerstörung des Tempels in den synoptischen Evangelien“) heraus. Dieses Ereignis wird von den Evangelisten unterschiedlich gewertet: Findet sich bei Markus keine direkte Begründung für die Zerstörung, so verschiebt sich bei Matthäus und Lukas die Perspektive: „Sie blicken auf die Tempelzerstörung zurück und werten dieses Geschehen auch als Ausdruck der Strafe Gottes über sein Volk.“ Dies geschieht indes nicht in triumphalistischer Weise, sondern aus Trauer und Schmerz „und der Verwundung der christlichen Gemeinde, daß Israel insgesamt Jesus als Messias nicht anerkannt hat“ (176). Für Matthäus dient das Verhalten Israels als mahnendes Beispiel für die christliche Gemeinde.

Daß diese Zurückhaltung der Synoptiker nicht immer geübt wurde, zeigt Rudolf Brändle in seinem Artikel „Die Auswirkungen der Zerstörung des Jerusalemer Tempels auf Johannes Chrysostomus und andere Kirchenväter“. Freilich geht es da nicht einfach um eine Schuldzuweisung wie den Vorwurf des Antisemitismus, den man Chrysostomus machen könnte, da solch pauschale Urteile wenig zur Bewältigung der Vergangenheit beitragen. Das Judentum übte mit seinen Festen und Feiern eine solche Faszination auf die damaligen Christen aus, daß sich einzelne beschneiden ließen. Die Situation wird noch erschwert durch die traumatisierende Erinnerung an die von Kaiser Julian vertretene Religionspolitik. Johannes Chrysostomus wollte die „Judaisierer“ von ihrem Vorhaben abbringen. Er versuchte „nachzuweisen, daß der Gottesdienst der Juden unzeitgemäß ist und gegen das Gesetz geschieht“ (233). Denn der Tempel wurde durch Christus zerstört, daher ist das Opfer hinfällig. In immer neuen Antithesen wertet Johannes Chrysostomus den Untergang des Tempels als ein Indiz für die Wahrheit des christlichen Glaubens.

Wird bei Johannes Chrysostomus die Diskontinuität betont, so kommt eine andere, innerjüdische Diskontinuität zum Ausdruck im Artikel „Die Pharisäer vor und nach der Tempelzerstörung des Jahres 70 n. Chr.“ von Jacob Neusner und Clemens Thoma. Denn bis in die frühen neunziger Jahre unseres Jahrhunderts sprach man sehr gerne vom pharisäisch-rabbinischen Judentum. Das wird nach diesem Artikel nicht mehr so einfach sein. Wer die Pharisäer waren, das ist allein schon unklar von der Wortbedeutung her, da der Begriff Pharisäer sehr unterschiedlich gebraucht werden kann. Aber auch die Quellen machen große Probleme: Darf das, was als literarisches Phänomen gilt, auch schon als historisches Dokument genommen werden? Gerade im Falle der Pharisäer wird man sich hüten müssen, vorschnelle Aussagen zu machen. Als Pharisäer namentlich bekannt sind nur vierzehn bis sechzehn Personen. Trotzdem spielten die Pharisäer eine entscheidende Rolle z. B. unter Johannes Hyrkan, der der Flexibilität ihrer Bibelauslegung bedurfte, so lange er noch nicht politisch gefestigt war, um sie dann fallenzulassen und sich den konservativeren Sadduzäern zuzuwenden. Die Pharisäer wußten sich der Tora verpflichtet und zugleich auch Traditionen, die in ihrer Gruppe entstanden waren. Sie vermochten „das priesterliche Monopol der Kontrolle über den Bibeltext und seine Aktualisierung im 2./1. Jh. den Tempelpriestern zu entreißen“ (197). Im Strudel der Ereignisse, in deren Gefolge der Tempel zerstört wurde, dürften sie eine schwankende Rolle gespielt haben und sich teilweise zu den fanatisch national-religiösen Kreisen geschlagen haben. Das würde die Tatsache erklären, weshalb in Javne sich keine der führenden Persönlichkeiten als Pharisäer bezeichnet hat. Die rabbinische Neuorientierung in Javne läßt deutlich werden, welch tiefgreifende Transformation stattgefunden hatte: von der Sekte zu den Fraktionen, neue Formen des Gottesdienstes, Gebetsreform, die mündliche Tora. Dazu waren alle Kräfte nötig. Es ist daher nicht richtig, nach dem Jahre 70 n. Chr. von einem pharisäisch-rabbinischen Judentum zu sprechen.

Der Tempel ist zerstört. Was aber ist mit seinem Wiederaufbau? Johann Maier geht dieser Frage nach: „Zwischen zweitem und drittem Tempel.“ Der Tempel mit seiner kosmologischen Symbolik stand aufgrund seiner inneren Verfassung und seines festungsähnlichen Charakters auch im Dienst der irdischen Macht, die verstärkt wurde durch die Wirren unter Antiochus IV. (175-164). Dadurch verschmolzen religiöse, politische und militärische Funktionen so intensiv, „daß von da an der Tempel eben auch über die religiösen Gesichtspunkte hinaus zu einem vorrangigen Mittel und Symbol der Selbstbehauptung, ja der Selbstidentifizierung des Judentums geworden ist“. Man betrachtete die Bindung Gottes an den Tempel als derart intensiv, daß man glaubte, der Tempel sei unzerstörbar. „Eine Kultrestauration mit Wiederaufbau des Tempels war daher [seit der Tempelzerstörung] stets mit dem Gedanken der Wiedereinwohnung der Gottesgegenwart verbunden“ (250). Dabei geht es immer auch um das Verhältnis Gott-Israel und das Verhältnis von irdischer Weltherrschaft und Gottesherrschaft. Unter Durchsetzung der Gottesherrschaft verstand man die Verwirklichung des Gotteswillens, wie er in der Tora seinen Ausdruck fand. Da das Kultgesetz Teil der Tora ist, konnte die Kultrestauration als „pars pro toto die volle Anwendung des Gotteswillens signalisieren“ (251). Die Frage des Wiederaufbaus des Tempels sowie der Gottesgegenwart wurde von den Rabbinen eschatologisiert. Utopische und realistische Gesichtspunkte, durch die eschatologische Hoffnung vereinigt, fallen auseinander: Denn wie soll ein solches Unternehmen wie der Tempelbau realisiert werden können, wenn nicht eintrifft, was erwartet wird. Die Kultrestauration wurde zur Sache des davidischen Messiaskönigs. In der Folge deutete das Judentum den Verlust als gottverfügte Niederlage und als Strafe für die Sünden. Gott geht als Schekhîna mit den Israeliten in die Exile, und er wird sie dereinst auch wieder heimführen. Allmählich kamen mit dem Tempel verbundene Symbole in Gebrauch, Feste wurden ausgestaltet, der Charakter der Gemeinschaft verändert und neu interpretiert. Dennoch entstehen immer wieder Spannungen in Zusammenhang mit Strömungen, die sich die Errichtung des Tempels zum Ziel gesetzt haben.

Alles in allem bietet der Sammelband einen vielgestaltigen Einblick in eine sehr komplexe Wirklichkeit, wie die Zerstörung des Tempels sie darstellt. Es wird klar, daß nicht alle dasselbe meinen, wenn sie vom Gleichen sprechen. Denn wenn die Juden von der Tempelzerstörung als Folge ihrer Sünden sprechen, dann tönt dies aus christlichem Mund sehr viel anders. Und auch da gilt es noch einmal zu differenzieren: Zwischen den Synoptikern und Johannes Chrysostomus sind ebenfalls Welten.

Dem aufmerksamen Leser und der aufmerksamen Leserin des Bandes wird auch auffallen, wie verschieden und unterschiedlich die jüdischen Gruppierungen sind, die sich mit dem Tempel auseinandersetzen. Das ist positiv zu vermerken. Denn dadurch wird deutlich, daß in der Diaspora lebende Juden von der Tempelzerstörung anders betroffen waren als Juden im Lande, weil sie andere Formen liturgischer Praxis entwickeln mußten. Das dürfte vor allem für das Judentum von Bedeutung sein, mit dem sich Johannes Chrysostomus konfrontiert sah. Aber wie sah dieses Judentum genau aus. Was machte es so attraktiv? Wir wissen es nicht mehr.

Wie ein Grundtenor zieht sich durch das ganze Buch die Überzeugung, daß der Tempel kraft symbolischer Setzung weiterhin prägend bleibt. Gott ist in der Mitte seines Volkes gegenwärtig. Die Deutung der Gegenwart Gottes inmitten seines Volkes hat durch die Zerstörung des Tempels markante eigene Züge bekommen. Das ist eine kulturelle Leistung von sehr großem Gewicht, die für ein jüdisch-christliches Gespräch fruchtbar zu machen ist: Denn Juden wie Christen ringen um die Anwesenheit Gottes, durch die das Antlitz der Erde verändert werden soll. Darüber hinaus könnte dieses kulturelle Erbe auch allzu hitzige Versuche bremsen, in deren Brennpunkt die Wiedererrichtung des Tempels steht. Es bedarf der genauen Kenntnis der Geschichte, damit nicht ein apokalyptisches Szenario der schlimmsten Art eintrifft.

Hanspeter Ernst


Jahrgang 3/1996 Seite 11



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