Rubin Mass, Jerusalem 1995. 397 und XXXI Seiten (Hebr. Summary).
Die vorliegende Jerusalemer Dissertation behandelt die masoretischen Akzente der hebräischen Bibel aus musikwissenschaftlicher Sicht. Es ist eine alte und bis heute umstrittene Frage, wie weit sich das System dieser Akzente überhaupt musikalisch interpretieren läßt und ob sich die ganz verschiedenen Traditionen jüdischer Bibelkantillation, wie sie noch immer praktiziert werden, auf einen gemeinsamen Ursprung zurückführen lassen.
Daniel M. Weil setzte sich zum Ziel, auf der Materialbasis des masoretischen Textes eine musikbezogene generative Grammatik der Akzente zu beschreiben, dergestalt, daß die charakteristischen Eigenschaften aller Zeichen und die regulierenden Prinzipien ihrer Kombinationsmöglichkeiten erfaßt werden. Die Hauptschwierigkeit einer solchen Untersuchung besteht darin, daß die Zeichen selber gar nichts über die konkrete Ausführung der Kantillation aussagen. Denn diese ist allein Sache der mündlichen Lehre und Überlieferung.
Im ersten Teil des Buches erarbeitet Weil eine strukturalistische Theorie des Akzentsystems anhand von computergestützten Analysen und statistischen Erhebungen. Im zweiten Teil erprobt er die gefundenen Melodiemodelle an transkribierten Beispielen von Bibelkantillation (Ausschnitte aus den unterschiedlichsten Lokaltraditionen und Textgattungen). Er kommt zum Schluß, daß sich die verschiedenen Ausformungen rezenter Überlieferungen auf ein gemeinsames Substrat reduzieren lassen. Dessen Strukturgerüst besteht in einem einfachen pentatonischen Melodiemodell, das sich in absteigenden Zickzacklinien entsprechend der Struktur des Textes von Vers zu Vers wiederholt. Die Gesetzmäßigkeit dieses universalen musikalischen Systems sind laut Weils Theorie in der Akzentuierung der hebräischen Bibel durch die Masoreten kondensiert worden (10. Jh.). Seine Ausprägung aber führt er noch viel weiter zurück, nämlich auf die berufsmäßige musikalische Praxis der Leviten zur Zeit des Zweiten Tempels.
Weils Ergebnisse klingen bestechend durch ihre einfache, klare Formulierung und mit ihren kühnen Thesen. Gerade wegen ihrer Übervereinfachungen, mit denen eine bekannte Archetypentheorie neu bestätigt werden soll, provozieren sie aber kritischen Widerspruch und rufen nach einer fundierteren Auseinandersetzung vor allem mit den historischen Dimensionen des Gegenstandes.
Heidy Zimmermann
Jahrgang 4/1997 Seite 146