Erinnerung an meine jüdische Freundin. Quell-Verlag, Stuttgart 1996. 151 Seiten.
Kurt Witzenbacher, Mitbegründer der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Karlsruhe, schreibt unter dem einprägsamen Titel „Kaddisch für Ruth“ als Siebzigjähriger seine Erinnerungen an jene Kinderbekanntschaft nieder, die ihn, den Achtjährigen mit dem zugezogenen zehnjährigen Judenmädchen Ruth Rosenberg für rund ein Jahr verband: „Keine einfache Geschichte. Doch ich will versuchen, sie einfach zu erzählen“ (11). Das ist das erste, was dieses Buch kennzeichnet: Ein altgewordener Akademiker gibt seine Erinnerungen in den kindlichen Vorstellungen und mit den einfachen Worten eines Achtjährigen wieder, wie es war damals in Karlsruhe.
Die kurze Zeit der Begegnung mit Ruth reicht von Oktober 1937 bis Ende November 1938. Im Oktober zieht die jüdische Familie Rosenberg bei den „arischen“ Witzenbachers ein und wohnt in ihrem großen Haus zur Miete. Die beiden Familien begegnen sich mit gegenseitiger Sympathie. Der kleine Junge ist zunächst davon enttäuscht, daß der erwartete Spielgefährte ein Mädchen ist, freundet sich aber schnell mit Ruth an. Sie erleben für über ein Jahr eine „Kinderfreundschaft“.
Durch Ruth lernt der Junge eine jüdische Familie kennen, die es mit der Glaubenspraxis sehr ernst nimmt. Er nimmt an ihren jüdischen Festtagen teil, besucht mit ihr die Synagoge und begegnet damit dem Judentum. Zugleich begleitet ihn Ruth zu den evangelischen Kindergottesdiensten und lernt dadurch das Christentum kennen. Gegenseitig erklären sie sich ihre religiösen Glaubensaussagen und Gebräuche. „Jahre später entdeckte ich, daß es ein jüdisches Mädchen war, durch das ich nicht nur dem Judentum immer näher gekommen war, sondern auch zum Glauben an Jesus Christus“ (55).
Währenddessen nimmt die jüdische Tragödie ihren Lauf. Von Anbeginn ist die Familie Rosenberg den Anfeindungen der Nachbarschaft ausgesetzt und plant die Ausreise nach Palästina. Ruth wird als Juddebankert beschimpft. Die Familie verarmt zusehends. Im Oktober 1938 wird der Vater als Jude mit polnischer Staatsangehörigkeit abgeholt und soll nach Polen abgeschoben werden. Am 9. November erlebt der Junge den Brand jener Karlsruher Synagoge, in der er so oft mit der Familie Rosenberg an den Gottesdiensten teilgenommen hatte. Ende November kommen zwei Männer in Ledermänteln und verhaften Frau Rosenberg und ihre Tochter. Entsetzt erlebt der Junge, wie seine Freundin gewaltsam aus seinem Leben gerissen wird.
Spätere Nachforschungen ergeben, daß Ruth und ihre Eltern im KZ Auschwitz vergast worden waren. „Ihre Spuren konnten bis zur Gaskammer verfolgt werden“ (149).
Diesen Jugenderinnerungen, denen „Das Kaddisch — Gebet für Trauernde“ voransteht, werden im Prolog und Epilog eingerahmt von einem Freitagabendgottesdienst in einer Synagoge, während dem der Autor beim Beten des Kaddisch zurückdenkt an seine Freùndin Ruth: „Wer sagt dir, Ruth, noch kaddisch? Wer gedenkt noch deiner? Deine Spuren sind verweht — wie die Blätter unserer Kastanie. Auch sie gibt es nicht mehr. Wo bist du? Es gibt keinen Grabplatz für dich. Nur ein Grab in den Wolken verblieb denen, die in Rauch aufgingen“ (150).
Bernd Bothe
Jahrgang 4/1997 Seite 148