Werke 3: Die Botschaft des Judentums
Passagen Verlag, Wien 1994. 290 Seiten.
In der im letzten Jahr rezensierten Werkausgabe Hermann Levin Goldschmidts (FrRu NF 2/1995, 280-285) ist inzwischen nach dem Vermächtnis des deutschen Judentums auch seine zweite Grundschrift einer jüdischen Selbstbesinnung und -darstellung erschienen: Die Botschaft des Judentums. Die Erstauflage erschien 1960 in der Europäischen Verlagsanstalt in Frankfurt.
Will man den vorliegenden Band 3 der Werkausgabe mehr als drei Jahrzehnte nach seinem ursprünglichen Erscheinen würdigen, so müßte man es eigentlich in die Reihe der dort auf S. 168 genannten „Hauptschriften des neuzeitlichen [deutschsprachigen] Judentums“ einordnen, die von Moses Mendelssohn über Baeck, Bloch, Buber, Rosenzweig bis Margarete Susman reicht. Das Hiob-Buch hatte Goldschmidt 1968 bei Herder in dritter Auflage herausgegeben. Er bereitet jetzt eine Neuausgabe bei Suhrkamp vor. Daß in anderen Verlagen gleichzeitig Gesamtausgaben von Leo Baeck und Martin Buber angekündigt sind und die Rosenzweig-Gesamtausgabe erscheint, darf neben der zu rezensierenden Ausgabe als ein hoffnungsvolles Zeichen für das „Vermächtnis des deutschen Judentums“ gelten und zeigt vielleicht auch, daß die Frage einer jüdisch-deutschen Kultur nicht abgeschlossen ist.
Das Buch gliedert sich in sechs Teile: I. Grundlagenbesinnung — II. Glaube und Wissen, beide unverkürzt! — III. Zum Reich! — IV. Judentum und Christentum künftig — V. Vom Lehrhaus — VI. Letzte Grundbegriffe: Zerstreuung und Sammlung, die jeweils mit Anhängen versehen sind.
Die Entwicklung der Grundkategorien erfolgt in der Rückfrage nach den geschichtlichen Quellen, allerdings nicht historisierend, sondern in einer von den Fragen der Zeit geprägten Reflexion, die — obwohl das Grauen der jüngsten Vergangenheit immer im Hintergrund steht — einen drängenden, zukunftsoffenen, schwungvoll-engagierten Zug aufweist. Beeindruckend ist der Versuch, von verschiedenen Punkten her die Frage nach Universalität und konkreter individueller Geschichtsgestalt zu bedenken. Viele einzelne Bemerkungen, geschichtliche Exkurse und idealtypische Skizzen sind anregend, verblüffen manchmal auch denjenigen, der von einer vielleicht etwas schulmäßigen theologischen Tradition herkommt und verdienten eine ausführlichere Auseinandersetzung in ihrem jeweiligen Sachzusammenhang.
Das in allen Kapiteln — nicht nur im IV. — mitschwingende Thema „Judentum und Christentum“ wird unter einer nicht relativierenden, aber die Vielfalt und Eigenständigkeit anerkennenden heilsgeschichtlichen Perspektive durchgeführt, so das Erbe Baecks und Rosenzweigs aufnehmend und auf die Fragestellung der drei abrahamitischen Religionen weiterführend. In den gegenwärtigen Diskussionen um „Weltethos“ oder pluralistische Religionstheorien sollte man diese Stimme nicht vergessen, die jedenfalls sehr beeindruckend die eigene Einwurzelung bewahrt. Goldschmidt ist dabei näher an Rosenzweig als an Buber, dessen „Einsame Zwiesprache“ — hier u. a. anhand von Hans Urs von Balthasars gleichnamigem Buch thematisiert — im Grunde doch wenig Möglichkeiten des Dialogs läßt, trotz der beeindruckenden Offenheit der bekannten Stelle über die Begegnung mit Jesus. Die Frage an Balthasar nach dem Grund für die Wahl gerade dieses Gesprächspartners angesichts anderer Möglichkeiten war jedenfalls wichtig.
Daß das Buch auch Zeugnis des eigenen Weges ist, wird besonders im Kapitel über das Jüdische Lehrhaus in Zürich deutlich.
Die Anhänge setzen sich zum Teil referierend mit anderen Positionen auseinander, neben Balthasar mit G. Scholem, E. Bloch, S. Weil. Auch hier werden bedenkenswerte und sicher für viele überraschende Akzente gesetzt, so beim Plädoyer für den frühen, „jüdischen“ Bloch gegen das die eigenen Ursprünge bewußt verdeckende Spätwerk.
Der Herausgeber kennzeichnet die Schriften Goldschmidts gut als „Interventionen gegenüber einem zeitgeistbeherrschten Denken, das geschichtsblind der Reflexion auf die eigene Geschichtlichkeit verlustig gegangen ist, weil es an die eigene Geschichte nicht erinnert werden mag“. Die Fortsetzung macht deutlich, daß dies nicht antiquarisch gemeint ist: „Ein zentraler Satz Goldschmidts in dem abschließenden Anhang Das jüdische Verhältnis zu Deutschland lautet denn auch: ,Die Vergangenheit hat Zeit; keine Zukunft kann ihr entgehen‘.“ Das ganze Buch zeigt, daß dies keinesfalls resignierend gemeint ist.
Albert Raffelt
Jahrgang 3/1996 Seite 280