Reflexionen über den ersten Kreuzzug vor 900 Jahren
1. Eine naive Papstrede
Guibert von Nogent (1055-1125), ein gebildeter Mönch und Chronist, war dabei, als Papst Urban II. im November 1095 anläßlich des Abschlusses des Konzils von Clermont die Christenheit feierlich aufrief, den bedrängten Christen im Morgenland Hilfe und Entlastung zu bringen und das Grab Christi in Jerusalem aus der Gewalt der Muslime zu befreien. Guibert gibt die Papstrede, die das Zeitalter der Kreuzzüge einleitete, inhaltlich getreu wieder, obwohl er sie erst 13 Jahre später (1108) überwiegend aufgrund eigener Notizen aufgeschrieben hat.1 Papst Urban stellte folgende rhetorische Fragen:
Wo ist denn das Blut des Sohnes Gottes vergossen worden, das heiliger ist als Himmel und Erde? Wo hat sein Körper nach seinem Tod im Sturm der Elemente geruht? Wissen wir denn nicht, daß jener Ort eine besondere Verehrung verdient?
Dann begann der Papst die Heiligkeit und Kostbarkeit Jerusalems und des heiligen Grabes Jesu zu rühmen:
Diese Stadt ist schon damals, als unser Herr dort getötet worden ist, als sie noch in den Händen der Juden war, vom Evangelisten eine heilige Stadt genannt worden. Es heißt nämlich: ,Gräber öffneten sich, und viele Leiber der entschlafenen Heiligen wurden auferweckt. Sie kamen nach seiner Auferweckung aus den Gräbern hervor, gingen in die heilige Stadt und erschienen vielen‘ (Mt 27,52 f.). Schon der Prophet Jesaja sagt darüber: ,Seine Ruhestätte wird glorreich sein‘ (Jes 11,10). Diese Heiligkeit der Stadt, die ihr Gott selber durch sein Opfer gegeben hat, kann durch keine Schlechtigkeit zerstört werden; die Ehre des Grabes bleibt also unversehrt. Geliebte Brüder! Einigt also eure Anstrengungen, um die Heiligkeit dieser Stadt und die Ehre des Grabes zu verteidigen! Sie wird jetzt durch die Menge der Heiden in schwerster Weise beschmutzt. Wenn ihr euch nun zum Urheber dieser Heiligkeit und dieser Ehre hinwendet, wenn ihr die Spuren seiner Schritte auf Erden zu sehen wünscht und dies glühend begehrt, dann wird Gott vor euch herziehen und für euch kämpfen . . . Worauf also, ihr Soldaten Christi (milites Christi), wartet ihr? Es ist euch erlaubt, die Freiheit eures Vaterlandes (patria; gemeint ist das heilige Land) mit den Waffen zu verteidigen! Ihr wißt ja, daß die Gräber der Apostel und der anderen Heiligen auch um den Preis größter Pein besucht werden sollen! Weshalb zögert ihr also, das Kreuz Christi zu befreien, Blut und Grab Christi zu besuchen und den Preis eurer Seelen zu seiner Befreiung einzusetzen? Bisher habt ihr verbotene Kriege (bella indebita) geführt! Ihr habt euch gegenseitig umgebracht! Häufig habt ihr eure zornigen Pfeile abgeschossen, getrieben von Habsucht und Stolz! Dadurch habt ihr den ewigen Tod und die grausamen Foltern der Verdammnis verdient! Nun schlagen wir euch Kriege vor, die die glorreichen Möglichkeiten des Martyriums in sich tragen. Darin liegt Lob für die Gegenwart und für die Ewigkeit. Nehmen wir einmal an, Christus hätte nie gelebt, sei nie in Jerusalem gestorben und nie dort begraben worden. Sogar dann müßte euch allein schon die Tatsache, daß ,die Tora vom Zion ausgeht und das Wort des Ewigen von Jerusalem‘ (Jes 2,3), dazu treiben, diesem Land und dieser Stadt zu Hilfe zu eilen. Wenn Jerusalem tatsächlich die Quelle ist, von der all das ausgeströmt ist, was Bezug auf die Predigt Christi hat, dann müssen die über die ganze Erde zerstreuten Bäche in die Herzen aller Christen hineinströmen, damit sie hellhörig auf all das werden, was sie dieser unerschöpflichen Quelle verdanken.
Für viele Christenherzen klang diese imposante Papstrede idealistisch. Die Heiligkeit Jerusalems, das von Kalif Hakim kurz zuvor zerstörte Grab Christi im Zentrum der heiligen Stadt, die von Heiden derzeit verunmöglichten Pilgerfahrten an die heiligsten Stätten der Christenheit zur Vergebung der Sünden und der Hilferuf des byzantinischen Kaisers Komnenos — dies waren Punkte, die geradezu nach Abhilfe schrien! Die Papstrede gab auch religiösen Gefühlen mächtigen Auftrieb. Ritter und Landsknechte wußten sich nun beauftragt, im Namen und im Auftrag Gottes einen heiligen Krieg gegen Böse und Ungläubige zu führen: Gott will es! Gott ist unser Begleiter und Anführer! Niemand, der etwas auf Ehre, Tapferkeit und Wagnis hielt, wollte da zurückstehen. Ganz Europa geriet in Bewegung. — Der Papst merkte nicht, daß er mit seiner Rede einen Zunder für einen Brand legte, der in kurzer Zeit Europa, Kleinasien und das Heilige Land samt vielen Tausenden von Bewohnern zerstörte, und der auch die Fundamente des Christentums zum Zerbersten brachte.
2. Pervertierte Aufbruchstimmung
Allzu schnell und allzu grausam zeigte sich im folgenden Jahr, besonders zwischen Ostern und Pfingsten des Jahres 1096, die kirchenpolitisch und pastoral naive, unkluge und verheerende Seite des Papstaufrufes. Hurra, ein von Gott selbst geführter heiliger Pflicht-Krieg konnte begonnen werden: Ruhm, Ehre, Verzeihung und himmlisches Paradies lockten — gepaart mit Machtrausch, Habgier, Abenteuerlust, Haß und Mordlust. Religion und Macht, Idealismus und Verbrechertum, Militarismus und Landstreicherei reichten sich die Hände. In der etwa gleichzeitigen antichristlichen jüdischen Geschichtensammlung “Toledot-Jeschu” wird an Jesus, seiner Mutter und seinen Jüngern kein gutes Haar gelassen. In einem Punkte aber sei Jesus besser gewesen als die ihm folgende Christenheit. Bei seiner Verhaftung hatten die Jesusjünger “einen Krieg gegen die Abgesandten der jüdischen Weisen beginnen wollen”. Jesus aber habe “folgenden Ruf durch das Lager seiner Schar gehen lassen: Jeder stecke sein Schwert in die Scheide! Erhebt das Schwert nicht gegeneinander! Führt nicht um meinetwillen Krieg”.2

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Kreuzritter. Detail einer Plastik, 13. Jh., Kreuzfahrerburg Montfort |
Die jüdischen Verfasser der Toledot-Jeschu haben wahrscheinlich Mt 26,51-53 und Joh 18,11 auch deshalb so gedeutet, um die christlichen Kriegsgelüste in der beginnenden Kreuzzugszeit zu verhöhnen und anzuprangern. Aber weder der Papst noch die Ritterschaft, noch die sich sogleich wild formierenden Freibeuter hörten auf Jesu Wort — und schon gar nicht auf jüdische Polemiken. Kaum war die Papstrede verklungen, entglitt das Kreuzzugsunternehmen den Händen der Strategen. Dies wird von jüdischen und von christlichen Quellen bestätigt.3
Der jüdische Gedenkschriftschreiber Salomo bar Simeon läßt die Kreuzfahrer — er nennt sie meistens “die Irrenden” — ziemlich am Anfang seines Werkes sagen:
Seht, wir ziehen den weiten Weg, um das Grab aufzusuchen und uns an den Ismaeliten zu rächen, und siehe, hier wohnen unter uns die Juden, deren Väter ihn unschuldig umgebracht und gekreuzigt haben. Laßt uns also zuerst an ihnen Rache nehmen und sie austilgen unter den Völkern, daß der Name Israel nicht mehr erwähnt werde.
Etwa gleichzeitig mit Salomo bar Simeon bezeugen auch christliche Chronisten, daß der päpstliche Aufruf zum Kreuzzug sogleich auch als Aufruf zum Angriff auf die Juden Europas verstanden worden ist. Es gab, um mit Robert Chazan zu reden, eine “dissidente Lesart der Kreuzfahrer-Doktrin”.4
Damit gelangen wir zur Skizzierung der schrecklichen Judenpogrome im Rheinland während der ersten Jahreshälfte von 1096, also genau vor 900 Jahren.
3. Taufe oder Tod
Wie ein Orkan stürmten zügellose Kreuzzüglerbanden im Jahre 1096 gegen die nieder- und mittelrheinischen Städte und Ortschaften mit jüdischer Bevölkerung: Xanten, Kerpen, Moers, Trier, Worms, Speyer und besonders Mainz. Auch die Juden von Regensburg und Umgebung wurden plündernd und mordend heimgesucht. Die Raub- und Blutspur setzte sich 1098/99 in Kleinasien, besonders in Antiochien, und schließlich auch in Jerusalem fort. Am schlimmsten wüteten die unter dem Befehl des Judenhassers Graf Emicho von Leiningen stehenden Banden. Die unter Peter von Amiens in Trier und anderswo wütenden Mordbanden werden von Salomo bar Simeon in höchster Erregung als “Tempelprostituierte” bezeichnet. Das offizielle Heer unter Leitung von Gottfried von Bouillon zeichnete sich besonders durch Gelderpressungen aus: Wer von den Juden am Leben bleiben wollte, mußte unsinnig hohe Preise zahlen. Salomo bar Simeon schreibt über Gottfried, den späteren Eroberer Jerusalems:
Er tat den bösen Schwur, nicht anders seines Weges zu gehen, als indem er das Blut des Gehängten (sc. Jesu) an dem Blut Israels räche und daß er weder einen Rest noch einen Flüchtling übrig lasse von jedem, der den Namen Jude trägt, und daß er seinen Zorn an uns stillen werde. Die Leute Emichos haben nach Salomo bar Simeon ausgerufen: “Laßt uns das Blut des Gekreuzigten rächen.“5
Die Zahl der jüdischen Todesopfer wird in Mainz mit 1100 angegeben, in Worms mit 800. Für Köln und die sieben Dörfer der Umgebung gibt es keine Zahlen. In Trier wurde fast die ganze Gemeinde zwangsgetauft, ebenfalls gab es in Regensburg und Metz Zwangstaufen. Die hintergründige ideologische Kurzformel der Mörderbanden hieß: “Tod oder Taufe!” Die vor diese Alternative gestellten Juden wählten in Worms, Mainz und Köln und zum Teil auch in Moers den Tod. Teils brachten sie sich und ihre Familien selbst um, teils wurden sie ermordet. Über Moers schreibt Salomo bar Simeon, einige Juden seien umgebracht worden, “und die man leben ließ, taufte man gegen ihren Willen”.6
Die Zwangstaufen geschahen nicht aus christlichem Bekehrungseifer, sondern in der Absicht, das Judentum geistig auszulöschen. Die Kreuzzügler sahen darin einen Triumph des Christentums über das Judentum.
4. Die Rolle der Bischöfe und Seelsorger
Die Bischöfe und Priester wurden durch die Greueltaten der Kreuzfahrer in schwere Gewissenskonflikte gestürzt. Sie wußten, daß der Taufzwang nicht dem kanonischen Recht gemäß war. Kurz zuvor — im Jahre 1063 — hatte Papst Alexander II. die seit Augustinus von Hippo (354-430) geltende — gewiß nicht sonderlich ökumenisch gestimmte — kirchliche Rechtsauffassung den spanischen Bischöfen gegenüber moniert:
Die Gründe, gegen Juden und Moslems Gewalt anzuwenden, sind gewiß verschieden. Man mag gerechterweise gegen diejenigen kämpfen, die Christen verfolgen . . ., aber die Juden sind dazu da, um den Christen zu dienen.
Auch die christlichen Kaiser (z. B. Friedrich I. und Heinrich IV.) gaben mehrere Judenschutzbullen heraus. Am größten steht inmitten der Judenmassaker Bischof Johann von Speyer (1090-1104) da. Er rettete die Juden ohne Taufzwang. Nur 11 Tote waren daher in Speyer zu beklagen. Salomo bar Simeon sagt daher über Bischof Johann: “Sein Andenken sei immerdar gesegnet und erhoben.”7
Der Bischof von Worms war schwächer; daher gab es 800 Tote in Worms. Der stärkere Erzbischof Ruthard von Mainz brachte die Mainzer Juden zu deren Schutz in seinem Palast unter. Letztlich vermochte er sich aber nicht durchsetzen, und so gab es in Mainz 1100 tote Jüdinnen und Juden. Salomo bar Simeon attestiert ihm guten Willen, die Juden zu retten. In der Verteidigungsnot flüchtete der Erzbischof vor den Mordscharen nach Rüdesheim und versuchte von dort aus, den hochangesehenen Rabbi Kalonymos und den Rest der Gemeinde aus Mainz zu retten. Er schickte einen Boten zu Kalonymos mit dem Schwur, den Juden 300 Krieger als Schutzgeleit zu stellen. In Rüdesheim, wohin die restlichen Juden schließlich flüchten konnten, entschied sich der Erzbischof Ruthard unerklärlicherweise dazu, die Juden vor die Alternative “Tod oder Taufe” zu stellen: “Ich kann euch in Zukunft nicht mehr retten. Wisse nun, was du (Kalonymos) und deine Gruppe zu tun haben: Entweder ihr bekennt euch zu unserem Glauben, oder ihr büßt die Schuld eurer Väter.”8
Auch in anderen Städten und Ortschaften gab es geistliche und weltliche Verantwortliche, die mehr oder minder mutige Schritte zur Rettung der Juden unternahmen. Sie konnten aber den Grundfehler von Papst Urban II. nicht korrigieren.
5. Erwägungen für später
Das Jahr 1096 galt nach jüdischen Berechnungen und Hoffnungen als Jahr des messianischen Heils. Statt des messianischen Erlösers traten die Kreuzfahrer-Mörder auf. Salomo bar Simeon schreibt am Anfang seines Werkes:
Damals hofften wir auf Hilfe und Tröstung, entsprechend den Verheißungen des Propheten Jeremia: ,Jauchzet in Freude um Jakob, jubelt an der Spitze der Völker‘ (Jer 31,6). Alles verkehrte sich aber in Kummer und Seufzen. Es trafen uns die vielen Leiden, die in allen Strafandrohungen angekündigt sind, was geschrieben steht und auch nicht geschrieben steht . . .
Das jüdische Volk wurde im Jahre 1096 aus höchster Erwartungsfreude in die tiefste Depression gestürzt. Das Mißtrauen gegen ein bald lammfrommes, bald räuberisch-aggressives Christentum sitzt besonders seit damals tief in diesem Volk. Die Kirche hat bis in ihre (päpstliche) Spitze hinauf versagt. Der Triumphalismus trieb am Ende des 11. Jahrhunderts seine giftigen Blüten. Die Religion entpuppte sich als Aggressionsmacht, die ihre räuberischen Absichten hinter erhabenen Worten und Idealen zu verschleiern wußte. Dem Vernehmen nach will der heutige Papst im Jahre 2000 die Völker und Religionen um Verzeihung bitten für alles Böse, das ihnen das Christentum angetan hat. Dies ist dringend notwendig. Die langen Schatten der Kirche würden andernfalls die Zukunft vieler Menschen verdunkeln. Das Bewußtsein, daß die Kirche nicht nur eine Heils-, sondern auch eine Unheilsinstitution ist, sollte aber nicht nur in ihren obersten Etagen reuig zur Kenntnis genommen werden. Wenn auch das “Fußvolk” mitmacht, könnte dies Hoffnung für das dritte Jahrtausend wecken! Die Kirche hat nur Zukunft, wenn sie allem Kriegsgeschrei und allem Exklusivismus gänzlich den Rücken kehrt. Es gibt keinen Frieden und keine menschliche Zukunft ohne Geschwisterlichkeit mit dem jüdischen Volk und mit anderen Völkern und Religionen. David Flusser schrieb mir vor kurzem freundschaftlich: “Gott beschütze Israel und bewahre die Kirche vor Eselei und Schwäche.”
- Guibert de Nogent, De vita sua, ed. Bourgin, Paris 1907. Der Bericht des Guibert ist auch in den Gesta Francorum, bzw. den Gesta Dei per Francos, enthalten.
- Dazu u. a. Günter Schlichting, Ein jüdisches Leben Jesu. Die verschollene Toledot-Jeschu-Fassung Tam-u-mu'ad. WUNT 24, Tübingen 1982. Die Stelle findet sich unter den Ziffern 15,29-33.
- Die wichtigste jüdische Quelle über die Kreuzzugszeit ist die sogenannte “Chronik des Salomo bar Simeon”. Salomo bar Simeon verfaßte diese Gedenkschrift in Mainz im Jahre 1140; vgl. die von A. M. Habermann verfaßte hebr. Ausgabe: Sefer gezerôt aschkenas wezlaw, Jerusalem 1945. Verläßliche Sekundärwerke sind u. a.: Robert Chazan, European Jewry and the First Crusade, London 1987; J. Riley-Smith, The First Crusade and the Idea of Crusading, London 1986; Friedrich Battenberg, Das europäische Zeitalter der Juden, Darmstadt 1990.
- op. cit. (Anm. 3) 65.
- Habermann 3 (87); 6 (94).
- Habermann 23 (128).
- Habermann 31 (143).
- Habermann 15 (112).
Jahrgang 3/1996 Seite 161