Wenn ich über zukünftige Beziehungen zwischen den Religionen im Nahen Osten rede, werde ich mich auf einige Anmerkungen beschränken, wie ein zukünftiger Dialog aussehen könnte. D. h. ich werde über die Gegenwart sprechen und wie wir uns angesichts der Anforderungen, die die Zukunft an uns stellt, heute verhalten sollten.
Freilich hängt das, was sein wird, vom Friedensprozeß ab — und von dem Standpunkt, den wir als religiöse Menschen dazu einnehmen. Wenn wir die Frage so stellen, behandeln wir die Gegenwart als Gebot. Indem wir uns um eine bessere Zukunft für uns und die ganze Menschheit bemühen, müssen wir jetzt im Einklang mit den moralischen Imperativen handeln, die uns in der Form der mitzwot, der göttlichen Gebote begegnen.
So wie ich Religion verstehe, ist sie zwar auf Zukunft ausgerichtet, aber sie fordert uns stets im Hier und Jetzt. Wir können nicht sagen: „Wenn Frieden herrscht, werden wir Juden und Araber in der Lage sein, darüber zu reden, was uns theologisch und geistig-geistlich trennt und verbindet. Jetzt allerdings müssen wir diese Fragen ausklammern und unsere Zeit damit verbringen, die politischen Probleme zu diskutieren.“ Vielmehr müssen wir sagen: „Wir werden all unsere Probleme, einschließlich des politischen Konflikts, aus unserer religiösen Perspektive gegenseitigen Respekts und religiöser Hingabe an den Frieden angehen.“ Vielleicht werden wir dadurch, daß wir unsere Völker — und insbesondere unsere politischen Führer — dazu anleiten, der gemeinsamen Botschaft der abrahamitischen Religionen Beachtung zu schenken, zu einer vernünftigen Debatte zwischen unseren Völkern und Religionen beitragen.
Was also haben wir heute von uns selbst zu verlangen? Erstens haben wir zu begreifen, daß Judentum, Christentum und Islam im Moment schlecht vorbereitet sind, Dialogpartner zu sein. Wir alle hängen an unseren Traditionen, weil wir in ihnen und durch sie das werden, was wir sind. Es ist klar, daß Traditionen wachsen müssen, und es ist unsere Aufgabe, sie in ein neues Zeitalter zu leiten. Deshalb haben wir die Pflicht, uns ehrlich zu fragen, ob unsere jeweiligen heiligen Schriften weiterhin unbedingt als Wort Gottes anzunehmen sind oder wieweit sie als Produkte religiöser Virtuosi anzusehen sind. Sollen wir damit fortfahren, unsere heiligen Schriften einzig mit den Instrumenten der traditionellen Hermeneutik zu lesen, oder sollen wir sie durch moderne Methoden der Geisteswissenschaften ergänzen? — Ist die Tora wahrhaft die Wiedergabe von Gottes Offenbarung am Sinai? Wenn ja, welches Recht haben nicht-orthodoxe Juden, die Halacha zu kritisieren? Wenn nein, auf welcher Grundlage reklamieren Halachisten die Autorität dafür, daß sie ihre Standards der Mehrheit der Juden aufoktroyieren? — Ist dieser Mensch Jesus als Sohn Gottes anzusehen? Beim Abschluß des ersten Welt-Parlaments der Religionen sagte dessen Vorsitzender John Henry Barrows: „Ich möchte, daß das letzte Wort, das ich an dieses Parlament richte, Sein Name ist, dem ich Leben, Wahrheit, Hoffnung und alle Dinge verdanke, der alle Gegensätze versöhnt, alle Antagonismen befriedet, und der vom Thron Seines himmlischen Königreiches die klare und unermüdliche Allmacht erlösender Liebe lenkt — Jesus Christus, der Retter der Welt.“ Sind die Anhänger anderer Religionen als Heiden anzusehen, weil sie diese Attribute für Jesus nicht in ihre Glaubenssysteme integrieren? Sind Christen, die Jesus als Symbol, nicht aber als den inkarnierten Gott ansehen, als Häretiker zu behandeln? — Ist der Koran das abschließende Wort der Offenbarung Gottes? Ist ein Moslem, der den Koran kritisch studiert, damit automatisch ein Leugner der im Koran enthaltenen Wahrheiten? Ist Mohammed das Siegel der Propheten? Sind seither keine weiteren Wahrheiten über Mensch und Universum freigelegt worden?
Für den zukünftigen interreligiösen Dialog hängt alles davon ab, wie wir diese Fragen beantworten. Wenn wir die Religionsgeschichte als Tatsachenbericht göttlicher Verfügungen ansehen, wie können wir dann jemals in der Lage sein, die konfligierenden Ansprüche zu versöhnen oder sie wenigstens fair und objektiv zu diskutieren? Wenn wir dagegen die Offenbarungs-Erzählungen als mythische Versuche ansehen, die Beziehung zwischen Mensch und Gott, Land und Nation sowie die Bedeutung und den Ort menschlicher Erlösung in diesem Leben oder im Leben nach dem Tode zu ergründen, können wir wenigstens die Substanz unserer jeweiligen Mythen zu verstehen versuchen.
Was sind also die Ausgangspositionen, von denen aus wir den Dialog zu beginnen haben? Müssen Juden darauf bestehen, daß sie als das auserwählte Volk angesehen werden? Muß die Hoffnung der gesamten Menschheit auf Erlösung auf den Glauben an Jesus als den einen und einzigen Retter gegründet werden? Ist aktive Mission für den Islam unaufgebbar oder ist er in der Lage anzuerkennen, daß es noch andere Heilswege gibt?
Wenn das der Fall ist, sind die gestellten Fragen zu bedrohlich, weil wir, wollten wir sie wahrheitsgemäß beantworten, viele unserer Ansprüche aufgeben müßten. Weil viele von uns unfähig sind, auf unsere Anachronismen zu verzichten, machen wir es uns einfach und vertagen den Dialog über die wesentlichen theologischen und moralischen Probleme. Wir entschuldigen uns mit dem Argument, daß diese Probleme solange zurückzustellen sind, bis die entsprechenden politischen Bedingungen existieren — bis Friedensverträge fertig sind, bis moslemische Fundamentalisten ihre Terroranschläge einstellen, bis die PLO aus ihrem Grundartikel den Satz, der zur Zerstörung Israels aufruft, streicht, bis die jüdischen Siedler ihre Häuser verlassen und in jene Gebiete zurückkehren, die bis 1967 oder bis 1948 oder bis irgendwann noch davor als israelisch bzw. jüdisch international anerkannt waren. Diese Verzögerungstaktik ist ein von allen Seiten angewandter Trick. Aber wir können keinen Frieden haben, solange wir nicht entweder dazu gezwungen werden — allerdings wird er in diesem Fall zerbrechlich bleiben — oder in gemeinsamer Übereinkunft davon überzeugt sind, daß Frieden theologisch und moralisch ein kategorisches Gebot aller Religionen ist.
Leider können wir uns zur notwendigen Selbstprüfung nicht selbst verpflichten. Religiöser Fortschritt kann — genauso wie Fortschritt in den anderen Lebensbereichen — nur aus der Herausforderung durch abweichende Meinungen und Perspektiven entstehen. Deshalb ist es dringend nötig, daß wir wechselweise aufeinander einwirken.
Wir sind bestimmt, auf dieser Erde zusammenzuleben. Können wir wirklich aus einer religiösen Perspektive irgendeine Rechtfertigung für Staatsgrenzen finden? Sind sie nicht historische Zufälligkeiten, die eher durch Gewalt als durch menschliches Bedürfnis bestimmt worden sind? Und was ist die religiöse Bedeutung von Land?
Der jüdische Philosoph Franz Rosenzweig dachte mindestens zeitweise, daß Juden nicht danach streben sollten, noch einmal auf dem Boden ihrer nationalen Heimat zu siedeln. Er dachte, daß Land auf die nationale Spiritualität zerstörend wirke. Aber Völker sind genausowenig in der Lage, ohne Boden unter ihren Füßen zu leben, wie Männer und Frauen ohne Körper überleben können. Nichtsdestoweniger wissen wir Abrahamskinder: „Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist.“ Wie können wir Juden und Araber aus der Falle herauskommen, in die wir geraten sind, weil wir darauf bestanden, das Israelland/Palästina könne nur einem von uns gehören? Offensichtlich haben wir eine neue Psychologie zu kultivieren. So wie Elisheva Yaron schon vor Jahrzehnten vorschlug: „Wir haben den Boden, für den wir kämpfen, nicht als eine schöne Frau, die von zwei Männern umworben wird, zu betrachten, sondern als eine Mutter, die die Gegenwart ihrer beiden Söhne wünscht.“ Ich unterschätze die Schwierigkeit, unsere Geistesverfassung revolutionieren zu müssen, nicht, aber solange unser Dialog ein solches Resultat nicht hervorbringt, haben wir alle es nicht geschafft, das volle Potential unseres theistischen Glaubens zum Tragen zu bringen.
Ein anderer Stolperstein auf dem Weg zu geistlich-geistiger Reife ist unsere Einstellung zu „Heiligkeit“. Was macht einen Ort heilig? Kann Heiligkeit geteilt werden? Hier ist wiederum ein Grad religiöser Reife verlangt, den keine unserer Religionen bisher erreicht hat. Was können wir von Politikern oder Staatsmännern erwarten, wenn wir uns nicht einmal innerhalb unserer jeweiligen Religionen auf den mythischen Charakter unserer Besitzansprüche auf „heilige“ Orte einigen können? Ich halte das Bedürfnis, das Heilige zu einer Rechtfertigung für Unvernunft zu machen, für schlecht. Kontroversen über Plätze oder Bauwerke, die von zwei oder mehr Gruppen für heilig erachtet werden, können nur durch Kompromisse und mit Respekt für die Gefühle der anderen entschieden werden.
Und zum Abschluß dieser unvollständigen Agenda interreligiösen Dialoges: Was sollte unsere Einstellung gegenüber „Demokratie“ sein? Ist sie lediglich eine Methode der Entscheidungsfindung, oder ist sie nicht vielmehr auch ein sozialer Wert, der manchmal unseren geheiligten religiösen Überzeugungen und Praktiken widerspricht? Welche Form der politischen Ordnung paßt am besten zu unseren religiösen Konzeptionen? Ist Demokratie — als eine westliche Erfindung — im Nahen Osten deplaziert? Sind nicht die Demokratieversprechen in einigen Staaten unserer Region unaufrichtig, und wenn das der Fall ist, was sollte die Position sein, die unsere Religionen demgegenüber einnehmen?
Die genannten Dinge scheinen mir die Vorstufen von interreligiösem Dialog im Nahen Osten zu sein. Wir müssen uns um Demut bemühen, die uns befähigt, anderen zuhören zu können. Außerdem ist eine offene Artikulation unserer gemeinsamen Probleme gefordert. Und dafür haben wir nicht etwa auf eine günstigere Zeit zu warten, sondern jetzt den Dialog zu führen. Jetzt ist es an der Zeit. Wir müssen jetzt hören, was die anderen über unsere Tendenz zur Selbstverherrlichung denken. Wir müssen jetzt nicht nur leben und leben lassen, sondern leben und Leben ermöglichen. All diese Notwendigkeiten sind Gründe für den Dialog. Aber wir sollten auch daran denken, daß wir beim Eintritt in den Dialog darauf vorbereitet sein müssen, uns zu ändern.
Ich habe in meiner, zugegebenermaßen inadäquaten, Analyse nicht beabsichtigt, Fragen zu stellen, die der eine oder die andere von Ihnen als beleidigend empfunden haben könnte. Ich habe keinesfalls versucht, irgend jemand zu verletzen oder zu beleidigen. Ich gebe allerdings zu, daß ich vorsätzlich versucht habe, diejenigen zu provozieren, die aus ihrer Selbstsicherheit aufgeschreckt werden müssen.
Vortrag, gehalten auf der Dezembertagung 1994 der Israel Interfaith Association (IIA) und El Liqa. Übersetzt von Lothar Triebel. Aus: „Religionen in Israel“ 1/1995.
Jahrgang 3/1996 Seite 190