Übersetzung aus dem Hebräischen, Vorwort und Glossar M. Seidler. Morascha, Basel/Zürich 1995. 383 Seiten.
,Talmud für Jedermann‘ erreicht sein Ziel, nämlich den Talmud einer breiten Öffentlichkeit von Anfängern und Vertrauten zugänglich zu machen, ohne dabei der Tiefe und Komplexität der Materie Unrecht zu tun. Das Buch ist eine Fundgrube von religionsgeschichtlichen Zusammenhängen, ein literaturgeschichtlicher Werkstattbericht und eine höchst anschauliche Wiedergabe von Religiosität, Theologie, Psychologie, Alltag und Mystik der Rabbinen, wie sie im Talmud zum Ausdruck kommen. In wohlorganisierten und abgegrenzten Kapiteln führt Steinsaltz den Leser in Geschichte, Struktur, Inhalt und Methode des Talmud ein.
Steinsaltz, einem in Jerusalem lebenden Rabbiner, der u. a. Herausgeber des gesamten vokalisierten Talmud ist, gelingt es meisterhaft, all dies auf ca. 360 Seiten zusammenzufassen. Er schreibt als gänzlich vom Talmud durchdrungener Jude. Laut Steinsaltz ist das Judentum aus verschiedenen Gründen mißverstanden worden. Aus seiner kritischen Beurteilung des Umganges von Christen mit jüdischen Quellen heraus ist Steinsaltz bemüht, historisch-ideologische Hindernisse und christliches Pseudowissen hervorzuheben. Er stellt den Talmud als Kern des Judentums und als Verkörperung jüdischer Eigenart dar. Seine religiös-kulturell-gesellschaftliche Integrationskraft sieht er in dessen inhaltlicher Vielgestaltigkeit und in der Art des Talmudstudiums begründet, welches nicht nur das intellektuelle Engagement des Lernenden, sondern auch seine uneingeschränkte gefühlsmäßige Anteilnahme erfordert.
Das Buch gibt einen Überblick über die historische Entwicklung der mündlichen Lehre, deren Beginn (allzu früh) um ca. 950 v. Z. angesetzt wird. Trotz der damaligen Verbundenheit der Israeliten mit der Tora machten verschiedene Umstände deren mündliche Auslegung nötig: Die Wanderungen des Volkes Israels und die damit verbundenen Einflüsse aus den Kulturen und Herrschaftssystemen, die Israel umgaben oder in welchen es sich eingliedern sollte, und innerisraelitische und innerjüdische Veränderungen der Gesellschaftsstrukturen zwangen es zum Überdenken von Traditionen. Im Zusammenhang mit Exil, Tempel/Tempelzerstörung und Diaspora mußte die Handhabung der Toratreue immer wieder neu geregelt werden. Auch die Sprache wandelte sich im Verlauf der Generationen. Eine mit dem Umfang der Tradition verbundene Entwicklung war diejenige von auf Erinnerung basierend weitergegebenen Tradition zu deren gezieltem Lernen. Mit Esra (um ca. 445 v. Z.) folgten die Anfänge der ,beruflichen‘ Auslegung. Nach der Kanonisierung der Heiligen Schrift durch die ,Männer der Großen Versammlung‘ war die systematische Verschriftlichung der mündlichen Tradition das große Werk der Soferim (jüdischer Schriftgelehrter).
Im Anschluß an seine historischen Entwicklungen in Verbindung gebrachten Beschreibung der Ursprünge des Talmud erörtert Steinsaltz, ebenfalls chronologisch geordnet, die Prägung der mündlichen Lehre durch hervorragende Gelehrte wie Hillel und Shammai und von Gruppen von Gelehrten in bestimmten historischen Epochen. Zu den letzteren gehörten die Weisen der Mischna, welche während den von äußeren und inneren Wirren geprägten Zeiten bis ca. 200 n. Z. wirkten. Die Rabbinen der Mischna-Zeit ordneten vor allem Inhalte der Überlieferung nach Gegenständen, legten Formulierungen fest und organisierten das bisher eher anonyme Wissen zu einem Körper bewußter Kenntnisse. Steinsaltz‘ Ausführungen über diesen religionsgeschichtlichen Abschnitt gipfelt in seiner Beschreibung der eindrücklichen Redaktion der mündlichen Tradition in Form der Mischna durch Rabbejnu Ha Kadosch (Rabbi Jehuda Hannasi, um 200 n. Z.). Sie führte schließlich dazu, daß die Mischna ein heiliges Lehrbuch von großer Geschlossenheit wurde.
Dem Zeitalter der Mischna-Lehrer folgte dasjenige der Amoräer ab ca. 220 n. Z. Sie setzen das Lebenswerk des Jehuda Hannasi fort, indem sie die nun verschriftlichten Texte der mündlichen Tradition dem Publikum vortrugen und auslegten. Während der Zeit der Amoräer wechselte der Führungsanspruch der Lehrhäuser von Erez Israel zu den Toraakademien von Sura und Nehardea in Babylonien. Durch ihre hervorragende Arbeit verhalfen letztere dem Judentum in Babylonien zu einer ca. 700 Jahre langen Blütezeit. Der babylonische Talmud wurde zum Glaubens- und Kulturgut, welches nie redigiert, aber doch als „Bibliothek“ verfaßt wurde. Die Unabgeschlossenheit dieser ,kollektiven Schöpfung des gesamten jüdischen Volkes‘ bedeutet seither eine immerwährende Herausforderung zur neuen Aktualisierung. Im Laufe dieser Zeit veränderte sich die Art des Torastudiums vom Lernen mit einem Gelehrten zum Selbststudium und zur individuellen und kollektiven kritischen Auseinandersetzung mit der Materie.
Steinsaltz verfaßt eine kurze Analyse der auffallendsten Unterschiede inhaltlicher und stilistischer Art zwischen den beiden Talmuden und deren Konsequenzen für ihre Gültigkeit. So gewährt er dem Leser Einblick in die Welt der würdigen Toragelehrten, der emsigen Lehrhausbetriebe und ihrer eifrigen Schüler. Das inhaltliche Hauptanliegen vor allem des babylonischen Talmuds ist die Auslegung der Mischna. Steinsaltz gelingt es, dem Leser diesen ,Schatz jüdischer Weisheit‘ und den Geist jüdischen Denkens zu jener Zeit auf lebendige Weise nahezubringen, indem er sowohl auf inhaltliche wie auf methodische Eigenarten hinweist. Dazu gehören das verwirrende Nebeneinander-Bestehen-Können von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die fehlende Einteilung in Wesentliches und Unwesentliches, Anwendbares und Theoretisches und die wunderliche Beschäftigung der Toragelehrten mit Problemen aus längst vergangenen Zeiten. Der Talmud ist geprägt vom assoziativen und diskursiven Denken der Gelehrten sowie von mühelosen Übergängen von einem Thema zum andern. Methodische Hauptmerkmale der rabbinischen Denkart sind die Erklärung von Problemen und Begriffen anhand von Modellfällen, die zentrale Bedeutung der Fragen, das Nebeneinanderbestehen unterschiedlicher Lehrmeinungen zu einem bestimmten Thema und das Phänomen, daß der Talmud als heiliges Buch überhaupt hinterfragt werden darf. Die Verbundenheit des Autors sowohl mit dem Inhalt als auch mit dem Zugang des Talmud zur jüdischen Religion zieht sich durch alle Kapitel des Buches. Für Steinsaltz, wie für die Rabbinen, ist der Talmud mehr Lebensweisheit als akademische Übung.
Der Titel des Buches wird seinem Inhalt insofern nicht gerecht, als er weit mehr bietet als er verspricht. Es geht nicht ,nur‘ um den Talmud, sondern um jüdische Identität im Rahmen der gesamten Geschichte. Analog zur Beschreibung der Entstehung des Talmuds informiert das Buch über seine Rezeption. Mit derselben Sorgfalt und Anschaulichkeit, mit der Steinsaltz Mischna und Talmud erläutert, erklärt er auch die durch das Diaspora-Judentum bedingte und von diesem erschaffene Kommentarliteratur Nordafrikas und Südwesteuropas im Mittelalter bzw. im 16./17. Jahrhundert in Polen. Auch dieses Stück Geschichte verbindet Steinsaltz mit parallelen historischen Entwicklungen: dem Buchdruck und den Reaktionen verschiedener europäischer Länder und der katholischen Kirche auf die ,Bedrohung‘ durch eine nun mühelosere Verbreitungsmöglichkeit des Talmuds.
Steinsaltz‘ Analyse der Bedeutung des Talmud läßt keinen Zweifel darüber aufkommen, daß richtiges Talmudstudium nicht nur zum Erwerb analytischen Denkens, sondern auch zu einer ethischen Haltung, die um stete Wahrheitsfindung bemüht ist, führt, und daß sich der so erworbene Sinn für hinterfragendes Denken schließlich in allen Lebensbelangen der Gelehrten niederschlägt. Die Charakterisierung des Talmuds als ein auch heute noch das Volk konstituierender Faktor scheint angesichts der Säkularisierungsprozesse innerhalb des Judentums auch etwas fragwürdig. In diesen Passagen wechselt Steinsaltz seinen sonst sachlich belehrenden Ton zu einem nahezu beschwörenden.
Die sprachliche und inhaltliche Gestaltung dieses allgemeinverständlichen, aber für Talmudanfänger nicht ganz anspruchslosen Buches könnte bei vielen eine Faszination bewirken. Die lehrreiche, aber doch gemütvolle Präsentation lockert die Dichte des Materials angenehm auf und erlaubt dem Leser, etwas von der Atmosphäre jener geschichtsträchtigen und schicksalshaften Jahrhunderte, aber auch des Zaubers der Mystik im Zeitalter der Rabbinen zu atmen. Das in leicht lesbares Deutsch übersetzte Buch enthält ein nützliches Glossar, in welchem die verwendeten hebräischen Wörter übersetzt oder erklärt werden.
Silvia Käppeli
Jahrgang 3/1996 Seite 296