1. Von der Tora und der Freude an ihr als dem jüdischen Lebenselement
Die noachidische Tora ist die Tora des jüdischen Volkes für die Völker. Christen sind zusammen mit den Völkern der Welt von den Juden explizit eingeladen, sich mit Israel an Gottes Weisung zum Leben zu freuen.
Bevor wir ausbrechen können in „christlichen Torajubel“, haben wir wahrzunehmen, daß die Freude an der Tora zunächst etwas durch und durch Jüdisches ist. Wir sind auf Israels Sprache verwiesen und angewiesen — nicht nur beim Wort „Tora“. Das hebräische simchat tora als Genitivverbindung hat zwei Bedeutungen: 1. Freude an der Tora wie beim großen Fest der Torafreude, bei dem die jüdischen Gemeinden mit den Torarollen im Arm durch die Synagoge tanzen, 2. Freude der Tora selbst.
Die Freude von uns Christen an der Tora — wenn es denn so etwas geben sollte — ist also im gelingenden Falle ein Mitfreuen mit Israel, das im Psalm 119 und anderswo mit Blick auf den Sinai zunächst einmal für sich selbst formuliert: „Ich habe Freude an deiner Tora.“
2. „Eröffnete Freude“. Vom universalen Zugang zur Tora Israels
Freude der Tora auch für nichtjüdische Menschen ist eine aus jüdischer Perspektive ausdrücklich gedachte Möglichkeit. Dieses Torawort, so sagt der rabbinische Midrasch, ergeht nicht exklusiv für wenige Herausgerufene; es entfaltet sich vielmehr in siebzig Zungen:2 es erschließt sich der Auslegung durch die ganze Völkergemeinschaft. Tora für die Völker — und der Möglichkeit nach auch die nichtjüdische Freude an ihr. Darum, so wiederum der Midrasch, ist das Wort vom Sinai an einem offenen, freien, herrenlosen Ort gegeben, damit sich die Weltmenschen nicht etwa dispensieren vom halachischen Diskurs, sondern empfangen und Anteil gewinnen an Gottes Weisung.3 Im übrigen sei, so variieren die Rabbinen diesen Gedanken noch einmal, die Tora drei Dingen vergleichbar: der Wüste, dem Feuer und dem Wasser; wie zu jenen drei, so bestehe auch zu den Worten der Tora für alle Erdenbewohner freier Zugang.4 Die jüdische Tora, das Herzstück jüdischer Identität, will sich hineinziehen und verwickeln lassen in die Frage nach einer Tora für die Völker.
Den Spitzensatz von der Inklusivität der Tora formuliert Rabbi Meir im 2. Jahrhundert:5 Ihm gilt ein Nichtjude, der sich mit Tora beschäftigt, wie ein Hoherpriester. Zur biblischen Begründung verweist Rabbi Meir auf Lev 18,5; dort heiße es nicht „die Priester“, „Leviten“ oder „Israeliten“, sondern „der Mensch“: der Mensch, der die Gebote der Tora tut, werde durch sie leben. Die Erfahrung, das Erleben faktischen Toraverhaltens der Nichtjuden trieb die jüdischen Weisen aber auch zur radikalen Gegenposition: Ein Nichtjude, der sich mit Tora befaßt, verdient den Tod aus der Hand des Himmels — so Rabbi Jochanan hundert Jahre nach Meir.6 Als biblische Stütze dient ihm Dtn 33,4: „Die Tora befahl uns Mose, zum Erbteil“ — uns zum Erbteil, nicht ihnen. Als sei Jochanans Votum nicht selbstredend, fügen die Weisen des Talmud erläuternd hinzu: Erbteil, morascha, meine ein Doppeltes; erstens das Israel von Gott Zugeeignete, das den Fremden nicht zum Raub fallen darf, und zweitens klingt morascha an meorasa an und bezeichnet die Verlobte, die Israel heimzuführen im Begriffe ist und die — im Pilgrimstand noch unterwegs — zu bewahren ist vor dem gewaltsamen Zugriff anderer.
Rabbi Jochanan und die Talmudlehrer reden, als habe ihnen schon in Umrissen vor Augen gestanden, wie sich eine Kirche aus den Völkern über Jahrhunderte hinweg zur Tora Israels verhalten würde. Diese Geschichte ist noch nicht umfassend recherchiert und geschrieben; aber soviel ist unmittelbar deutlich: Züge der Enteignung und des Raubes, der Entstellung und des gewalttätigen Übergriffes lassen sich bis in unsere Gegenwart hinein ausfindig machen. Wir müssen uns dieser Geschichte stellen, um klarzubekommen, was auf dem Spiel steht bei unserem Sich-Mitfreuen-Dürfen an Israels Tora.
3. Ernüchterungen: Von drei kirchlichen Formen der Tora-Verachtung
Die frühe Kirche hat eine ihrer wichtigsten Grundentscheidungen getroffen, als sie im 2. Jh. gegen Markion an der Zusammengehörigkeit von Altem und Neuem Testament festhielt. Durch die Jahrhunderte hat die Kirche diesen Zusammenhalt immer wieder verteidigt, zuletzt vielleicht am massivsten gegen die Theologie der Deutschen Christen, die als theologische Handlanger der Nationalsozialisten in Deutschland eben auch die Theologie und die christliche Tradition „judenrein“ machen wollten.
Es läßt sich grundsätzlich feststellen, daß die Kirche immer in bestimmter Weise „antimarkionistisch“ geblieben ist. Es wurde zum unumstößlichen Paradigma christlicher Theologie, daß wir nur Kirche sind im Zugehen auf und Umgehen mit jüdischer Tradition. Sofort ist allerdings festzustellen, daß sich dieses sogenannte antimarkionistische Paradigma von Anfang an verbunden hat mit einem christlichen Triumphalismus: Die Christen sind die beati possidentes, die glücklich Besitzenden gegenüber den defizitären Juden. Christen sind den Juden also nicht einfach gefolgt in Freude an der Tora, sondern in Schadenfreude aus einem Überlegenheitsgefühl heraus gegen die alte Religion. Antimarkionismus allein ist noch nicht alles, es geht auch um die viel kompliziertere und vielschichtigere Frage, wie im einzelnen dieses gewollte Verhältnis des Christentums zur jüdischen Tradition zu beschreiben sei. Ich möchte die unterschiedlichen Antwortversuche auf die Frage nach dem Zugehen der Christen auf die Tora Israels etwas vereinfachend zurückführen auf drei Grundmodelle.
a) Das erste Modell ist das antithetische. Statt Freude an der Tora die Lust am Gegensätzlichen! Dies ist eine der Denkfiguren, die gerade in der deutschen Theologie stark gewirkt haben: Wir brauchen das Alte Testament und das Jüdische als dunklen Hintergrund, vor dem sich das Christliche um so deutlicher abheben kann. Führende Köpfe gerade der Theologie in Deutschland — insbesondere protestantisch-lutherischer Prägung — haben sich überboten mit Büchern und Artikeln über den „Vergeltungsglauben im Alten Testament“, über den „Lohngedanken im Spätjudentum“ und anderes mehr. Wir brauchen das Alte Testament, als ersten Teil der Bibel — es ist nämlich dazu da, „als ewiges Bild der im Evangelium verneinten Gesetzesreligion dem christlichen Selbstverständnis von Gott als Stachel zu dienen.“7
b) Der Übergang zum zweiten Modell ist fließend, dem Modell der Überbietung des Alten durch das Neue oder auch der Erfüllung des Alten durch das Neue. Statt Freude an der Tora triumphaler Erfüllungsenthusiasmus! Rudolf Bultmann schreibt in seinem programmatischen Aufsatz über die Bedeutung des Alten Testaments für den christlichen Glauben: „Der christliche Glaube reißt gleichsam das Alte Testament an sich und behauptet, daß das, was hier gesagt wird, einst nur in einem vorläufigen und beschränkten Sinne gesagt und verstanden werden konnte, daß es erst jetzt recht gesagt und gehört werden kann.“8 In der alttestamentlich-jüdischen Tradition ist demnach rudimentär, verborgen und vorläufig durchaus schon da, was dann im christlichen Neuen Testament heller und besser und schöner zum Vorschein kommt. Das Gebot der Nächstenliebe zum Beispiel ist alttestamentlich bereits präsent (Lev 19,18), aber es kommt in seiner reinen und schönen Form erst zur Vollendung im Neuen Testament; es wird „qualitativ neu“ im Christentum.
c) Das dritte Modell nenne ich das eklektische, das kontextlose Umgehen mit der Tradition Israels und seiner Tora. Statt Freude an der Tora: die Lust am willkürlichen Herausbrechen aus dem jüdischen Tora-Steinbruch zum Zwecke christlicher Weiterverwendung! Das Verfängliche an diesem Modell ist nicht so sehr das Aufnehmen alttestamentlicher Stoffe als solches, sondern die Art und Weise, wie es geschieht: eben eklektisch, israelvergessen, ohne Bezug darauf, wohinein diese Texte gehört haben und weiterhin gehören — nämlich ins Glaubensleben Israels.
Mit einem solchen eklektischen Herausziehen einher geht ein von außen herangetragenes Bewerten und Beurteilen der anderen Tradition. Der Beurteilungsmaßstab dabei ist selbstverständlich ein christlicher. Wir Christen geben die Kriterien dafür aus, was an der alttestamentlichen Tradition für wertvoll zu erachten sei und was nicht. Und damit ist auch dieses dritte Modell ein triumphalistisches, weil selbstherrliches Modell. Hierher gehört z. B. auch die Unterscheidung in Moralgesetz, Zeremonialgesetz und Judizialgesetz, die Thomas von Aquin eingeführt hat9 und die von Luther und vielen anderen übernommen worden ist.
Ein neueres Beispiel für ein solches eklektisches Zugreifen auf die Toratradition Israels ist meines Erachtens die „Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz“ aus dem Jahr 1979 zum Thema „Grundwerte und Gottes Gebot“. In dieser Schrift wird der Versuch unternommen, die Zehn Gebote aus der Hebräischen Bibel als Grundpfeiler einer gesellschaftlich konsensfähigen allgemeinen Moral wiederzuentdecken und fruchtbar zu machen. Grundsätzlich wäre gegen ein solches Verfahren kaum etwas einzuwenden, wenn nicht eine allzu kurzschlüssige hermeneutische Voraussetzung mitgesetzt wäre — es heißt nämlich in der Einleitung:
Die Kirchen können und wollen aus ihrer Verantwortung vor dem Evangelium und vor ihren Glaubensüberlieferungen einen gemeinsamen Beitrag zum Wertkonsens in der Gesellschaft leisten. Die folgenden Überlegungen gehen von den Zehn Geboten aus, jenen Sollenssätzen also, die den Christen als Anrufe Gottes heilig sind und die sich auch in einer langen geschichtlichen Erfahrung als Anleitung zu einem menschenwürdigen Leben bewährt haben. Sie wenden sich zuerst an die Christen. Sie erinnern darüber hinaus alle Bürger, die gesellschaftlichen Gruppen und auch die politischen Parteien an die gemeinsamen Grundlagen des Zusammenlebens (9).
Sicherlich sind die Zehn Gebote „den Christen als Anrufe Gottes heilig“, aber doch nicht nur ihnen und nicht einmal primär ihnen. Primär geht es eben bei den Zehn Geboten um den Nukleus der Tora Israels. Für den Vorgang, heilige Texte „anderer“ dann auch zu meinen heiligen Texten zu machen, sollte jedenfalls mehr theologische Aufmerksamkeit eingesetzt werden als es diese evangelisch-katholischen Überlegungen hier getan haben.
4. Für einen Paradigmenwechsel in der Theologie: Vom „emanzipatorischen“ Wahrnehmen der Tora Israels
Was wir heute gegenüber den althergebrachten christlichen Triumphalismen neu zu lernen beginnen, ist: wir brauchen eine neue Grundorientierung für unseren Zugang zu Israel, nichts weniger als einen Paradigmenwechsel für unser Denken in Theologie und Kirche.
Wenn ein altes Paradigma (ein Theoriezusammenhang) brüchig und durch Mißbrauch gefährlich geworden ist, dann hat es Neuem Platz zu machen. Heute muß sich solch ein Paradigmenwechsel vom triumphalistischen Zugang zur Tradition Israels hin auf ein emanzipatorisches Zugehen auf das Judentum und seine Tora vollziehen. Das neue Paradigma muß heißen: „Gottes Gaben und Berufung (an Israel) können ihn nicht gereuen“ (Röm 11,29). Und die Falsifikation des alten Paradigmas ist: Auschwitz. Vor diesem Datum zerschellt die alte Theologie: daß die Kirche Jesu Christi und des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs durch ihre Theologie der Substitution Israels die Straße geebnet hat, die nach Auschwitz führte — das ist die Falsifikation des alten Paradigmas.
Paradigmenwechsel — wohin? Wir sollen wahrnehmen: ‘am Israel chai — das Volk Israel lebt. Dieser Paradigmenwechsel steht an Bedeutung auf der Stufe der antimarkionitischen Entscheidung der Kirche im 2. Jahrhundert. Es ist die Option nicht nur für eine Beibehaltung der Tradition Israels im Raum der Kirche, sondern die Option eines emanzipatorischen Zugehens auf sie.
Dabei geht es darum, das Selbstverständnis der alttestamentlich-jüdischen Tradition zur Geltung kommen zu lassen. Das nicht-christliche Traditionsgut muß emanzipiert werden von den christlichen Deutungskategorien. Die nicht-christliche Tradition — und damit immer auch die Menschen, die mit dieser Tradition leben — sollen aus dem Zugriff eines christlichen Vor-Wissens und Besser-Wissens in die Freiheit entlassen werden.
Meine Zuspitzung an dieser Stelle lautet: Auf die jüdische Tradition emanzipatorisch zu hören, heißt, ihr zuallererst dort zuzuhören, wo sie mich anreden will und das ist zunächst dort, wo sie universal-noachidisch reden will. Das wäre die große Neuorientierung, um die es für den christlichen Zugang zur Tora Israels geht. Christliche Freude an der Tora hebt dort neu an, wo uns die Tora noachidisch anredet.
Lassen wir an dieser Stelle — entsprechend dem emanzipatorischen Gedanken — jüdisches Selbstverständnis zur Sprache kommen. Moses Maimonides formuliert im 11. Jh. die für das toratreue Judentum bis heute gültige Haltung zur Frage nach einer Tora für die Völker:10
Unser Meister Mose erließ die Tora und die Gebote als Erbteil nur für Israel, wie geschrieben steht: „Erbe der Gemeinde Jakobs“ (Dtn 33,4), und für solche Menschen aus den übrigen Völkern, die Proselyten werden wollen, wie geschrieben steht: „der ger sei wie ihr“ (Num 15,15). Wer aber nicht konvertieren will, soll nicht gezwungen werden, Tora und Gebote zu übernehmen. Vielmehr hat Mose aus dem Munde der göttlichen Kraft geboten, alle Menschen, die auf Erden wandeln, dazu anzuhalten, diejenigen Gebote zu übernehmen, die den Nachkommen Noahs befohlen wurden.
Und welches sind die sogenannten sieben noachidischen Gebote?
1. Das Gebot, eine Gerichtsbarkeit einzurichten und für Rechtspflege zu sorgen; 2. das Verbot des Götzendienstes; 3. das Verbot der Gotteslästerung; 4. das Verbot des Blutvergießens; 5. das Verbot der Unzucht; 6. Das Verbot des Raubes; 7. Das Verbot der Grausamkeit gegen die Tierwelt — archaisch formuliert: das Verbot, sich ein Körperglied vom lebenden Tier einzuverleiben.
Die sieben noachidischen Gebote an die Menschheit wurden schon im 2. Jh. von den Rabbinen als allgemein relevante Tora formuliert.
5. Die rabbinische Gestalt einer Tora für die Völker
Israel verknüpft mit der noachidischen Weisung vier Bedeutungsaspekte. Es geht dabei um vier grundlegende Gesichtspunkte für eine Annäherung an ein Weltethos aus jüdischer Perspektive, die paradigmatisch werden könnten für das ganze Unternehmen.
Erstens: Die noachidische Tora ist die auf Noah zurückgeführte prä-sinaitische Lebens-Tora, gemeint für die aus der Flut Geretteten! Die jüdischen Weisen stellen das für sie verbindliche Sinaigeschehen in den großen Zusammenhang von Torakundgaben Gottes seit Beginn der Schöpfung. Die Beziehung Gottes zu Israel hat für die rabbinischen Lehrer ein Prä, etwas Vorausgehendes, das mehr ist als lediglich ein zeitlicher Begriff — das Prä der Beziehung Gottes zum Menschen überhaupt. Und Beziehungsgeschichte ist nie zu denken ohne Verpflichtungsgeschichte. So hat auch die Inpflichtnahme Israels am Sinai ein Prä. Wie der Israel am Sinai begegnende Gott von der Schöpfung her der Gott aller ist, so ist der Geber der Tora an Mose und sein Volk der Geber der Weisung auch an die Menschheit seit Adam und — mit dem Neubeginn nach der Flut — seit Noah. Israel anerkennt mithin eine seiner eigenen Begegnung mit Gott vorangehende Beziehung Gottes zur universalen Menschheit. Eigene Religiosität wird begriffen als ein Ausschnitt aus einem größeren Ganzen.
Zweitens: Israel gibt der Völkerwelt die Summe seiner eigenen Tora weiter. In den sieben noachidischen Geboten ergeht nicht nur eine universale Tora, sondern steckt auch das bleibend Konstitutive und Essentielle der spezifisch jüdischen Weisung. Es geht nicht darum, daß das Judentum in einem Akt theologischer Hybris den Weltvölkern ein Gesetz verordnen wollte, dem es sich selbst nicht stellt: Im Bild gesprochen trägt Mose Noah weiterhin in sich als integrales kritisches Moment. Der mittelalterliche Talmudgelehrte Menachem Meiri (1249-1316) sagte von den noachidischen Geboten, der Substanz nach stecke das meiste der jüdischen Tora in den universalen Geboten an die Menschheit. Diese Erkenntnis formuliere ich summarisch so: Das noachidische Siebengebot ist sozusagen kelal gadol — eine große Regel in der Tora.
Die Sieben haben durch die rabbinischen Diskussionen hindurch langsam zusammengefunden. Am Anfang standen wahrscheinlich die drei zentralen Verbote Götzendienst, Mord und Unzucht. Für diese drei waren die Juden bereit, in der Martyriumssituation zu sterben — so ein offizieller verbindlicher Beschluß einer rabbinischen Versammlung mitten in den Wirren der großen Hadrianischen Judenverfolgung. „Wenn die römischen Soldaten dir mit dem Tod drohen und dich zwingen, dies oder jenes Gebot zu übertreten, so sollst du das Gebot übertreten, um dein Leben zu bewahren — außer bei diesen dreien: Götzendienst, Mord, Unzucht.“11 Mit diesen dreien steht und fällt jüdische Existenz, und diese drei wurden auch zum Nukleus einer allgemein verbindlichen Tora in Gestalt der sieben Gebote.
Substantiell für die Juden sind die Sieben auch für die Weltvölker — und auch für die Christen aus den Weltvölkern — der Schlüssel zu aller, zur ganzen vollen Tora Gottes. Keiner möchte uns hier mit einem Mini-Ethos für Anfänger abspeisen. Der Schlüssel zum Ganzen, sagt Meiri, aber es ist eben — und das macht einen entscheidenden Unterschied — ein uns von Israel höchstpersönlich überreichter Schlüssel und nicht einer dieser heimlich oder frech selbstgefeilten Nachschlüssel. Die noachidischen Grundbestimmungen finden ihre Entfaltung in der jüdischen Tora — und diese wiederum wird an das Wesentliche ihrer Substanz erinnert durch das universale Gebot.
Drittens: Die noachidische Tora ist ein Konzept theologischer Toleranz und Akzeptanz des anderen, des Fremden. Es haben nämlich die Rabbinen den biblischen Begriff des ger, des fremden Ansässigen weiterentwickelt und sprechen vom ger toschav, dem nichtjüdischen Mitbewohner, gerade im Unterschied zum ger im Sinne des Proselyten. Dieser Begriff des Mitbewohners wird dann mit dem Noachiden identifiziert. Die talmudische Tradition sagt das so:12
Wer heißt ein ger toschav, ein Mitbewohner?
Die Weisen sagen: Wer auf sich genommen hat, die sieben Gebote zu halten, die den Noachiden gelten.
Der Mensch, der die sieben Gebote übernimmt, heißt ger toschav, Mitbewohner, Beisasse und ist deutlich unterschieden vom Proselyten, hebräisch: ger tsädäq, der sich mit der Konversion zum Judentum der Gesamtheit der Tora unterstellt. Insofern nun Israel zur Zeit der Rabbinen keine autonome politische Größe mehr ist, kann auch der ger toschav keine reale politische Größe mehr sein. Was die Bibel als reale politisch-geographisch-soziologische Einrichtung gedacht hatte — der Beisasse als Schutzbürger und Nachbar —, wird bei den Rabbinen nun zum theologischen Konzept: ger toschav wird zum Begriff geistig-religiöser Nachbarschaft, zum Ausdruck theologischer Akzeptanz gegenüber dem nichtjüdischen Menschen. Die sieben noachidischen Gebote den theologisch-ethischen Horizont, in dem sich die geistig-religiöse Nachbarschaft zum außerjüdischen Mitmenschen vollziehen kann.
Viertens: Die weiteste Hoffnungslinie des Noachidenkonzeptes: Anteil an der kommenden Welt. Die Rabbinen treiben die Frage der Nachbarschaft zu den nichtjüdischen Völkern über die Aspekte des politisch-geographischen Zusammenlebens und einer Koexistenz in religiöser Toleranz weiter bis zum äußersten Horizont einer Lebensgemeinschaft mit Gott: Gibt es Heil jenseits der Mauern und Grenzen der eigenen Religion? Bereits die Tannaiten des ersten Jahrhunderts beschäftigen sich mit dieser Frage:13
Rabbi Eliezer sagte: Kein Heide hat Anteil an der kommenden Welt,
denn es steht geschrieben: „Die Gottlosen werden ins Totenreich gehen, alle Heiden, die Gott vergessen“ (Ps 9,18).
„Die Gottlosen werden ins Totenreich gehen“ — das meint die Gottlosen Israels“ („alle Heiden, die Gott vergessen“ das meint die Weltvölker).
Rabbi Joschua widersprach: Wenn geschrieben stünde: „Die Gottlosen werden ins Totenreich gehen, alle Heiden“ und kein Wort mehr, dann würde ich deiner Meinung beipflichten;
nun spricht aber der Vers von denen, „die Gott vergessen„, und zeigt damit an, daß es Gerechte unter den Völkern gibt, und die haben Anteil an der kommenden Welt.
Die letztlich verbindliche halachische Entscheidung erfolgt im Codex des Maimonides entsprechend dem Ansatz Rabbi Joschuas: Auch die Frommen der Weltvölker haben Anteil an der kommenden Welt. Verbindlich formuliert Maimonides:14
Wer die sieben Gebote übernimmt und gewillt ist, sie zu tun,
der gehört zu den Frommen der Weltvölker
und hat Anteil an der kommenden Welt.
Mit diesen Worten beschreibt Maimonides die Bedingung der Möglichkeit einer endzeitlich gelingenden, wahrlich zukunftsträchtigen Wohngemeinschaft zwischen Juden und Weltvölkern im Angesicht des ewigen Gottes. Weit über die ökonomisch-politische Ebene hinaus ist der nichtjüdische Gerechte, der mit den sieben — und nicht etwa mit den 613 — Geboten lebt, Mitbewohner in der Sphäre des Heils der kommenden Welt.
6. Das JA auf alle christliche Toramitfreude im Zeichen noachidischer Gebote
Das Evangelium von Jesus Christus ist uns das Ja und die Vergewisserung auf alle christliche Toramitfreude, wie Christus (nach 2 Kor 1,20) das Ja auf alle Lebenswege Israels ist. Ich fasse die Bestätigung christlicher Torafreude aus dem Evangelium in fünf Punkten zusammen:
- Die Evangelien zeigen auf Schritt und Tritt: Nachfolge Jesu versetzt in den Raum von Tora — nicht nur der schriftlich-biblischen, sondern auch der mündlichen und damit hinein in die Denk- und Lebenswelt derer, die die Gebote an Noahs Nachkommen formuliert haben. Wer es nach Auskunft der Evangelien mit Jesus von Nazaret zu tun haben will, bekommt es von vornherein mit einem jüdischen Ausleger der Tora zu tun. Wir können Jesus nicht haben wollen ohne sein Verflochtensein in den lebendigen Prozeß der Tora-Auslegung. Va-ani omer, sagten die Rabbinen, und leiteten damit ihren Beitrag zur Halachafindung ein — „Ihr habt gehört . . .“ (Mt 5,22) ist auch Jesu Formel, mit der er sich an dem nie endenden Vorgang beteiligt, das alte Gebot Gottes immer wieder neu lebbar zu machen. Es gehört wirklich zu den Fehlern von vorgestern, hier immer noch antithetisch zu übersetzen „Ich aber sage euch“. Nachfolge Jesu versetzt in den Raum von Tora — das muß uns als Christen einmal klargeworden sein. In vielen Beispielen — wie Jesu Haltung zur Schabbatheiligung oder seine Auffassung von der Totenauferstehung — befindet sich die Überlieferung der Evangelien in ganz unmittelbarer Nähe zu zeitgenössischen jüdisch-rabbinischen Diskussionen.
- Das sogenannte Dekret der Apostel an die Christen in Antiochien (Apg 15) ist strukturell so etwas wie eine Aufnahme noachidischer Prinzipien in der Kirche — um einer Weggemeinschaft, Wohn- und Tischgemeinschaft willen zwischen Juden und Christen. Das war damals eine ganz virulente Frage. Eine Kirche jedenfalls, die an einer gemeinsamen Zukunft mit Israel interessiert ist, muß anfangen, in diesem Sinne nach dem „Noachidischen“ zu fragen.
Nach dem Bericht in Apg 15 betrachten es die Apostel um Paulus, Barnabas und Jakobus als eine „vom Heiligen Geist“ gewirkte Entscheidung, den Heidenchristen für ihr Zusammenleben mit Christen aus der Judenschaft folgende Botschaft zu übermitteln: Die Gesamtheit der Tora bleibt jüdische Angelegenheit; die für die Heidenchristen nötigen Stücke sind die, „daß ihr euch enthaltet von Götzenopfer und vom Blut und vom Erstickten und von Unzucht“ (15,29). Traditionsgeschichtlich stecken hinter diesen vier Regeln die wichtigsten Grundgebote, die in der Hebräischen Bibel für die gerim gelten — also für die im Verbund mit Israel lebenden Nichtjuden. Strukturell geschieht hier in der Apostelgeschichte genau das, was die talmudischen Weisen zur neutestamentlichen Zeit bereits entwickelt haben und noch weiter entwickeln: Die Völker sind auf den Weg zur Übernahme der gesamten Sinaitora nicht verpflichtet! Und doch: Grundgebote, Grundgehalte der jüdischen Tora sollen auch die Heiden angehen. Im Blick auf Apg 15 müßte die christliche Kirche also strukturell und prinzipiell vorbereitet sein auf so etwas wie Aufnahme jüdischer Tora. Für die frühen Christen bedeutete dies jedenfalls nichts weniger als einen „geistgewirkten“ Vorgang.
- Paulus gewinnt seine Überzeugung in Sachen Tora aus der Tora und ihrer jüdischen Auslegung selbst. Sowohl in der Fülle seiner Einzelweisungen an die Christen als auch in der Unterscheidung zwischen der Toratreue Israels und dem Verwiesensein der Völker auf Grundlinien dieser Tora schöpft er aus dem Selbstverständnis der Tora. Die Analyse der paulinischen Briefe zeigt, wieviel Tora Paulus in seinen Paränesen faktisch rezipiert. Dies zeigen z. B. die sog. Lasterkataloge bei Paulus. Konkrete Tora, die nirgendwo anders herkommt als aus der jüdischen Tora. Nicht nur dies. Die Lasterkataloge, d. h. Zusammenstellungen von Verfehlungen, denen sich die neuen heidenchristlichen Gemeinden auf jeden Fall enthalten sollen, orientiert Paulus am Kernbestand der universalen noachidischen Tora an die Völker. Zu seiner Zeit waren die sieben Gebote so noch nicht formuliert, wohl aber die Warnung vor den drei sogenannten Kardinalsünden: Götzendienst, Unzucht und Blutvergießen. Auf diese drei Hauptstücke eines jüdisch formulierten Weltethos spricht Paulus seine Christen in Galatien an: Enthaltet euch der Werke des Fleisches, welche sind: die Unzucht, Unreinheit und Unersättlichkeit; der Götzendienst, Zauberei, Verfallensein an die Magie; die Feindschaft, Hader, Mißgunst, die bis zum Blutvergießen führen (vgl. Gal 5,19-21). Die klassische jüdische Sündentrias strukturiert paulinisch-christliche Ethik. Wie die Rabbinen in der noachidischen Tora verbindet auch Paulus mit diesen Grundgeboten nichts weniger als das Erben oder eben Nichterben der Gottesherrschaft. Mit Paulus gilt jedenfalls: In Unzucht, Götzendienst, Blutvergießen und Grenzenlosigkeit werden wir das Reich Gottes nicht erben (vgl. Gal 5,20-21).
Wie in den Einzelgeboten, so schöpft Paulus auch seine grundsätzliche Haltung zur Tora aus der Tora selbst: Mit den rabbinischen Weisen ist er sich einig darüber: Die Gesamtheit aller Gebote der Tora ist Sache der jüdischen Torafrömmigkeit — die Christen aus den Heidenvölkern müssen und sollen auch nicht via Beschneidung zuerst Juden werden, um dann Christen sein zu können. Ihr Einstieg in die Gottesgemeinde ist Christus, nicht die Beschneidung und damit die Übernahme des Judentums; und der Einstieg in Christus bringt dann auch mit der Tora in Berührung, denn Christus ist das Telos (Ziel) der Tora (Röm 10,4). Darum kann Paulus auch sagen in Röm 3,31: „Wie? Heben wir denn das Gesetz auf durch Glauben? Das sei ferne! Sondern wir richten Tora auf.“ Freude an der Tora, christlich-jüdischer Konsens um ein Stück Tora? An Paulus jedenfalls braucht dies nicht zu scheitern!
- Daß wir im Neuen Testament die nachmaligen noachidischen Gebote allesamt anwesend sehen, sagt mir, daß es keine Formulierung des Christlichen zu geben braucht, die im Widerspruch zum Noachidischen steht. Figurativ gesprochen tragen Christus und die Seinen mit Mose auch Noah in sich als integrales kritisches Moment.
- Wenn wir den systematischen Hauptsatz der Christologie — aus dem Munde des johanneischen Jesus an die fremde Frau am Brunnen: „Das Heil kommt von den Juden“ (Joh 4,22) — glaubend annehmen, dann braucht uns eigentlich auch kein Skrupel zu überkommen, wenn rabbinische Juden in ihren besten Traditionen uns Gojim in noachidischen Termini Toraorientierung anbieten.
Im Zusammenhang einer Diskussion über den Sabbat in MekhY zu Ex 20,8-11 zitieren die Rabbinen Ps 62,12 f.: „Eines hat Gott gesagt, zweierlei habe ich gehört: Bei Gott ist die Macht; Herr, bei dir ist die Huld. Denn du wirst jedem vergelten, wie es seine Taten verdienen.“
Die Einheit des Torawortes liegt allein in Gott; auf seiten des Menschen steht die Ausdifferenzierung, die Vielheit und damit auch die Vieldeutigkeit, die Brechung des einen Impulses in viele Strahlen. Bei Gott ist vereint, was wir nur in unterschiedlichen Akten und Aspekten wahrnehmen können.
Dieses eine Torawort ist also für Israel wie auch für die Völker prinzipiell unverfügbar. Für beide — für Israel und die Völker — differenziert es sich aus in die Vielzahl der Gebote. Das beiderseitige Bewußtsein der Toraentzogenheit ist für Juden und Christen gleicherweise ein guter hermeneutischer Ratgeber im Umgang mit Gottes Weisung zum Leben und allemal auch ein guter Ratgeber für die Bemühung um das Juden und Christen Gemeinsame im Horizont des Ringes um das eine Weltethos zum Wohle der ganzen Menschheit.
- Diesem Artikel liegen zwei Vorträge an der Bischöflichen Akademie des Bistums Aachen vom 16./17. September 1995 zum Tagungsthema „Im Ringen um ein Weltethos. Eine christlich-jüdische Vergewisserung“ zugrunde.
- bShab 88b.
- Mekhy zu Ex 20,2 (Lauterbach II, 236 f.).
- Ebd.
- bSan 59a.
- Ebd.
- Emanuel Hirsch, Das Alte Testament und die Predigt des Evangeliums, 1936; zitiert bei R. Rendtorff, Die jüdische Bibel und ihre antijüdische Auslegung, in: Auschwitz — Krise der christlichen Theologie, hg. v. R. Rendtorff/E. Stegemann, München 1980, 102.
- Rudolf Bultmann, Die Bedeutung des Alten Testaments für den christlichen Glauben, in: Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze I, 334.
- Summa 1/11 q. 104,3.
- 101 Maimonides, Mischne Tora hilchot melachim 8,10.
- bSan 74a.
- bAZ 64b.
- tSan 13,2 (Zuckermandel, 434).
- Mischne Tora, hilchot melachim 8,11.
(Vgl. dazu in diesem Heft „Bücherschau“ S. 288—290: Klaus Müller, Tora für die Völker.
Jahrgang 3/1996 Seite 250