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Lenzen, Verena

Jüdisches Leben und Sterben im Namen Gottes

Kiddusch Ha-Schem. Verlag R. Piper, München 1995. 278 Seiten.

Verena Lenzen, Jahrgang 1957, ist heute, nach ihrer Habilitation im Jahre 1994 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn, die erste Frau im Fach Moraltheologie im deutschen Sprachraum. Das vorliegende Buch über Kiddusch Ha-Schem, die Heiligung des göttlichen Namens im Judentum, stellt ihre Habilitationsschrift dar und erweist die Verfasserin als überaus kenntnisreich auf sehr verschiedenen Gebieten.

Verena Lenzen studierte Katholische Theologie, Philosophie, Germanistik und Judaistik an den Universitäten Bonn und Köln.

Bereits in ihrer Dissertation (1987) befaßte sie sich mit dem Phänomen des Freitodes, und dieses Thema hat sie nicht mehr losgelassen. In der vorliegenden bedeutenden Studie wurde nun der Schritt vom Freitod zum Martyrium vollzogen, das im Judentum unter dem Begriff „Kiddusch Ha-Schem“ kulminiert.

Verena Lenzen weist aber nach, daß dies eine Einschränkung des Begriffes bedeutet, der sich eigentlich auf die ganze Heiligung des Lebens und des Todes bezieht.

In ihrem autobiographisch gehaltenen Vorwort erzählt die Verfasserin, wie sie als Kind eine Heilige werden wollte und schließlich eine wissenschaftliche Chronistin des Heiligen wurde.

Sie beginnt ihre Studien über die Heiligung des göttlichen Namens mit einer Analyse des Begriffes Kiddusch Ha-Schem und geht auf die hermeneutischen Bedenken ein, die sich solcher Definition entgegenstellen, da der Begriff eigentlich kein biblischer, sondern nachbiblischer ist.

Im folgenden Abschnitt wird die Entwicklung des Begriffes geschichtstheologisch untersucht.

Der Weg führt von der Akeda, der Bindung Isaaks (Gen 22), zum Midrasch (Gen Rabba) zu den Makkabäerbüchern, in welchen zum ersten Mal der Gedanke des Martyriums im Judentum anklingt.

Verena Lenzen zeigt hier außerordentlich vielseitige Kenntnisse. In der Sprachanalyse erweist sie sich als Hebraistin, wobei allerdings die sehr komplizierte Transkription hebräischer Wörter die Lektüre erschwert. Es ist leichter, solche Zitate in hebräischer Schreibweise zu lesen. Wer nicht Hebräisch versteht, wird die Transkription auch nicht verstehen.

Bei der Behandlung der Bindung Isaaks fügt sie einen kunsthistorischen Exkurs ein, der die Darstellung dieser prägenden Szene, von frühen Mosaiken über die meisterliche, mehrfache Behandlung des Stoffes durch Rembrandt, bis zu Chagall und Kadischmann interpretiert, wobei sie sich auch als Kunsthistorikerin legitimiert.

Vom Martyrium in den Makkabäerbüchern führt der Weg zur Martyriologie der Kreuzzüge, die in ergreifenden Klagegesängen des jüdischen Mittelalters heraufbeschworen werden.

Aber es bleibt natürlich nicht bei der Geschichte vergangener Zeiten und Unzeiten, sondern nun wird die jüngste Vergangenheit, der Holocaust, die Vernichtung von Millionen Juden in den Unheilsjahren 1933 bis 1945 durch die Deutschen und ihre Helfershelfer, sichtbar. Verena Lenzen zitiert hier Augenzeugen des unfaßbaren Geschehens.

Im Geleitwort habe ich darauf hingewiesen, daß Hitler den Juden sogar die Würde des Martyriums genommen hat. Verena Lenzen aber zeigt, wie zahllose Juden bewußt ihre Ermordung in den Vernichtungslagern zu einer Demonstration des Kiddusch Ha-Schem gestalteten, indem sie mit dem „Schma Jisrael“ auf den Lippen und dem Gesang der eschatologischen Hoffnung: „Ich glaube an das Kommen des Messias“ in das Gas gingen. Sie schildert tief ergreifende Einzelfälle, immer wieder das Zeugnis der Überlebenden oder den Nachlaß der Geopferten zitierend.

Weiterhin erläutert Verena Lenzen nun die Wandlung des Begriffes der Heiligung des göttlichen Namens in und durch die Schoa, den Holocaust.

In Sprache und Schweigen spürt die Autorin Zeugnissen der Schoa nach und konfrontiert das Problem der Theodizee, des Zidduk Hadin, der Rechtfertigung Gottes, angesichts solcher Katastrophe, dem Problem der Anthropodizee, der Rechtfertigung des Menschen angesichts der vollkommenen Unmenschlichkeit. Wer ist schuldig? Gott oder der Mensch selbst; Gott, der dem Menschen die Freiheit zur Untat gewährt, oder der Mensch, der die Freiheit zur Untat mißbraucht? Ewige Fragen, die nie voll beantwortet werden können.

Den Abschluß des Buches bildet das Kapitel „Von der Botschaft des Begriffs, Moraltheologische Gedanken“ zum Kiddusch Ha-Schem. Die Verfasserin wird sich voll bewußt, daß man eine Geschichte, die mit Blut geschrieben ist, nicht mit schwarzer Tinte aufzeichnen kann, denn der Blick der Toten von Auschwitz läßt jedes Wort erstarren.

Der Verfasserin war daran gelegen, den „hebräischen und jüdischen Schriften in ihrem inneren Gefälle zu folgen und nicht vorab die Wahrnehmung durch systematische Begriffe und moderne moraltheologische Kontroversen zu verstellen.

Noch einmal betont die Autorin, daß Kiddusch Ha-Schem die Heiligung des ganzen jüdischen Lebens meint und nur in Extremfällen den Märtyrertod. Der Begriff, so könnte man sagen, darf nicht in eine Todesmystik verengt werden, sondern führt in das gelebte Leben des Juden, im Bewußtsein seiner Zeugenschaft für Gott.

Mit dem großen katholischen Theologen Romano Guardini bekennt sich Verena Lenzen zur Kollektivverantwortung des deutschen Volkes und der Kirche gegenüber dem ungeheuerlichen Geschehen des Holocaust. So wird ihr Buch ein Dokument echter Solidarität mit Israel, dessen Geist und Geschichtsschicksal sie tief empfunden hat.

Schalom Ben-Chorin


Jahrgang 3/1996 Seite 56



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