Aus einer Kindheit 1939-1948. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1995. 143 Seiten.
Wie ist es, wenn ein Leben einzig aus völlig disparaten Fetzen besteht, wenn sich nirgends eine Kontinuität zeigt, nicht einmal ein bestimmter Anfang? Liest man die „Bruchstücke“ Wilkomirskis, erhält man eine furchterregende Ahnung, aber nachzuvollziehen ist so ein Leben für unsereins nicht; das geht über jedes Vorstellungsvermögen hinaus. Es bleibt nur überwältigendes Mitleid und Dankbarkeit für die Lebenskraft eines Kindes. Nicht nur, daß der Inhalt der einzelnen Bruchstücke unvorstellbar grausam ist; noch viel schlimmer ist, daß diese Bruchstücke sich unmöglich zu einem kohärenten Leben, zu einer Person zusammenfassen lassen, eben weil wichtige Puzzleteile für immer verloren sind.
Wilkomirski wurde als Kleinkind — welches Alter? — von seinen Eltern getrennt. Der Vater wurde vor seinen Augen von Uniformierten mit einem Auto an einer Mauer zerquetscht. Mit vier oder fünf (?) Brüdern wird er ins KZ-Kinderlager (welch obszönes Wort!) nach Majdanek deportiert. Nichts in diesem Lebenslauf ist gesichert außer dem Terror. Was kann ein noch nicht schulpflichtiges Kind schon wissen von seinem Alter, seiner Familie, seinem Herkommen oder Wohnort? In Majdanek also vegetiert dieses Kind in Dreck und knöcheltiefem Kot, Kälte und beißendem Hunger als minderwertiger menschlicher Abfall, ständig in Angst vor den schlagenden und quälenden „Blockowas“.
Trost ist ein älterer Lagerkamerad, Jankl, der ihn beschützt und geduldig lehrt, wie man Knoten knüpft, Essen einteilt, versteckt und bewacht, alles lebenswichtige Dinge. Doch eines Tages wird dieser vielleicht Zwölfjährige, für Binjamin bereits Erwachsene, erschossen, und alle Kinder müssen zuschauen. Das ruft bei ihm eine spontane Taubheit und Verstummung hervor. Der große Bruder Motti ist schon vorher verschwunden. Diese beiden werden dem Buben fürs Leben Vorbilder an Menschlichkeit bleiben, weil sie unerschütterlich treu und liebevoll waren.
Das Kind Binjamin wurde nun ganz allein in viele verschiedene Lagerteile verschoben, jedoch immer unter dem gleichen Terror der meist perversen Aufseher und „Blockowas“. Einmal wird es aus seiner Baracke geholt und soll seine Mutter sehen, allerdings unter dem Verbot auch nur eines einzigen Wortes, sonst werde es getötet, was sicher keine leere Drohung war. Das Kind weiß ja gar nicht, was eine Mutter ist, hat nur von älteren Kindern von der Liebe und Weichheit und Großartigkeit einer „Mamele“ gehört. Vorstellen kann sich der Bub nichts. Nun sieht er in einer düsteren, stinkenden Baracke ein Lumpenbündel auf einem fauligen Strohhaufen, das ihm stumm ein Stück gehortetes trockenes Brot hinstreckt. Auch Binjamin bleibt natürlich stumm, aus Angst und Nichtbegreifen. Das ist die Begegnung mit seiner Mutter.
Gesprochen hat ohnehin niemand, die Uniformierten brüllten nur, die Kinder kauderwelschten in allen nur möglichen Sprachen und Dialekten, Erklärungen gab es nie, bloß abgehackte Befehle. Im übrigen mußte man einen guten Spürsinn entwickeln fürs Überleben und hinnehmen, was der Augenblick brachte. Für Fragen war keine Zeit vorhanden. Eine Sprache, d. h. zusammenhängend sprechen, lernte Binjamin erst in der Schweiz.
Irgendeinmal hört alles Gebrüll auf, wieder ohne Erklärungen. Und neue Verwirrung und Unsicherheit, noch größere Ratlosigkeit beginnt, denn die gewohnten Baracken und die Lagerordnung sind weg. Eine Befreiung, wie sie andere Lagerinsassen erlebt haben, fand nicht statt. Es scheint, daß das Kinderlager schlicht übersehen wurde, weil sich die Kinder nicht bemerkbar gemacht haben. Irgendwer aus dem nun sich selbst überlassenen Lager nimmt das Kind einfach mit auf den Weg und liefert es in einem Kinderauffanglager in Krakau ab. Wieder ohne Erklärung. Es sind viele Kinder, die da zusammenkommen und ebenso plötzlich wieder verschwinden, wie sie auftauchen. Neue Ortswechsel, Unterbrechungen, so daß auch da wieder nur Bruchstücke von Erfahrungen und zusammenhanglose Bilder und weiter Angst vor Gefahr entstehen.
Schließlich kommt Binjamin mit einem Transport in die Schweiz und wird später von Pflegeeltern adoptiert. Wer nun glaubt, daß jetzt Erlösung da ist und Heilung, der steht vor Unbegreiflichem. Die Verschonten in der Schweiz, Pflegeeltern, Lehrer, Schüler, ermangeln so sehr des Vorstellungsvermögens und der Empathie, daß sie das schwierige, aus jeglicher Bahn geworfene Kind so schnell wie möglich in ein gewöhnliches Schweizerkind verwandeln wollen. Immer wieder wird es ungeduldig aufgefordert, doch endlich alles Vergangene wie einen bösen Traum zu vergessen und sich endlich einzureihen in den geordneten Schweizer Alltag. Diese selbstgerechten Rechtschaffenen sehen in den lebensfeindlichen Erfahrungen Binjamins, er heißt mit einer neuen Identität jetzt anders, nichts Schlimmeres als einen Tadel in der Schule, den man nach kurzer Zeit wegsteckt. Niemand ahnt die Verstörtheit und das Leiden, die dunklen, beklemmenden Erinnerungsfetzen, die den sehr jungen Buben erdrücken und ausgrenzen. Sie meinen es ja gut, die Erzieher, aber zuhören und versuchen zu verstehen, das kostet zu viel Anstrengung und würde gar ans eigene Fundament greifen. Es bräuchte statt Erziehern mitfühlende Wegbegleiter, die auffangen, was aus dem Kind herausfließen will und soll.
Diese „Bruchstücke“ sind eines der aufwühlendsten Bücher, die seit langem erschienen sind. Und es ist gerade heute von vorrangiger Bedeutung, denn es verweist auf Probleme, vor denen die Welt jetzt wieder nach dem Krieg in Ex-Jugoslawien steht. Wieviele Kinder gibt es da mit den gleichen traumatischen Erlebnissen von Trennung, Gewalt, Brutalität, Sprachlosigkeit. „Bruchstücke“ sollte zur Pflichtlektüre werden für alle Sozialhelfer und besonders für solche, die mit kriegsgeschädigten Kindern zu tun haben. Es darf nicht wieder geschehen, daß zu den Kriegstraumata weitere durch Lieblosigkeit und Mangel an Einfühlsamkeit hinzukommen. Wilkomirski selber erwähnt dies als einen der Gründe für sein Buch.
Wilkomirskis Buch ist nicht nur ein erschütternder Bericht, sondern ein höchst literarisches Buch. Er hat neben Musik auch Geschichte an der Universität von Zürich studiert. In diesem Kind ohne zu ortende Herkunft war ein großes künstlerisches Vermögen angelegt. Der erste Satz des Buches ist die Feststellung, daß er keine Muttersprache und keine Vatersprache hat, und trotzdem kann er spät, doch Gott sei Dank nicht zu spät, alle die im Gedächtnis überdeutlich eingeprägten Bilder in beherrschter Sprache ausdrücken.
Eva Auf der Maur
Jahrgang 3/1996 Seite 221