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Slosson Wuellner, Flora

,Release‘ Healing from Wounds of Family, Church, and Community

Upper Room Books, Nashville 1996. 125 Seiten.

Flora Slosson Wuellner ist eine ordinierte Pastorin der United Church of Christ in Kalifornien, USA. Sie versteht sich als Heilerin im Glauben daran, daß christliche Liebe innere Stärkung und Entlastung und nicht Opferdasein und spirituelles Ausbluten bedeuten soll. In diesem Büchlein thematisiert sie ernste, verbreitete und nicht selten tabuisierte Konfliktthemen aus dem Zusammenleben und -arbeiten in Familie, Kirche und Gemeinde. Aus ihrem Selbstverständnis als spirituelle Heilerin heraus betrachtet sie diese Themen als Ursachen von Wunden und Verletzungen, deren Heilung mittels Meditation und Gebet herbeigeführt werden kann.

Dieses archetypische Anliegen von Frau Wuellner könnte auch für das Großanliegen der jüdisch-christlichen Solidarität in Dienst genommen werden.

In diesem Büchlein werden seelisch-geistige Belastungen angesprochen, welche nicht heute begannen, sondern in und von verschiedenen Gemeinschaften und Institutionen seit Generationen internalisiert und weitergegeben werden. Es handelt sich um Phänomene, welche das einzelne Mitglied einer Gemeinschaft als undefinierbares Unbehagen oder als Enge zwar spürt, aber nicht benennen oder erklären kann. Es geht um den ,Mief‘, der sich im Laufe der Jahre über manche kirchliche oder soziale Institution ausbreitet und ihre Mitglieder allmählich lähmt und erstickt. Die Mechanismen, die zu der dargestellten inneren Erschöpfung führen, kennen wir aus der Psychologie als ,burn out‘ Syndrom von Personen in pädagogisch-therapeutischen Berufen. Sie sind aber vermutlich jeder in einer Gemeinschaft engagierten Person vertraut. Es ist also nicht so, daß diese Phänomene unbekannt oder unbeschrieben wären, aber aus der spirituellen und besonders aus der von Wuellner vertretenen ausgeprägt pietistisch-religiösen Perspektive betrachtet, erhalten sie eine zusätzliche Dimension. Diese besteht in ihrer Verbindung zum Transzendenten. Indem die Autorin ,verletzende‘ Prozesse im kirchlich-gemeinschaftlichen Feld anspricht, enttabuisiert sie das Thema in einem Bereich, der traditionellerweise ein starkes Harmoniebedürfnis hat und dadurch besonders gefährdet ist, es zu verdecken.

Es geht um folgende Themen: die Befähigung zum Verletzlichsein: freigesetzte Liebe (empowered vulnerability; love set free); ein gewaltfreier Ansatz zur spirituellen Erholung und Befreiung (a non-abusive approach to spiritual recovery and release); Symptome gemeinschaftlicher Bindung und Belastung (signs of communal bondage and burden); spirituelle Entlastung von gemeinschaftlicher Bindung und Belastung (spiritual release from communal bondage and burden); Lieben ohne ausgelaugt zu werden (loving without being drained); befreit zum Bleiben oder zum Verlassen? (released to stay or released to leave?); spirituelle Erholung, Wiederherstellung und Erneuerung (spiritual recovery, restoration, and renewal); heilendes Gebet für verletzte Familien, Kirchen und Gemeinden (healing prayer for wounded families, church and community); befreites Leben in einer verwundeten Welt (released life in a wounded world). Wuellner beschreibt z. B. den Unterschied zwischen Leid teilen mit jemandem und infiziert werden durch jemandes Leid (40). Sie entlarvt eine bestimmte Art von Familien- oder Gemeindewitzen und -anekdoten als Symptome für die Schatten- und Schwachstellen von sozialen Institutionen gleich aufschlußreich, wie sie das ,Wir-sind-alle-gleich-Syndrom‘ mancher Gruppen als mangelndes Empfinden für Grenzen (43) erkennt. Sie problematisiert das Phänomen des Hilfesuchenden, der den Betreuer als Allmächtigen verherrlicht, obwohl dies nicht dessen Selbstbild oder Absicht entspricht (61). Gleichermaßen schildert sie die Situation des ,Geheilten‘, der in seine unbehandelte ,infizierte‘ Umgebung zurückkehrt und der mit der Frage von ,flüchten oder standhalten‘ konfrontiert ist. Manche ihrer Beispiele aus dem kirchlichen Bereich können verallgemeinert werden. Diese Möglichkeit der Übertragung auf den sozialen Alltag wie auch das Assoziieren eigener Erfahrungen wird durch die vielfältige Illustration der Phänomene mit Symbolen und Metaphern erleichtert. So verwendet die Autorin z. B. das Bild der Stechmücke, welche zuerst Blut saugt und dann ihr Toxin deponiert, als Illustration für verdeckte Machtansprüche von Hilfesuchenden, welche einerseits ihre Helfer aussaugen und anschließend ihre Probleme bei ihnen deponieren (56, 57).

Der Inhalt ist so angeordnet, daß die Autorin im Anschluß an jedes Kapitel Anleitungen zu Meditation und Gebet offeriert, mittels welchen sich die betroffenen Personen entlasten und so selbst zu ihrer Heilung beitragen können oder mittels welchen Heilerinnen oder Heiler in der Besinnung beistehen können. In diesen Teilen des Büchleins entführt die Autorin die Leser in eine aus der Bibel abgeleitete heile und heilen sollende Welt, welche vorwiegend aus Bildern aus der Natur, d. h. Bäumen, Sträuchern, Licht, Wasser etc., gestaltet wird und durch welche der Heilung Suchende Zugang zu Gott, Jesus und numinosen Kräften der Schöpfung findet. Dieser Zugang entspricht durchaus dem spontanen Erleben vieler Leidenden, die im Zyklus der Natur Zuflucht und Stärkung suchen. Das ganze Büchlein ist in einem eher überschwenglichen Stil geschrieben; z. B. ist von ,passionate compassion‘ die Rede (40). Diese Abschnitte stehen damit in einem gewissen Gegensatz zum engen Realitätsbezug der analysierten Situationsbeschreibungen.

,Release‘ will durch christlich orientierte Reflexion, Gebet und Meditation verwundeten ,Lastenträgern‘ praktische Hilfe anbieten. Diese zweifellos legitime und aufrichtige Absicht wird jedoch etwas kompromittiert durch Antworten auch auf Fragen, die letztlich nicht beantwortbar und Lösungsvorschläge für Konflikte, welche letztlich nicht zu lösen sind. Dadurch lassen die Heilanleitungen der Autorin auch gläubige Leser, welche gerade das Unabänderliche und Unverstehbare im Leben als Mysterium annehmen, etwas hilflos.

Manche der angefügten Beispiele werden für mein Empfinden durch harmonisierende oder ästhetisierende Beschönigungen überstrapaziert. Nicht nur beim Vergleich mit Bildern aus der Natur, sondern auch mit der Figur Jesu werden m. E. entscheidende Unterschiede verwischt. So werden Operationswunden in Analogie zu den Wunden Jesu als Quellen des Heils für andere dargestellt (100). Schließlich könnte das Zitat (119) „The Christian is released from perfectionism to being a lover of life“ bzw. dessen Ausfaltung durch die Autorin „. . . This release moves us from law into grace . . .“ als leicht antijüdisch mißverstanden werden. Die Autorin erwägt selbst, daß Menschen, die unter den von ihr beschriebenen Wunden leiden, unterschiedliche Heilungsbedürfnisse haben und ihren Ansatz möglicherweise kritisieren werden. Aber all diese kritischen Anmerkungen können die reichen Anregungen, die im Buch stecken, nicht verdecken.

Silvia Käppeli


Jahrgang 3/1996 Seite 223



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