Durlacher, Gerhard L.
Eine Kindheit im Dritten Reich. 1993. 86 Seiten.
Streifen am Himmel
Vom Anfang und Ende einer Reise. 1994. 100 Seiten.
Die Suche
Bericht über den Tod und das Überleben. 1995.
Aus dem Niederländischen übersetzt von Maria Csollàny. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg. 188 Seiten.
Die Europäische Verlagsanstalt hat 1995 als letztes von drei eigentlich zusammengehörigen Büchern „Die Suche, Bericht über den Tod und das Überleben“ von Gerhard L. Durlacher herausgebracht. „Die Suche“ berichtet fast protokollarisch das Aufspüren und Finden von ehemaligen KZ-Kindern, Zwangsgefährten von Durlacher im KZ Birkenau, die nach der Befreiung irgendwo auf der Welt weiterlebten oder auch starben. Die meisten hatten ihre Eltern ja im „Ofen“ zurückgelassen.
Bis jetzt gab es nur Berichte von Erwachsenen über ihre Lagerzeit. Nun, nach bald mehr als 50 Jahren überkommt die Erinnerung die heute Erwachsenen an ihre Kinderzeit — im Kinderlager Birkenau. Bis jetzt verdrängten diese Menschen ihre Erlebnisse; sie lebten, das war genug. Erinnern wäre gefährlich fürs Weiterleben gewesen. Sie wollten, und brachten das auch fertig, ein normales Leben mit Beruf, Karriere, Ehe und Kindern, sich nicht mehr unterscheiden, keine seltsame Spezies mehr sein, sein so wie alle. Das war das Ziel und das verwirklichten sie. Jedoch die Erinnerung läßt sich nicht für immer einsperren, sie ist wie ein Dampfkochtopf. Einmal ist der maximale Druckpunkt erreicht, und der Dampf muß entweichen, sonst gibt es eine gefährliche Explosion. So geschah es Gerhard Durlacher mit über 50 Jahren. Bis dahin lebte er in Holland als Wissenschaftler, niemand wußte von seinem Herkommen. Er hatte sich sogar seine eintätowierte Lagernummer entfernen lassen. Doch es kam die Zeit, da er schreiben und berichten mußte. Nicht nur von sich selber, weil er ja gar nicht mehr sicher war, daß das, was er glaubte, erlebt zu haben, wirklich und tatsächlich geschehen war, es schien zu unwahrscheinlich. Und so machte er sich auf die Suche nach überlebenden Kameraden, Kindern damals. In Yad Vashem fahndete er in den Archiven nach Namen und wurde fündig, in Amerika, Kanada, Israel, England und Tschechien.
Er machte sich auf die Reise, besuchte sie an ihren Wohnorten und sprach mit ihnen, zuerst über ihr derzeitiges Leben, ihren Beruf, sah ihre Häuser, ihre Frauen. Er schildert Orte, wo die relevanten Gespräche, meistens vor einem Tonbandgerät, vor sich gingen, zwei Männer, allein, abgeschirmt vom häuslichen Treiben. Zuerst wurde von der Zeit gleich nach der Befreiung erzählt, weil das ja gute Momente waren, dann stiegen langsam die sorgsam versteckten Erinnerungen mit vielen Details herauf. Oft stockt das Gespräch. Dann kommen, wie zum Trost, verklärte Erinnerungsfetzen an Solidarität unter den Jungen. Ohne diese Illusion, daß es auch an diesem Ort des Grauens noch so etwas wie Liebe und Brüderlichkeit gegeben habe, hätten sie wahrscheinlich das Leben dort nicht durchstehen können. Bloß, Durlacher selber weiß, daß es wirkliche Solidarität in einer größeren Gruppe nicht gegeben hat, da die Lagerpolitik der Deutschen eben auf divide et impera beruhte, und jeder wußte, daß auch nur eine ganz kleine Besserstellung gegenüber einem Kameraden Leben bedeuten konnte. Welche erniedrigenden „Dienste“ gefordert und auch geleistet wurden, wird nur beiläufig und ohne Emotionen erwähnt.
Warum diese Kinder überhaupt davongekommen sind, wird niemand wissen. Interessant ist die Feststellung, daß die Deutschsprechenden und -verstehenden mehr Chancen hatten, weil sie augenblicklich auf Befehle reagieren konnten und auch sonst Nützliches aufschnappten. Und noch etwas führt Durlacher als Grundbedingung fürs Überleben der Kinder an: die vorher im normalen Leben erfahrene Liebe und Geborgenheit in der Familie. Sie war durch alle die Jahre ein Kraftreservoir.
Nach der Befreiung waren diese nun Halbwüchsigen allein auf der Welt und stürzten sich verbissen ins Lernen, um endlich zu werden wie die „anderen“.
Durlacher erlebt, mehrfach bestätigt, ein auf den ersten Blick befremdliches Phänomen: Die mit ehemaligen KZ-Insassinnen eingegangenen Ehen hielten nicht, wohingegen die mit Christinnen oder nicht Inhaftierten schon. Die grauenhaften Erinnerungen beider erschwerten das neue Leben, verunmöglichte eine gelöste Partnerschaft. Nicht immer ist geteiltes Leid halbes Leid.
Da erinnern sich und erzählen Männer. Aber es hat auch Mädchengefangene gegeben. Auch solche haben überlebt, denn Durlacher spricht ja von gescheiterten Ehen zwischen ehemaligen KZ-Kindern. Werden wir je auch Erinnerungsberichte von Mädchen lesen? Oder waren deren Traumata noch fürchterlicher, so daß sie niemals an die Oberfläche auftauchen dürfen? Ruth Klügers Bericht ist nicht aufschlußreich, denn sie ist zu sehr mit dem Mutter-Tochter-Konflikt beschäftigt.
Der erste Band der drei obengenannten Bücher, „Ertrinken“, erzählt von Gerdls behüteter Kindheit in Baden-Baden, der geliebten christlichen Hausangestellten, die 1937 die Familie verlassen mußte, weil Juden keine arischen Angestellten haben dürfen, von den Ängsten der jüdischen Buben vor den Quälereien ihrer arischen Mitschüler, ein bekanntes Lied.
Im zweiten Band „Streifen am Himmel“ erfahren wir vom ersehnten und sogar Wirklichkeit gewordenen Erscheinen alliierter Flugzeuge über Birkenau. Die Buben hofften so sehr, daß nun endlich Birkenau bombardiert würde, daß für sie so oder so das Grauen zu Ende gehe. Aber nein, die versprengten Flugzeuge warfen nur ihre Bombenlast, die ihren Rückflug gefährdet hätte, irgendwo ab. Die Enttäuschung der Kinder ist entsetzlich, und der eindringliche Bericht Durlachers läßt den Leser auch heute noch mithoffen und läßt ihn dann genauso enttäuscht wie die Birkenau-Buben zurück. Das Gefühl des absoluten Verlassenseins ist so stark, daß es auch nach 50 Jahren nichts von seiner Intensität verloren hat.
Eva Auf der Maur
Jahrgang 3/1996 Seite 206