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Friedlander, Albert H.

Das Ende der Nacht

Jüdische und christliche Denker nach dem Holocaust. Christian Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1995. 336 Seiten.

Albert Friedlander (geb. 1927 in Berlin) eröffnet ein großes Gespräch mit den jüdischen und christlichen Denkern nach dem Holocaust. Ihm geht es dabei nicht primär um eine historische Darstellung vieler Positionen, so sehr das Buch auch unter diesem Aspekt den Leser gut informiert. Erst recht finden wir hier keine Systematik jüdischer Lehre nach der Schoa oder eine ausgearbeitete jüdische „Theologie nach Auschwitz“ — ein Terminus, den er nicht besonders schätzt. Er stellt sich hier mit großer innerer Bewegung den letzten Fragen über Gott und den Menschen, über das Leiden und die Bosheit, über Verzweiflung und Hoffnung. Diese Fragen geht er von verschiedenen Seiten an. Er umkreist und wiederholt sie und findet in dieser suchenden Fragebewegung wichtige Einsichten.

Eine der wichtigsten Metaphern des Buches, die an ungezählten Stellen vom Anfang bis zum Schluß wiederkehrt, ist die von den „Reitern in die Morgendämmerung“. Gleich am Anfang tauchen sie auf:

Wir hetzen heute durch eine verdüsterte Welt und haben kaum mehr Zeit, Unterweisung zu geben oder zu empfangen. Aber vor unseren Augen zeichnet sich die Silhouette einer kleinen Schar von Menschen ab, die ich die ,Reiter in die Morgendämmerung‘ nennen möchte: Menschen, die aus der Finsternis kommen und sie nicht vergessen haben, und die doch wissen, daß sie vorwärts gehen müssen, auf die Morgendämmerung zu, deren matten Schein sie vor sich haben (12).

Was diese einzelnen Reiter zu sagen haben, interessiert ihn mehr als alle Fertigprodukte und Traktate der Religion. Und darum beginnt er hier zu erzählen:

Ich erzähle hier von meiner eigenen Reise, als einer, der einen, oder vielmehr viele Lehrer gefunden hat. Da ist mein geistiger Mentor und Freund, George Steiner. Da ist mein Rabbiner, Leo Baeck. Mein Rebbe, Ehe Wiesel. Und dann sind da die vielen Kollegen, mit denen ich ein Stück des Weges gegangen bin, von Eugene Borowitz und Stephen Schwarzschild bis hin zu Zweiflern und Skeptikern, von denen ich noch immer viel lerne. Ich bin eine ständige Enttäuschung für sie alle, weil ich mich keinem von ihnen ganz verschreibe, unter den Schutz seines Systems krieche und beschließe, daß ich jetzt meinen sicheren Hafen gefunden habe. Ich kann das einfach nicht, und ich kann es auch niemandem empfehlen. Es ist meine Hoffnung, daß sich noch viele dem kleinen Trupp der ,Reiter in die Morgendämmerung‘ anschließen, denn ich habe das Gefühl, daß sie in die richtige Richtung reiten (13).

Und dann erzählt er unermüdlich von den sinnenhaften und geistigen Begegnungen dieser Reise aus der Dunkelheit in die Morgenröte. Dabei trifft er im Buch zuerst auf das traditionelle Judentum, das nach Auschwitz auf der Suche nach Antworten ist. Er setzt sich auseinander mit Yitzchok Hutner, Michael Wyschogrod, Immanuel Jakobovits, Eliezer Berkovits und Iring ,Yiz‘ Greenberg. Er beschreibt das orthodoxe Denken, das in der Schoa eine Strafe Gottes für die Sünden Israels sieht, und stellt sich dem modifizierten Versuch, das jüdische Leiden als Stellvertretung für die Bosheit der Menschen zu verstehen. Für Friedlander ist dieses Denken bei dem Bemühen, die Lehren der Vergangenheit auf die Gegenwart anzuwenden, gescheitert. Friedlander befragt auch progressive und radikale jüdische Denker wie Ignaz Maybaum, Dow Marmur, Simon Wiesenthal, Eugene Borowitz, Stephen Schwarzschild, Eugen Täubler. Hier findet er Anregungen, die er in sein Denken und Empfinden aufnehmen kann. Vor allem ist es Leo Baeck, der ihn beeinflußt hat und der ihm Vorbild wurde:

Leo Baeck war für mich von Anfang an die zentrale Gestalt, die mein Verständnis vom Judentum entscheidend beeinflußte. Als kleiner Junge durfte ich bei besonderen Gelegenheiten mit in die Synagoge in der Fasanenstraße in Berlin, wo ich Worten lauschte, die ich nicht verstand. Hoch oben auf der Kanzel hielt Rabbiner Leo Baeck eines seiner ,Zwiegespräche mit Gott‘, wie manche Mitglieder des Gemeinderates seine Predigt zu bezeichnen pflegten. Dem konnte ich nur beipflichten — was nicht heißen soll, daß ich nicht tief beeindruckt war. Viel später, nach dem Krieg, kam Leo Baeck dann als Lehrer ans Hebrew Union College. Und ich stellte fest, daß da ein Mann war, der die tiefste Finsternis, das Konzentrationslager, überlebt und dabei seinen Glauben und eine Heiterkeit bewahrt hatte, die prägend für mein Leben werden sollten. Damals hatte ich das Bild von den ,Reitern in die Morgendämmerung‘ noch gar nicht bewußt entwickelt, und doch war mir klar, daß ich hier einem Boten begegnet war, einem klassischen Lehrer des Judentums, der uns aus der Finsternis ins Licht führen konnte (137).

Im Zusammenhang mit Baeck bildet sich Friedlanders eigene theologische und ethische Grundeinstellung:

Man hat Baeck vorgeworfen, daß er in Theresienstadt den christlichen Häftlingen ebenso seelsorgerischen Rat und Beistand leistete wie den Juden. Vielleicht ist gerade das die Lehre, die unsere Zeit am dringendsten braucht: Je treuer wir unserem eigenen Glauben sind, desto bereitwilliger können wir unserem Nächsten die Hand entgegenstrecken — das ist der Weg, der ins Licht führt (144).

In der großen Auseinandersetzung mit der Schoa zeigt sich ihm oft, daß die große Herausforderung immer noch Zeugen hervorbrachte, die Mut und Menschlichkeit bewiesen. Erschütternd und voll tiefer Weisheit sind die halachischen Entscheidungen der Rabbinen in den Todeslagern. Mit allen Fragen, die gestellt wurden, mit allen Antworten, die versucht wurden, mit allen Einstellungen, die gelebt wurden, setzt sich der Autor verständnisvoll und kritisch zugleich auseinander. Er wehrt sich gegen den Vorschlag, daß der Holocaust den theologischen Sinn gehabt haben könne, zum Staat Israel zu führen (68).

Die These vom leidenden Gott oder vom Gott, dem die Allmacht abzusprechen ist, kann er sich nicht zu eigen machen. Er findet die jüdischen Traditionen hilfreicher, in denen Gott selbst trauert. Viele Juden konnten nur deshalb Trost finden, weil sie Gott weinen hörten.

Lehrreich ist die Auseinandersetzung Friedlanders mit jüdischen Wissenschaftlern, Denkern und Schriftstellern wie Lucy Dawidowicz, Richard Rubenstein, Viktor Emil Frankl, Bruno Bettelheim, Eugene Heimler, Emil Fackenheim, Elie Wiesel und vielen anderen. Erste Hinweise findet man auch zu Emmanuel Lévinas. Enttäuschend knapp und darum nicht ergiebig sind dagegen die Ausführungen zu Hans Jonas. Eine Stellungnahme Friedlanders gerade zu diesem wichtigen Philosophen und seiner Schrift „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“ hätte sehr interessiert. Auch die das Judentum provozierenden Thesen von Yeschayahu Leibowitz werden nicht diskutiert.

Beeindruckend ist seine Hochachtung für evangelische Christen wie Martin Niemöller, der Widerstand leistete, und Dietrich Bonhoeffer, der ermordet wurde. Sie haben zu einem positiven Verständnis des Judentums schon in einer Zeit gefunden, als ihre Kirche noch kaum Sinn dafür zeigte. Respektvoll wird auf Kurt Gerstein hingewiesen, der als Katholik in die SS eintrat, um Einblick in das entsetzliche Verbrechen zu bekommen, aber keinen Glauben fand, als er kirchlichen Stellen davon Mitteilung machte. Dankbar werden die Begegnungen mit Johann Baptist Metz und Dorothee Sölle erwähnt. Leider ist aber im ganzen Buch und vor allem in dem Abschnitt über „Die Christen und die Schoa“ das katholische Bemühen um ein Neuverständnis des Judentums seit dem 2. Vatikanischen Konzil bis hin zu Papst Johannes Paul II. nur sporadisch berücksichtigt. In einem sehr umfangreichen Teil untersucht Friedlander die Holocaust-Rezeption in Amerika, Deutschland, Frankreich, Italien und Israel.

Voll Bewegung nimmt man zur Kenntnis, wie er auf die Welt der Dichter hinweist, die eine andere Sprache gefunden haben als die Theologen und Philosophen, Historiker und Psychologen. Die Auswahl und Deutung einzelner Gedichte von Paul Celan, Nelly Sachs und Erich Fried gehört zu den besonders gelungenen Partien des Buches.

Am Schluß faßt Friedlander seine Odyssee unter dem Leitmotiv des ganzen Buches noch einmal als „Meine Reise in die Morgendämmerung“ zusammen. Das Buch, das wahrlich das Dunkel der Gegenwart kennt, schließt mit den zuversichtlichen Sätzen:

Ich werde in meiner Reise Erfüllung finden, auch wenn ich nicht ans Ziel komme. So vieles geschieht schon auf dem Weg, so viele Begegnungen warten auf uns. Viele ,Reiter in die Morgendämmerung‘, von denen wir lernen, sind ebenfalls nicht ans Ziel gekommen, doch sie sandten ihre Botschaft voraus aus der Finsternis, dem Licht entgegen. Es ist wichtig, daß ihre Stimmen vernommen werden. Wir, die Erinnerer, werden ihr Leben bewahren und die Finsternis beklagen, die sie zerstörte. Wir werden uns aber auch die Freude nicht nehmen lassen an dem Guten, das Bestand hat (322).

Werner Trutwin


Jahrgang 3/1996 Seite 123



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