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Kustermann, Abraham P., Bauer, Dieter R. (Hg.)

Jüdisches Leben im Bodenseeraum

Zur Geschichte des alemannischen Judentums mit Thesen zum christlich-jüdischen Gespräch. Schwabenverlag, Ostfildern 1994. 299 Seiten.

Die vorliegende Aufsatzsammlung geht der Geschichte und Kultur jüdischen Lebens im Bodenseeraum nach. Der Band ist die Dokumentation der Sommerakademie der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, die 1993 im Tagungshaus Weingarten stattgefunden hat, und vereinigt zwölf Beiträge zu den Themen Geschichte/Kulturgeschichte, Kunst, Verfolgung und christlich-jüdisches Gespräch. Die ersten beiden Aufsätze (19-36; 37-58) bieten einen eher summarischen Überblick über die Geschichte des „alemannischen Judentums“ im Mittelalter (Karl-Heinz Burmeister) und über die der jüdischen Dörfer nördlich des Bodensees in der Neuzeit (Paul Sauer). Exemplarisch zeichnet Ernst Schäll die Geschichte der jüdischen Gemeinde Laupheim nach (59-89). Besonders spannend sind diejenigen Beiträge, die das alltägliche jüdische Leben am Bodensee zum Thema haben. So verfolgt etwa der Beitrag Gisela Romings (91-108) die Folgen der beginnenden Emanzipation der Juden im 19. Jahrhundert am Beispiel der Hegaugemeinden Gailingen, Randegg, Wangen und Worblingen: Durch die Angleichung der jüdischen Religionsgemeinschaft an die christlichen Kirchen veränderte sich die Stellung der Rabbiner, denen die Jurisdiktion über ihre Gemeinde entzogen wurde und denen in den Synagogenräten ein durchaus selbstbewußtes Gegenüber erwuchs, wie es die Konflikte innerhalb der Gemeinde Gailingen zeigen. Informativ ist auch der Einblick in den jüdischen Schulbetrieb dieser Gemeinde. Ergänzt wird dieser Blick auf die Hegauer Gemeinden durch den Aufsatz Abraham P. Kustermanns (133-155), der der strukturellen Seite dieses Wandels nachgeht und den Prozeß der „Konfessionalisierung“ des baden-württembergischen Judentums beleuchtet: Nach 1828 wurde der Status der Rabbiner den christlichen Geistlichen angepaßt und deren Ausbildung neu geregelt: Ab jetzt genügte die traditionelle jüdische Ausbildung nicht mehr. Künftige mosaische Geistliche, denen ja die sittliche Erziehung jüdischer Staatsbürger oblag, hatten auch an der Universität zu studieren und vor einer staatlichen Behörde ein Staatsexamen abzulegen. Wie tief und abrupt der Wandel war, mag daraus ermessen werden, daß sich 1834 sämtliche der 51 amtierenden Rabbiner dieser Prüfung unterziehen mußten und 45 davon entlassen wurden, weil sie durchgefallen waren. Die Schweizer Verhältnisse beleuchtet Uri R. Kaufmann anhand des Endinger Pädagogen und Politikers Marcus Getsch Dreifus (109-132).

Kunst und Kultur des jüdischen Lebens am Bodensee kommen anhand eines Porträts (Manfred Bosch) und eines Textes des Wangener Dichters Jacob Picard, des Jüdischen Museums in Hohenems (Eva Grabherr) und eines Überblicks über jüdische Architektur und Baukunst in der Bodenseeregion (Joachim Hahn) zur Sprache. Es ist bei der Lektüre dieses Teiles besonders erschütternd, wie wenig von dieser Kultur die Reichspogromnacht und die Nachkriegszeit überlebt hat.

Der „regionale Teil“ findet seinen Abschluß im Bericht über das Schicksal der Konstanzer Gemeinde im „Tausendjährigen Reich“, das Erhard R. Wiehn anhand von Interviews mit Zeitzeugen nachzeichnet (213-237). Das Ende des Bandes bilden zwei Beiträge zum jüdisch-christlichen Dialog: Der eine stammt vom katholischen Theologen Rupert Feneberg (241-279) und zeichnet anhand ausgewählter Dokumente die Entwicklung der Haltung der Kirchen gegenüber dem Judentum seit 1945 nach. Von einem anfänglichen Unverständnis weiter kirchlicher Kreise beider Konfessionen verlief diese Entwicklung über ein neues Interesse am Judentum und eine theologische Neubewertung des Judentums (Stichwort: der nie gekündigte Bund) zu einem veränderten Blick auf die eigene Identität. Wesentlich pessimistischer fällt dagegen der Beitrag des Landesrabbiners Joel Berger aus (281-296), für den es aus geschichtlichen, politischen und theologischen Gründen schlicht keinen Dialog gibt und zu geben braucht. Wichtiger ist für ihn eine jüdisch-christliche Solidarität und gegenseitige Toleranz. Mich hat diese polemisch pointierte Absage an jeglichen jüdisch-christlichen Dialog allerdings etwas ratlos zurückgelassen: Es wäre hier nachzufragen, ob beide Theologen dasselbe meinen, wenn sie von „Dialog“ sprechen, ob gegenseitige Toleranz wirklich möglich ist, ohne sich mit dem anderen auseinanderzusetzen oder ob es einer Religionsgemeinschaft nicht vielleicht doch förderlich ist, etwas über die eigenen Grenzen zu schauen.

Insgesamt bietet der vorliegende Band ein facettenreiches Bild einer im allgemeinen wenig beachteten Kultur im Südwesten Deutschlands. Die Organisatoren haben für ihre Sommerakademie und die daraus hervorgegangene Publikation kompetente Mitwirkende gewinnen können und ein hohes Niveau damit erreicht. Bei einzelnen Beiträgen hätte eine kapitelweise Gliederung die Übersicht erleichtert, die meisten sind jedoch informativ und sehr gut lesbar. Erwachsenenbildung in diesem Rahmen, das macht die Publikation deutlich, ist zu einem unverzichtbaren Teil unseres Bildungswesens geworden und kann einen wichtigen Beitrag zur Identitätsstiftung in einer immer vielschichtiger werdenden Welt leisten.

Hans A. Rapp


Jahrgang 3/1996 Seite 52



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