Religion und Politik können in Israel nicht voneinander geschieden werden, da beide Bereiche unlösbar ineinander verwoben sind.
Es liegt wohl auch im Wesen des Judentums, daß diese Bereiche nicht so geschieden werden können, wie etwa im Christentum, das vom Begriff „eines Reiches nicht von dieser Welt“ mitbestimmt wird.
Demgegenüber ist die Diesseitigkeit des Judentums unverkennbar, wobei die drei Elemente von Gott, Volk und Land eine Einheit bilden. Das Volk Israel, das ihm verheißene Land und die Erwählung Israels zum Bundespartner seines Gottes schlagen sich in der politischen Realität nieder.
Die religiös dominierten Parteien im Parlament der Knesset: die Religiös-Nationale Partei, die orientalisch-sephardische Gruppierung der Schass-Partei und die vereinte Gruppe ultra-orthodoxer Juden, die sich aus dem Weltverband der Orthodoxie „Agudath Israel“ und „Degel Ha-Tora“ zusammensetzt, bilden zwar bisher immer noch eine Minderheit im Parlament, sind aber aus Koalitionsgründen sozusagen das Zünglein an der Waage.
Bei allen Entscheidungen der gesetzgebenden Körperschaft des Staates Israel ist die Rücksicht auf dieses orthodoxe Element oft ausschlaggebend, wobei immer wieder der Zusammenstoß von zwei heterogenen Rechts-Systemen spürbar wird.
Schon Israels erster Ministerpräsident, David Ben-Gurion, hat diesen Antagonismus erkannt und von der Alternative Rechtsstaat oder Theokratie (Medinat Chok o Medinat Halacha) gesprochen.
In der Praxis aber kam es nicht zu dieser säuberlichen Scheidung, sondern zu Kompromissen, die als Status quo festen Bestandteil aller Koalitionen von rechts und links geworden sind.
So wurde der ganze Bereich des Personenstandsrechts, vor allem Eheschließung und Ehescheidung, den orthodoxen Rabbinatsgerichten überlassen, die nach dem Kodex der Halacha, des Religionsgesetzes, urteilen, das oft in scharfem Widerspruch zu den demokratischen Prinzipien des Staates Israel steht.
Die Gleichberechtigung der Frau ist in der Demokratie Israels gesetzlich verankert, ja zu einer Gleich-Verpflichtung erweitert, da der Wehrdienst grundsätzlich auch für Frauen gilt, vor den Rabbinatsgerichten aber kann von einer solchen Gleichberechtigung nicht die Rede sein.
Was nun gerade den Wehrdienst anlangt, sind religiöse orthodoxe Mädchen von ihm befreit, ohne einen zivilen Ersatzdienst leisten zu müssen, wiewohl das sehr oft freiwillig geschieht.
Auch die Theologiestudenten, Jeschivaschüler, deren Zahl in die Tausende geht, können vom Wehrdienst befreit werden. Das sind Regelungen, die nur mit Rücksicht auf die sonst bedrohte Koalition erklärt werden können.
Eine Mischehe ist in Israel keineswegs verboten, denn der Staat Israel hat ja die Menschenrechte der Vereinten Nationen akzeptiert, aber sie ist nicht möglich, da es in Israel keine weltliche Instanz gibt, die eine legitime Trauung vornehmen könnte, so daß solche Eheschließungen praktisch nur im Ausland erfolgen können, wobei vor allem die Insel Zypern als nahegelegene Möglichkeit gewählt wird.
Diese Zypern-Ehen erweisen sich aber im Falle einer Scheidung als äußerst problematisch, da nun keine Instanz sich dafür zuständig erklärt. Die Rabbinatsgerichte gehen davon aus, daß solche Ehen religionsgesetzlich gar nicht gültig sind und daher nicht geschieden werden können. Andererseits aber gelten solche Paare als legitim verheiratet, und die Ehepartner können nicht wieder heiraten.
Während der Staat aus politischen Rücksichten der Orthodoxie alle diese Konzessionen macht, werden andere religiöse Strömungen wie das Reformjudentum und die Konservativen systematisch entrechtet. Ihre Konversionen zum Judentum werden nicht anerkannt, und ihre Beteiligung an den Kultus-Ausschüssen der Munizipalitäten wird blockiert, obwohl das Obergericht immer und immer wieder ihre Gleichberechtigung verlangt.
Was für die innerjüdischen Verhältnisse in Israel gilt, zeigt sich ebenfalls, oft sogar in erhöhtem Maße, bei den moslemischen und christlichen Minderheiten.
Auch hier ist die Verknüpfung von Religion und Politik unverkennbar. Die Muslime sind ebenfalls in politischen Parteien straff organisiert, wobei ein aggressiver Fundamentalismus die Szene beherrscht. Das geht so weit, daß ein Sprecher der islamischen Aktivisten erklären konnte, daß die Juden das Land Palästina verlassen oder zum Islam übertreten müssen. Eine solche Äußerung konnte am Ende des 20. Jahrhunderts verlautbart werden!
Die christlichen Araber, deren Legitimität von den Moslems immer in Zweifel gezogen wird, überbieten sich daher an politisch radikalen Erklärungen, die sich bis zu einer palästinensischen Befreiungstheologie steigern, welche Jesu Jude-Sein in Frage stellt und ihn zu einem palästinensischen Propheten umfunktionieren wollen.
Das erinnert an die Bestrebungen der deutschen Christen des Reichsbischofs Müller im Dritten Reich, die Jesus als Arier proklamierten. Die Verflechtung von Religion und Politik, die es sicher auch anderwärts gibt, nimmt in Israel einen weit zentraleren Ort ein, als in anderen westlichen Demokratien und wird nur noch von moslemisch-fundamentalistischen Staaten, wie Iran und Saudien, überboten.
Die Vertiefung und Verschärfung des Problems geht darauf zurück, daß in Israel Geschichte und Heilsgeschichte untrennbar ineinander verflochten sind.
Das zeigt sich in der Realität, nicht zuletzt in dem immer schwelenden Streit um die sogenannten Heiligen Stätten. Nach dem Grundgesetz Israels muß der Zugang zu diesen geheiligten Orten für alle Bewohner des Landes und für Pilger aus anderen Ländern offenstehen, was sich aber sehr oft als nicht realisierbar erweist. Während Judentum und Islam gemeinsame heilige Stätten haben, bleiben die christlichen heiligen Stätten außerhalb solcher Rivalität.
Der Brennpunkt der politisch motivierten jüdisch-moslemischen Konflikte ist der Tempelberg über Jerusalem mit den moslemischen Heiligtümern der El-Aqsa-Moschee und des Felsendoms. Die Muslime beanspruchen das alleinige Recht auf diese ihnen heilige Stätten und wollen es daher Juden und Christen streng untersagen, auf dem heiligen Berge zu beten.
Bei den Juden aber gibt es andererseits Extremisten, die sich „Getreue des Tempelbergs“ nennen und hier den Grundstein für einen Dritten Tempel legen wollen, aber auch gemäßigtere Elemente wollen keineswegs auf den Tempelberg verzichten.
Das Oberrabbinat hält zwar an dem religionsgesetzlichen Verbot des Betretens des Tempelberges fest, da nicht mehr festgestellt werden könne, wo genau der Ort des Allerheiligsten im Ersten und Zweiten Tempel sich befand, aber nur wenige Juden fühlen sich an dieses Verbot gebunden.
Der politisch motivierte Streit um die Heiligen Stätten beschränkt sich aber nicht nur auf Jerusalem, sondern zeigt sich nicht minder vehement in Hebron, wo es um die Höhle Machpelah, das Erbbegräbnis der Erzväter Abraham, Isaak und Jakob, und der Mütter Sara, Rebekka und Lea geht (Mutter Rahel hat ihr eigenes Grab nahe Betlehem, das ebenfalls zum Streitpunkt wird und unter militärischer Bewachung Israels steht). Statt daß der eine Glaube an eigentlich denselben Gott die Bekenner von Judentum, Christentum und Islam zu einer abrahamitischen Ökumene vereinigt, wird durch die politische Vereinnahmung der Religionen die Spannung zwischen ihnen permanent verschärft.
Was nun die Heiligen Stätten der Christenheit anlangt, so sind auch hier politisch dominierte Streitigkeiten an der Tagesordnung und -unordnung. Sowohl in der Grabeskirche in Jerusalem und der Geburtskirche in Betlehem beherrschen innere Spannungen die Szene, so daß sogar in einem Konflikt zwischen koptischen und äthiopischen Christen um wenige Meter in der Grabeskirche die Entscheidung eines israelischen Gerichtes angerufen werden mußte.
Eine Entwirrung der Problematik von Religion und Politik in Israel könnte nur durch eine klare Trennung von Religion und Staat erfolgen, aber dem widersetzen sich die traditionellen Rechte der Religionsgemeinschaften, im sogenannten Milet-System, ein verhängnisvolles Erbe noch aus der Türkenzeit.
Worum handelt es sich hier? Um eine Art Autonomie der Religionsgemeinschaften, ausgehend von der Rolle des Sultans in Konstantinopel (Istanbul), der zugleich Kalif aller gläubigen Muslime war. Als Palästina noch Teil des Osmanischen Reiches war und 400 Jahre die türkische Oberhoheit im Lande repräsentierte, übertrug der Sultan seine Rechte in bezug auf das Personenstandsrecht (Eheschließung und Ehescheidung) dem moslemischen Klerus, den Muftis und Kadis in Palästina.
Die Schutzmächte der Christen, das zaristische Rußland für die griechisch-orthodoxe Kirche und Frankreich für die Katholiken, erwirkten dieselben Rechte für die Kirchen im Heiligen Land. Endlich wurde auch den Juden dasselbe Recht zuerkannt.
Als die Briten 1918 Palästina unter General Allenby eroberten, übernahmen sie diese Regelung, die in Großbritannien selbst nicht bekannt war. Für die Juden wurde durch die Staatsgründung 1948 das Gesetz noch erweitert. Juden in Israel, die eine andere Staatsangehörigkeit besitzen, konnten vormals, in der Mandatszeit 1918-1948, noch zivil bei ihren Konsulaten heiraten, jetzt aber kapitulierten die Konsulate, und so ist auch ein Jude fremder Staatsangehörigkeit in Israel ausschließlich der rabbinischen Jurisdiktion unterstellt.
Ich könnte mir vorstellen, daß durch eine klare Scheidung von Religion und Politik eine wirkliche Entspannung eintreten würde, und mein Vorschlag geht dahin, in Jerusalem den Bezirk der Heiligen Stätten der drei monotheistischen Religionen, Judentum, Christentum und Islam, in einer Art Vatikanstadt innerhalb der Mauern der Altstadt zu konzentrieren und diese autonome Zone einer ökumenischen Verwaltung zu unterstellen, in der in einem etwa zweijährigen Turnus jeweils ein jüdischer (nicht israelischer) Vorsitzender, dann ein christlicher und ein moslemischer die Leitung innehat.
Das ist heute sicher noch eine Utopie, aber vor hundert Jahren war auch der „Judenstaat“ von Theodor Herzl eine Utopie, die schließlich, fünfzig Jahre nach ihrer Publikation, realisiert wurde.
Utopien sind Menschheitsprogramme, ohne die es wohl keine geplante Zukunft gäbe, wenngleich die Realisierung solcher Pläne eine erhebliche Einbuße in der Verwirklichung erfahren.
Das ist in Israel nicht anders. Herzl schrieb in seiner Programmschrift noch: „Der Glaube hält uns zusammen. Die Wissenschaft macht uns frei.“ Das hat sich leider nicht bewährt. Der Glaube ist zum Streitpunkt geworden, und die Gläubigen (Orthodoxen) widersetzen sich dem wissenschaftlichen Fortschritt.
Der Schweizer Theologe Hans Küng hat bei der Erstellung des Friedens in den letzten Jahren unermüdlich den Primat der Repräsentanten der Religionen gegenüber den Politikern vertreten. Trifft das sicher im allgemeinen zu, um wieviel mehr im Heiligen Land der drei monotheistischen Weltreligionen: Judentum, Christentum und Islam. Sie müßten sich zu einer Friedensökumene der Drei Ringe zusammenfinden, um die Zukunft der Völker dieses Landes zu garantieren.
Jahrgang 3/1996 Seite 185