Feindpsalmen verstehen. Biblische Bücher, Band I, hg. von Christoph Dohmen und Thomas Söding. Herder, Freiburg 1994. 177 Seiten.
In diesem Buch rollt Erich Zenger ein oft unter den Teppich gekehrtes Thema auf: die Gewalt in der Heiligen Schrift. Bereits am Anfang des Bandes widerlegt er das Vorurteil, der das angeblich ausschließlich „milde“ Neue Testament von der Negativfolie des „gewaltvollen“ Ersten Testaments abheben will. Zenger weist nach, daß Strenge und Sanftmut sowohl in der hebräischen wie auch in der griechischen Bibel vorhanden sind. Einerseits schreit der Psalmbeter zu einem Gott der Vergeltung, andererseits läßt sich Gott als „gnädig und barmherzig, geduldig und von großer Güte“ erkennen. Die gleiche Ambivalenz ist auch in den Predigten Jesu vorhanden, eine Abwechslung von Härte und Sanftmut.
Nach Zenger bieten die Feindpsalmen „weder eine dogmatische Gotteslehre noch eine Kurzfassung biblischer Ethik. Es sind poetische Gebete, die den Tätern der Gewalt einen Spiegel vorhalten. Und es sind Gebete, die den Opfern der Gewalt, indem sie ihnen den Schrei nach Gerechtigkeit und nach dem Gott der Ahndung in den Mund geben, helfen können, an ihrer Menschenwürde festzuhalten und im betenden Protest gegen die gottwidrige Gewalt die Angst vor den Feinden und den Feindbildern gewaltlos auszuhalten. Die in den Psalmen angelegte Übertragung der Vergeltung auf Gott impliziert den Verzicht auf eigene Vergeltung.“ Der Autor analysiert die sogenannten Feindpsalmen aufgrund von tiefenpsychologischen Erkenntnissen und der Theodizee, der Rechtfertigung eines gerechten Gottes angesichts einer ungerechten Welt. Aus den tiefen Schichten der Seele eines unschuldig und ohnmächtig Leidenden hervorbrechend, bringen die Psalmverse dem Leser oder Hörer das Aggressionspotential des anderen und sein eigenes ans Licht. Der Psalmbeter steht vor der durch den Frevler zerstörten göttlichen Gerechtigkeit und schreit zu Gott für die Wiederherstellung der göttlichen Ordnung. Es geht dem Beter eigentlich nicht um eine persönliche Rache an die Übeltäter, sondern um die Frage nach Gott angesichts des erlebten Unrechts. Er hat das Bedürfnis, zu erkennen, daß das Übel nur vorübergehend ist und daß letztlich Gott über das Böse siegen wird. „Wo alles gegen Gott spricht, sprechen die Beterinnen und Beter alles zu Gott.“ Zenger stellt seine These aufgrund der Auseinandersetzung mit den aus dem Stundengebet herausgeschnittenen Psalmen und Psalmteilen dar. Er erörtert den jeweiligen Psalm einzeln und im Kontext des gesamten Buches der Psalmen. Dem Vernichtungswunsch gegen Babel im Psalm 137 soll man den auch für die Feinde Israels geäußerten Friedenswunsch im Psalm 87 entgegenstellen. In solch einer Gegenüberstellung kann man erkennen, daß „Feindpsalmen“ eigentlich ein Schrei nach Gerechtigkeit in Zeiten des Bedrängnisses sind. Der Psalm 137 wird in der christlichen Kirche oft als Gewaltpsalm verstanden. Dabei geht es gerade in ihm um eine Ohnmachtssituation par excellence und um ein aus den Tiefen hervorbrechendes Verlangen nach göttlicher Ordnung. „Tochter Babel du Gewalttätige . . . / Selig, wer ergreift und zerschmettert / deine Kinder am Felsgestein“: Diese Verse sind keine Anstiftung zum Kindermord, sondern ein poetisch-bildhafter Ausdruck des Wunsches, der Ungerechtigkeit ein Ende zu setzen. Die Psalmen für das Stundengebet zu verstümmeln, ist theologische und poetische Barbarei.
Die traditionelle liturgische Sprache des christlichen Gebets hat „in Auschwitz ihre Unschuld verloren“, schreibt Zenger am Schluß seines Buches. Mit anderen Worten kann man sagen: Die Situation des ohnmächtig Leidenden, der nach Gott schreit, ist in der Gottesfinsternis der Vernichtungslager am greifbarsten. Auch die Psalmen muß man im Sinne einer Theologie nach Auschwitz deuten.
Monika Beck
Jahrgang 3/1996 Seite 300