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Lucas, Franz D. (Hg.)

Geschichte und Geist

Fünf Essays zum Verständnis des Judentums. Duncker & Humblot, Berlin 1995. 126 Seiten.

Anläßlich des 50. Todestages von Rabbiner Dr. Leopold Lucas, der am 13. September 1943 im Konzentrationslager Theresienstadt starb, hat die Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Tübingen im Wintersemester 1993/94 mit einer Vortragsreihe des bedeutenden Rabbiners und jüdischen Gelehrten gedacht.

Der 1872 in Marburg/Lahn geborene Leopold Lucas entstammte einer angesehenen Familie. Nach dem Studium an der Berliner Universität und der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums promovierte er in der Philosophischen Fakultät der Tübinger Universität und war dann 40 Jahre Rabbiner der jüdischen Gemeinde im niederschlesischen Glogau, widmete sich jedoch auch — wie zahlreiche andere Rabbiner jener Zeit — der wissenschaftlichen Arbeit. 1940 erhielt er einen Ruf an die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin, im Dezember 1942 wurde er in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert.

Den Mittelpunkt der fünf Tübinger Vorträge, die in dem vorliegenden Buch zusammengefaßt sind, bildet Stefan Schreiners Würdigung des bedeutendsten wissenschaftlichen Werkes von Leopold Lucas „Zur Geschichte der Juden im vierten Jahrhundert — Der Kampf zwischen Christentum und Judentum“. Es geht dabei um die Frage, wie der endgültige Bruch zwischen Judentum und Christentum zu erklären ist. Schreiner stellt eingehend „L. Lucas‘ Interpretation des jüdisch-christlichen Schismas“ (so der Titel seines Vortrags) dar und hebt dabei Lucas‘ umfassende Kenntnis der Kirchenväter-Literatur und deren sorgfältige Auswertung hervor. Dem sei es zu danken, daß die Arbeit Lucas‘, die 1910 erschien, auch noch am Ende dieses Jahrhunderts nicht veraltet ist. Sie wurde denn auch vor einigen Jahren neu gedruckt.

Die Reihe der Essays wird eröffnet mit dem Beitrag von Dieter Langewiesche „Revolution und Emanzipation 1848/49: Möglichkeiten und Grenzen“. Die inhaltsreiche, auf dem neuesten Forschungsstand fußende Abhandlung kann hier nicht entfaltet werden. Die Bilanz der Untersuchung besteht darin, daß die Revolution von 1848/49 den Prozeß der Judenemanzipation, der schon früher eingesetzt hatte, weiter bestärkte, indem sie zeigte, daß die politisch-rechtliche Gleichstellung der Juden möglich war, ohne daß die Juden aufhören mußten, Juden zu sein. Aber es war offen geblieben, wie diese Gestaltungsräume von den deutschen Juden genutzt werden würden.

Der darauf folgende Beitrag von Oswald Bayer geht der Frage nach dem Judentum in der Philosophie Max Horkheimers nach. Der Titel „Die Furcht, daß es Gott nicht gebe“ nimmt einen Satz Horkheimers auf, in dem sich dessen „ganzes Denken, Wollen und, vor allem, Leiden konzentriert und zuspitzt“. Bayer untersucht, was jene Furcht besagt und wo sich Judentum in Horkheimers Philosophie erkennen läßt. Er zeigt im zusammenfassenden Schlußteil, daß das Judentum bei Horkheimer von einer „metaphysischen Trauer“ überschattet ist, die er weniger mit dem Judentum teilt als mit Schopenhauer.

Mit „Martin Bubers philosophisch-pädagogischen Anschauungen auf dem Hintergrund des Chassidismus“ befaßt sich Karl Ernst Nipkow. Er schildert Bubers pädagogischen Ansatz anhand zweier Reden Bubers über Erziehung aus den Jahren 1925 und 1935, in denen jeweils der zeitgeschichtliche Horizont den aktuellen Bezugspunkt bildet. Abschließend wird die Bedeutung Bubers für die gegenwärtige geistige Situation knapp angedeutet, die darin besteht, daß die Spannung zwischen Identität und Universalismus überwunden wird durch die Hinwendung zum anderen.

Den „Nachwirkungen des Antisemitismus der NS-Zeit im geteilten Deutschland“ spürt Anselm Doering-Manteuffel nach. Er beschreibt einige Grundzüge der Nachkriegsentwicklung, an denen erkennbar ist, daß es in beiden deutschen Staaten im Zuge der Neuorientierung keine ernsthafte öffentliche Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit gegeben habe. Im Westen hätten sich zwar Wissenschaftler damit beschäftigt, aber in der Öffentlichkeit sei das Thema tabuisiert worden; im Osten hätte der staatlich verordnete Antifaschismus überhaupt keine Diskussion über die NS-Vergangenheit ermöglicht. Wie weit die angedeutete Parallelität beider deutscher Staaten hinsichtlich des Antisemitismus wirklich geht, dürfte indessen eine nicht nur formale Frage sein. Als Aufgabe für die Zukunft nennt der Autor die Notwendigkeit, den Mangel an Sachkenntnis bei der Bevölkerung der neuen Bundesländer auszugleichen. Im Blick auf alle Deutschen gelte es, „daß das Wissen um die Geschichte des Antisemitismus und der Verantwortung für den Mord am europäischen Judentum nicht nur bei Feiertagsritualen aktiviert, sondern zum selbstverständlichen alltäglichen Bewußtsein wird.“

Gottfried Mehnert


Jahrgang 3/1996 Seite 130



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