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Erwin Teufel

Ehemalige Synagoge in Sulzburg

Ansprache bei der Feier am 6. Februar 1995

Die Synagoge von Sulzburg mitten im ehemaligen badischen Residenzstädtchen des Markgräfler Landes ist ein architektonisches Kleinod. Sie hat, geschützt vor allem durch ihre bauliche Umgebung, alle Barbareien unserer schlimmsten Zeit überstanden. Sie ist die einzige erhaltene Synagoge Badens aus der Weinbrenner-Zeit und — neben Kippenheim — überhaupt die einzige Synagoge im südbadischen Raum, die von ihrer baulichen Substanz her noch renovierungsfähig war. Jeder von uns weiß, daß nach jüdischem Verständnis eine ehemalige Synagoge, die nicht als Gebetshaus genutzt wird, keine Synagoge mehr ist.

Aber hier geht es um sehr viel mehr als um ein Baudenkmal von einiger Bedeutung. Die Synagoge gibt bewegtes Zeugnis von der Geschichte Sulzburgs, vom Landjudentum im südbadischen Raum, von der jüdischen Gemeinde hier im ehemaligen Residenzstädtchen.

Bis ins Mittelalter führen die Spuren zurück. Über 400 Jahre lebten hier Juden mit Christen zusammen unter wechselhaften Umständen. Bis zum Erlaß der Badischen Emanzipationsgesetze von 1861 in beschränkter, immer willküranfälliger Freiheit, aber sicherer als in der vorderösterreichischen Umgebung.

Sulzburg — ein Zufluchtsort und ein guter Boden jüdischen Lebens, das hier aufblühte: mit eigener Gemeinde, eigenem Rabbinat, eigener Schule und vielen Beiträgen jüdischer Bürger zum staatlichen Gemeinwesen. Sulzburg, das war über Jahrhunderte für Juden etwas Besonderes, beinahe ein heiliger Ort, ein „kleines Jerusalem“, ein jüdisches Zuhause, oft geduldet nur, aber mit festem Boden unter den Füßen, ohne Getto. Der Anteil der jüdischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung war ungewöhnlich groß. Er betrug im vorigen Jahrhundert in den Jahren unmittelbar nach der Emanzipationsgesetzgebung ein knappes Drittel. Der Beitrag der Juden zum Gemeinwesen reichte über ihren Lebenskreis, über das „Schtetl im Städtchen“ hinaus. So mancher jüdischer Mitbürger machte seinen Weg anderswo in Deutschland oder außerhalb, soweit dies die nichtjüdische Umgebung zuließ . . .

Ein herausragendes Zeugnis jüdischen Lebens durch die Jahrhunderte ist diese Synagoge, aber sie ist auch Zeuge in der durch die christliche Umgebung den Juden auferlegten Beengungen und Beschränkungen. Auch wo Juden geduldet wurden, war es für Juden selten ein leichtes Leben. Ein Wort aus dem Talmud sagt es symbolisch, aber deutlich:

„Fällt der Stein auf den Krug,
wehe dem Krug.
Fällt der Krug auf den Stein,
wehe dem Krug.
Was auch geschieht, wehe dem Krug.“

Baudenkmal, Wahrzeichen, vor allem aber Mahnmal ist diese Synagoge Sie zwingt uns, uns zu erinnern — und dies haben wir bitter nötig.

Die Machtergreifung der Nazis wurde zur großen Zäsur. Glaubte man nach der Emanzipationsgesetzgebung, die alten Zeiten der Verunsicherung, des An-den-Rand-Gedrängt-Seins, des Sündenbockdaseins längst und endgültig hinter sich zu haben, so kannte der neue Rassenwahn buchstäblich keine Grenzen mehr.

Die Gewöhnung aneinander, das friedliche Zusammenleben galt nicht mehr. Die todbringende Propagandamaschinerie des Dritten Reiches begann zu wirken, auch hier im Südwesten, auch in Sulzburg. Verunglimpfungen, Gewaltandrohungen von Anfang an, Boykott jüdischer Geschäfte — „wegen Geschäftsrückgang“ Geschäft aufgegeben, so hieß es damals oft.

Die Nürnberger Gesetze von 1935 zeichnen vor, was bald grausige Wirklichkeit werden sollte: die Ächtung der Juden, ihr Ausschluß aus dem Gemeinwesen, schließlich ihre Vernichtung im Schatten des Krieges: Völkermord, Aberkennung der Reichsbürgerschaft, zwangsweise Entlassung aus dem öffentlichen Dienst, Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte, Heiratsverbot mit „Ariern“.

Hinweise auf treue Dienste an Staat und Volk halfen nicht. Die Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs wurden zunächst noch geschont, aber nur für kurze Zeit. Daß die meisten Juden so deutsch fühlten wie nichtjüdische Deutsche auch, ja, viele von ihnen entschieden national gesinnt waren, es half ihnen nichts. „Ich bin doch geborener Sulzburger und Deutscher“, machte der Bäcker Siegfried Bloch geltend, als ihm die Geheime Staatspolizei in Karlsruhe nach einem Besuch in Palästina eröffnete, er habe sich als Emigrant zu betrachten und müsse innerhalb eines Vierteljahres Deutschland verlassen. Auch deutsche Gesinnung half nicht mehr, mochten die Verdienste noch so offenkundig und bedeutsam sein. Dabei hatten nur noch diejenigen ein Überleben, die rechtzeitig emigrierten. Trotzdem konnten selbst viele Juden nicht glauben, daß kommen würde, was dann geschah. Es überstieg einfach menschliches Vorstellungsvermögen.

Reichspogromnacht: Plünderung jüdischer Geschäfte, Zerstörung jüdischen Eigentums, Brandschatzung der Synagogen, „Schutzhaft“. Beginn brutaler Ausrottung jüdischen Lebens in ganz Deutschland. Bürokratisch genau wird vom Bürgermeister, dem Bezirksamt Müllheim auf Anforderung Rechenschaft gegeben: drei jüdische Geschäfte zerstört, 13 Privatwohnungen zerstört, Möbel zerstört. — Und auf die Frage, ob es Selbstmorde gegeben habe: „Leider keine.“

Trotzdem schrieben noch am 11. Dezember 1939 die letzten in Sulzburg Verbliebenen Juden, sie wollten der Aufforderung des Oberrats der Israeliten Badens nicht folgen und ihre Gemeinde nicht auflösen. Und den Reichsstatthalter ließen sie wissen, sie wollten als deutsche Bürger in ihrer Heimat bleiben; sie wollten bei ihrer Synagoge und ihren Toten ausharren.

Dann aber, am 22. Oktober 1940, noch fast 1 1/2 Jahre vor der berüchtigten Wannsee-Konferenz, die Deportation der letzten 27 jüdischen Einvohner Sulzburgs mit rund 6.500 Juden aus ganz Baden, aus der Pfalz ind dem Saarland in das berüchtigte Pyrenäenlager Gurs. Für die meisten führte der Weg von dort weiter über Drancy in die Vernichtungslager im Osten. Nur wenige fanden den Weg in die Emigration und konnten — in ungesicherter Freiheit — die Nazibarbarei überleben.

Das Leben der jüdischen Gemeinde von Sulzburg endete wie das vieler jüdischer Gemeinden aus Deutschland und aus den anderen mitteleuropäischen Ländern in Auschwitz . . .

Bundespräsident Roman Herzog schrieb in das Gedenkbuch in Auschwitz: „Hier öffnen die Toten den Lebenden die Augen.“

Dieser Satz bedeutet gewiß zuvorderst und ungeschminkt: In den Verrichtungslagern der Nazis wird sichtbar, was Menschen Menschen antun können. Was dort geschehen ist, bleibt unbegreiflich in seiner konkreten Einmaligkeit, aber es öffnet den Blick vor allem auf uns selbst.

Deswegen sehe ich darin auch eine Einladung, zurückzublicken auf das, was dem Holocaust vorausging. Es ist eine Aufforderung zurückzublicken auf das, was vorher geschah und zum Holocaust führte, was diesen erst möglich machte. Das geschieht nicht, um uns über die Erlebnisgeneration von damals zu erheben, sondern um aus den Erfahrungen, die wir kennen, die die Erlebnisgeneration aber erst machte, zu lernen. In der Antwort auf die schriftliche Anfrage des Bezirksamtes Müllheim an den damaligen Bürgermeister von Sulzburg nach den Untaten in der Reichspogromnacht, wie die Bevölkerung die „Strafmaßnahmen“ aufgenommen habe, hieß es: „Zu einem großen Teil mit Begeisterung.“ Dieses mußte so nicht zutreffen; die Feststellung galt wohl auch der Beruhigung der Behörden durch Mitläufer.

Aber man ließ es geschehen, sah weg. Widerstand rührte sich spärlich einzeln, im einen oder anderen Fall auch unter den dem Regime ergebenen Funktionären, aber ein öffentlicher Aufschrei ist daraus nicht geworden: nicht gegen die Anwendung der Nürnberger Gesetze, nicht, als in der Reichspogromnacht die Synagogen brannten, erst recht nicht, als die Deportationszüge rollten.

Einzelne halfen und riskierten dabei die eigene Freiheit.

Aber öffentlich — Schweigen: Die Generalität begehrte nicht auf, das Bürgertum rührte sich nicht, die Kirchen schwiegen. Und die Universitäten waren die ersten, die rein geschäftsmäßig reagierten, als jüdische Universitätskollegen in Unehren entlassen und mit Vorlesungsverbot belegt wurden. Das Schicksal Edmund Husserls in Freiburg ist ein besonders bezeichnendes Beispiel dafür.

Wie kam das alles?

Wolfgang Heidenreich sprach — ebenfalls hier in der Synagoge — 1990 aus Anlaß der Deportation von 1940 vom „abgewandten Gesicht der Christenheit“. Die katholischen Bischöfe haben in einem Gedenkwort zum Holocaust geschrieben: „Unbekannt ist die Zahl derer, die beim Verschwinden ihrer jüdischen Nachbarn entsetzt waren und doch nicht die Kraft zum sichtbaren Protest fanden; diejenigen, die bis zum Einsatz ihres Lebens halfen, blieben oft allein. Es bedrückt uns heute schwer, daß es nur zu Einzelinitiativen für verfolgte Juden gekommen ist und daß es selbst bei den Pogromen vom November 1938 keinen öffentlichen und ausdrücklichen Protest gegeben hat.“

Ein redliches Wort zu später Stunde. Es beantwortet aber nicht die Frage, warum das so war. Das Beispiel des Kardinals von Galen hat gezeigt, daß Protest selbst im Dritten Reich etwas bewirkte, wo die Machthaber Rückwirkungen im Volk befürchteten. Gegen die Tötung geistig Behinderter gab es diesen öffentlichen Protest mit Echo im Volk und — begrenzter — Wirkung auf die Machthaber.

Gegen die Verbrechen an den Juden gab es diesen Protest nicht. Durch Jahrhunderte verfemt, galten sie offenbar auch aktuell noch als Fremde, als eigentlich nicht zugehörig. Es ging um mehr als um die Frage, wer ist Dein Nächster? Der Jude, auch wenn er Nachbar war, wurde offenbar selten dazugerechnet.

Aber verhalten wir uns besser, wenn Notstände ausbrechen oder wenn Ausländer vor brutaler Gewalt in Schutz zu nehmen sind? Uns droht keine Todesstrafe und kein Konzentrationslager — höchstens Streit mit Uneinsichtigen.

In der zentralen Gedenkstätte des jüdischen Volkes für die Opfer des Holocaust, Yad Vashem, setzt man nur ganz unsicher seinen Schritt, mit Schaudern und Entsetzen über das, was Menschen anderen Menschen antun können und angetan haben.

Es gibt dort nur einen Ort der Hoffnung, die „Straße der Gerechten“. Für jeden Menschen, der sich menschlich verhalten und während der Nazi-Barbarei einem Juden das Leben gerettet hat, wurde dort ein Baum gepflanzt. Zeichen dafür, wie Menschen anderen Menschen geholfen haben.

Es findet sich an dieser „Straße der Gerechten“ auch ein Baum des Lebens und ein Namensschild von Gertrud Luckner aus Freiburg. Sie hat in unserer Heimat ein Beispiel gegeben für viele. Und sie war nicht allein. Hat Gott unserem Volk eine Zukunft geschenkt um dieser Gerechten willen?

Die Vereinten Nationen haben für 1995 ein Jahr der Toleranz ausgerufen — ein höchst ehrenwertes Unterfangen, bedenkt man das Umsichgreifen fundamentalistischer, extremistischer und da und dort auch antisemitischer Borniertheit.

Toleranz ist eine Tugend. Sie gehört zur Grundausstattung eines jeden Demokraten. Aber der Umgang damit ist nicht frei von Zweideutigkeien.

Toleranz kann heißen: den anderen ertragen, gewähren lassen, aber nichts gemein haben mit ihm; ihn dulden und darauf achten, daß man sich bei der Wahrnehmung von Interessen nicht in die Quere kommt und Überzeugungen den Interessen nicht schaden.

Auf diesem Wege rückt Toleranz in die Nähe von Gleichgültigkeit. Theodor Fontane: „Ignorieren ist noch keine Toleranz. Nur allzu gerne verstecken wir Gleichgültigkeit hinter der Toleranz und machen daraus, ein zivilisatorisches Feigenblatt.“

Der Rassenwahn der Nazis konnte wirken, weil Wille und Überzeugung fehlten, sich zu wehren. Der andere, der Jude, war ja nur geduldet. Wirkliche Toleranz ist etwas anderes: Interesse, Aufgeschlossenheit, Verständnis, Einfühlung, mit Herz und Verstand dem Wesen und dem Anliegen des anderen begegnen; und überall zuerst den Menschen sehen und erst dann den Christen, den Juden, den Muslim, den Türken, den Italiener oder Polen.

Es ist mir darum zu tun, daß die ehemalige Synagoge, soweit sie nicht ihrem Ursprungssinn als Gotteshaus zugeführt werden kann, zu einer Stätte der Begegnung zwischen Juden und Christen, zwischen den hier lebenden Deutschen und der jüdischen Diaspora aus aller Welt wird. Und ich möchte in meiner Hoffnung noch einen Schritt weiter gehen: Juden selbst sollten hier in Sulzburg, wie an vielen anderen Orten unseres Landes, wieder ein Zuhause finden.

Rund eine halbe Million Juden lebten bis zur Machtergreifung Hitlers in Deutschland. Heute sind es erst wieder knapp zehn Prozent davon. Wir müssen wieder von vorne anfangen, uns neu kennen und verstehen lernen. Dies schaffen wir nicht auf Distanz und nicht über das Medium theoretischer Kenntnisse, sondern nur im Zusammenleben unter Menschen und Bürgern. Daß solches Zusammenleben zwischen Juden und nichtjüdischen Deutschen an vielen Orten Deutschlands wieder möglich wird und daß Sulzburg dafür zu einem Beispiel werden kann, ist mein Wunsch.


Jahrgang 3/1996 Seite 32



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