Geschichte und Vermächtnis aus zwei Jahrtausenden. Original: Los judíos de Europa. Übersetzt aus dem Spanischen von Gina Beitscher. Wilhelm Heyne Verlag, München 1994. 240 Seiten.
Woher kommen eigentlich die Juden in den Ländern Europas, was ist eine Menora, ist ein Rabbi ein Priester? Das wissen natürlich Juden, aber Nichtjuden wissen es meistens nicht oder nur ungefähr.
Die beiden Wissenschaftler Elena Romero Castelló und Uriel Macías Kapón haben es unternommen, ein Buch herauszubringen, das auf solche Fragen Antwort gibt; keine trockene schulmeisterliche Belehrung, sondern interessant und informativ, reich illustriert und sehr sorgfältig in Druck und Bildwiedergabe.
In Abschnitte aufgeteilt erfährt man, d. h. vor allem eben nichtjüdische Leser, woher die Juden in Europa ursprünglich kamen, warum und wie lange sie schon da sind. Faszinierend, aufs Wesentliche ausgerichtet. Eine lebendige Abfolge der Ereignisse entrollt sich: Die Zerstreuung der Juden nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 der christlichen Zeitrechnung führt einen Teil des Volkes, auf der Suche nach neuen Heimstätten, über Afrika nach dem Sepharad (hebräische Bezeichnung für Spanien) und später weiter nach Norden und Osten. Während ihrer erzwungenen Wanderschaft gab es lange Zeiten, in denen Kirche und christliche Höfe „ihre“ Juden schützten und achteten. Das friedliche Zusammenleben war ungemein fruchtbar für beide Seiten — für die Juden allerdings immer in Abhängigkeit und auf dem unsicheren Grund der oft jäh verweigerten Duldung und Geneigtheit der Beschützer. So ist man immer wieder erschüttert und entsetzt über die bald 2000jährige unmenschliche Verfolgung und den abgrundtiefen, aus Neid und Mißgunst geborenen Haß gegen die Juden überall, wo sie sich ansiedelten und segensreich wirkten.
Die meist großformatigen, sehr bedachtsam ausgewählten Bilder bereichern und vertiefen den Text. Die Auslese dieser Bilder ist höchst geschickt und aufschlußreich. Die Autoren haben sich große Mühe genommen, in Bibliotheken und Museen nicht nur Einschlägiges, sondern auch wenig Bekanntes und Seltenes zu suchen. Darstellungen der ältesten Zeugnisse bis zu den modernen, die meisten von hohem künstlerischen Wert.
Der mittlere Teil des Buches ist den jüdischen Riten und Gebräuchen und dem familiären Leben gewidmet. Viele Kultgegenstände und Dinge des Haushalts werden auf den Bildern vorgestellt und im begleitenden Text und den Bildlegenden anschaulich erläutert.
Die Passage über die jüdische Literatur seit der Antike über die judäospanische, chassidische, jiddische bis zur heutigen hebräisch-israelischen stellt den Schwerpunkt des Bandes dar, weil hier auf die Bedeutung des jüdischen Beitrags zur Philosophie der Welt hingewiesen wird. Literatur ist für das Volk des Buches das genuine Mittel, seine Überlieferung und sein Wissen weiterzugeben und damit sein Fortbestehen zu gewährleisten. Ein letztes Kapitel befaßt sich mit der Bereicherung des modernen Theaters und der Musik, vor allem jedoch des Films durch die Kreativität der Juden. Hier erwarten den Leser einige Überraschungen: Namen von weltbekannten Schauspielern und Regisseuren, z. B. Paul Newman, Claire Bloom, Simone Signoret, Peter Sellers, Alexander Korda und viele mehr. Es würde zu weit führen, alle die berühmten jüdischen Maler und Bildhauer, Komponisten und Interpreten, die im Buch genannt sind, aufzuführen, die uns in Museen und Konzerte locken.
Ein am Schluß beigefügtes Glossar und Namensregister erweist sich als sehr hilfreich für die Orientierung.
Die abstammungsmäßige Verbundenheit der beiden jüdisch-iberischen Verfasser bedingt die Verbundenheit und die nachhaltige Betonung des Ranges, den sie den Sephardim, den Juden der Iberischen Halbinsel, beimessen. Sie heben die dort betriebene Wissenschaft und Kunst hervor, die eigene Sprache und Riten, die für alle nützliche friedliche Integration in der muslimisch-christlichen Gesellschaft bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, dem Beginn der Inquisition.
Das Buch, an interessierte Laien gerichtet, aber auf soliden wissenschaftlichen Grundlagen beruhend, führt diesen Laien wieder sehr schmerzlich vor Augen, welcher Verlust der Judenhaß der Welt durch die Jahrhunderte, und ganz besonders in unserem, durch den Antisemitismus und die Schoa entstanden ist. Ohne viele Worte, bloß durch den Hinweis, was alles nicht mehr vorhanden ist.
Eva Auf der Maur
Jahrgang 3/1996 Seite 49