Der katholische Bischof Joachim Reinelt, Dresden, und der evangelische Bischof Volker Kreß, Dresden, haben am 5. April 1995 das folgende gemeinsame Wort verfaßt:
Juden in aller Welt begehen jährlich den Gedenktag an die Vernichtung der Juden in Europa am 27. Nisan, dem Yom Ha Shoah. Er fällt in diesem Jahr nach unserem Kalender auf den 27. April, kurz bevor wir am 8. Mai des Kriegsendes gedenken.
Der jüdische Gedenktag soll auch für uns Christen Anlaß sein, der sechs Millionen Juden, darunter eine Million Kinder, die in den Jahren 1933 bis 1945 durch das nationalsozialistische Deutschland ermordet worden sind, zu gedenken und neue Wege des Verständnisses zwischen Juden und Christen und zum Staat Israel zu gehen.
Vor 50 Jahren öffneten sich nach der Befreiung durch alliierte Streitkräfte die Tore der Vernichtungslager. Das Ende des Krieges brachte den Gefangenen die Freiheit. Für die Überlebenden war unfaßbar, was sie erlebt hatten. Jetzt war vor aller Augen, was viele nicht für möglich hielten: Bilder der Verbrennungsöfen und der Massengräber. Doch erst nach und nach sind einige Christen der Frage nachgegangen, welche Schuld sie selbst auf sich geladen haben, indem sie an dem Haß gegen Juden durch ihr Schweigen, aber auch durch ihr Handeln teilhatten. Die alte Frage „Wo ist dein Bruder Abel?“ ist an uns Christen gerichtet. Seit Jahrhunderten sind Juden als „Gottesmörder“, die am Tod Jesu Christi schuldig geworden seien, immer wieder verachtet, verfolgt und vertrieben worden. Das hat den Weg nach Auschwitz geebnet. Die Erinnerung deckt auf, wozu Menschen fähig sind.
Christen haben in den Juden nicht ihre älteren geistlichen Geschwister erkannt, sondern ihr Anderssein verurteilt. Wir sollten heute dankbar unsere gemeinsamen geistlichen Wurzeln erkennen. Von Israel haben wir die Zehn Gebote gelernt, die das Leben schützen. Mit den Juden beten wir die Psalmen. Wie sie finden wir in den Worten der Propheten Orientierung für das Zusammenleben und neue Hoffnung. Wir werden bereichert, wenn wir im Unterricht und bei anderen Zusammenkünften uns mit jüdischem Leben und jüdischer Frömmigkeit vertraut machen. Wo es möglich ist, sollten wir die Verbindung zu jüdischen Gemeinden suchen. Auch heute, 50 Jahre nach Kriegsende, wird uns die Frage gestellt: „Wo ist dein Bruder Abel?“ Auch in diesen Tagen dürfen wir alte und neue Schuld nicht verdrängen. Die Erinnerung mahnt uns, zu Unrecht nicht zu schweigen, andere nicht auszugrenzen und zu einem menschenwürdigen Leben für alle beizutragen.
aus: „Die Kirche“ vom 14. April 1995
Jahrgang 3/1996 Seite 38