Übersetzt und erläutert. Reprint Verlag Morascha, Basel/Zürich 1995. 850 Seiten.
Die Werke des bekannten Rabbiners Samson Raphael Hirsch (1808-1888) werden vom Verlag Morascha, Basel/Zürich, jetzt sukzessiv neu verlegt. Bei der Besprechung des Buches ,Pirqei Avot‘ desselben Autors in der letzten Ausgabe des FrRu (3/1996, 212-214) wurde die Person des Rabbiners Hirsch schon beleuchtet. Es reicht also, jetzt auf diese Ausgabe hinzuweisen, die allen Christen-Theologen empfohlen wird, welche sich von der Last vorgeformter Meinungen der christlichen Psalmeninterpretation befreien möchten.
Dieser Reprint eines Kommentars von 1883 ist immer noch sehr lesenswert, was von ähnlichen Werken aus der christlichen Tradition der Bibelinterpretation kaum gesagt werden kann. Der Grund ist deutlich: Der Text, nur der überlieferte Text, und nicht das Umfeld, der historische Kontext, die Zeitgeschichte, keine ad absurdum führende Textkritik usw. bestimmen die Auslegung, sondern nur das, was uns im vorliegenden Text überliefert wird. Es gibt Querverweise Richtung Gebetbuch, aber Hirsch bleibt textgetreu. Wenn er liest und übersetzt, blühen die uralten Psalmen wieder neu auf, so wie sie gesungen, gebetet wurden. Vor allem aber werden die Psalmen von Rabbiner Hirsch der historischen Kritik enthoben, in einer Weise, die uns nur bei pietistisch/reformierten Auslegern bekannt war. Der Stil dieses Werkes ist klassisch-gediegen. Die Psalmen werden fortlaufend behandelt. Oben auf der Seite: Text und Übersetzung, unten: Kommentar. Aber die Übersetzung ist die Grundlage. Am Schluß des Buches gibt es keine Register, die uns von diesem einheitlichen und textgetreuen Auslegungsweg wieder abbringen könnten.
Die Grundlage unserer Exegese ist: Wir sollten mit den Texten arbeiten. Für Hirsch ist der masoretische Text grundlegend und (selbst)bestimmend für die Auslegung. Außerdem fragt man sich, warum in christlichen Kreisen die jüdische Auslegungsarbeit immer noch so wenig beachtet wird.
Wenn S. R. Hirsch nach der Staatsgründung Israels gelebt hätte, dann hätte er sicher anders kommentiert, als er es 1883 getan hat. Aus seinen damaligen Schwerpunktsetzungen ist aber herauszulesen, daß sich in seiner Psalmenauslegung die israelische Staatsgründung und die später erfolgte Rückeroberung der Altstadt Jerusalems vermutlich mehr ausgewirkt hätte als die Schoa. Sogar diese Erkenntnis kann für den christlichen Leser und die christliche Leserin wichtig sein, vielleicht auch deshalb, weil die christliche Auslegung der Psalmen, vor allem „den Leidenden“ anvisiert hat, der klassische jüdische Ausleger aber aus der geographischen, historischen und zionistischen Tradition lebt.
Wir haben hier ein Buch, das man sogar als Tagebuch, als eine tägliche Brevierlesung zur Hand nehmen kann.
Nico Sonnevelt
Jahrgang 3/1996 Seite 286