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Clemens Thoma

Entlarvte Schuld der Schweiz

1. Das Sündenregister

Stetig steigender internationaler Druck lastet seit 1995 auf der Schweiz. Dieses sich selbst als ziemlich unschuldig, tapfer, sauber und antihitlerisch beurteilende Land habe während des Zweiten Weltkriegs übelste finanz- und wirtschaftspolitische Kumpanei mit der Nazi-Diktatur getrieben. Das verbrecherische Hitler-Regime habe Gold aus den Zentralbanken der überfallenen Länder geraubt. Außerdem habe es eine große Menge privaten Geldes besonders aus jüdischem Besitz konfisziert. Etwa 32 Tonnen Gold allein aus niederländischem, besonders jüdischem Privatbesitz dürften in die Schweiz eingeführt worden sein. „Ein noch traurigeres Kapitel ist das ,Totengold‘ aus Konzentrationslagern; es ist nicht einzusehen, weshalb Deutschland darauf verzichtet haben sollte, aus Zahnfüllungen und Eheringen gefertigte Goldbarren in die Schweiz auszuführen.“1

Die Schweizerische Nationalbank betätigte sich als Gold- und Geldwaschanlage. Vermutlich gelangte während des Krieges Gold im Wert von mindestens 1,7 Milliarden Franken in die Schweiz. Von dort wurden 428 Millionen noch während des Krieges an andere Nationalbanken weitergeleitet. Das Nazi-Raubgold wurde in die Schweiz verschoben, und die schweizerischen Bank-Verantwortlichen bezahlten es mit Franken und Rappen. Das Gold selbst verkauften sie mit leichtem Gewinn nach Lissabon, London, Skandinavien etc. In diesem Zusammenhang wird von radikalen Beschuldigern das schwerste Geschütz aufgefahren: Die Schweiz habe mit ihrer Gold-Politik den Zweiten Weltkrieg verlängert und sei mitschuldig an der von den Nazis befohlenen und durchgeführten Ermordung von Millionen von Menschen, besonders ab den Jahren 1942/43. Als Kronzeuge dafür wird der Präsident der Deutschen Reichsbank, Funk, zitiert. Laut dessen Erklärung hätte das Deutsche Reich ab 1943 keine zwei Monate ohne Devisenzufuhr aus der Schweiz auskommen können. Der Deutschen Reichsbank waren die eigenen Goldreserven tatsächlich spätestens 1943 ausgegangen. Das von ihr in den letzten Kriegsjahren ausgesetzte Gold war zu drei Vierteln, zuerst in der Tschechoslowakei, in Österreich und später besonders in Holland und Belgien, gestohlen worden.

Neben der Geldpolitik erhält auch die Wirtschaftspolitik der Schweiz schlechte Noten. Aus reiner Gewinnabsicht habe die Schweiz hochwertige Präzisionsinstrumente, Flugzeugbestandteile, Fernsteuerungsprogramme etc. an Nazideutschland geliefert. Diese Dinge waren für die deutsche Kriegsführung unentbehrlich.

Schon älter, bekannter und zum Teil von der Schweizer Bevölkerung bereits anerkannt, sind weitere schwere Versäumnisse und Aktionen der Schweiz vor und während des Krieges. Schon vor Kriegsbeginn wurde von Bern aus der deutschen Regierung der sogenannte Judenstempel (J) empfohlen. Dann folgte die „Das-Boot-ist-voll-Politik“, die die Abriegelung der Schweiz bzw. die Zurückweisung der Flüchtlinge aus dem Nazireich ermöglichte. Tausende — besonders Jüdinnen und Juden — wurden an der Grenze abgewiesen und damit in den Tod getrieben. Grenzwächter, die Flüchtlinge in die Schweiz schmuggelten (z. B. Hauptmann Paul Grüninger), wurden bestraft. Peinlich nimmt es sich heute aus, daß die schweizerisch-jüdischen Organisationen selber finanziell für jüdische Flüchtlinge bzw. für deren Weiterkommen sorgen mußten. Die Eidgenossenschaft nahm sich nur der nichtjüdischen Flüchtlinge an.

All das ist eine — teilweise erst vermutete — Geschichte der Furcht, des Kleinmuts und der geistigen Enge. Diese Geschichte wird momentan zu grell und zu kontextlos an die Oberfläche gespült. Man hat auf genaue Untersuchungen und auf ausgewogene Geschichtsurteile zu warten.

2. Überhitzte Atmosphäre

Besonders seitdem der damalige schweizerische Bundespräsident Jean-Pascal Delamuraz am Jahresende 1996 von einer „Lösegeld-Erpressung“ seitens „jüdischer und anderer Kreise aus dem Ausland“ gesprochen hat, sind die Tage des Entsetzens, der Rechtfertigung, der Polemik, der pauschalen Vorwürfe und der Besinnung angebrochen. Die Schweiz gleicht derzeit einem geschlossenen Raum, in dem sich penetranter Benzingeruch ausbreitet und man daher nicht weiß, ob ein Streichholz gefahrlos angezündet werden darf. Einerseits kann die undurchsichtige und aufgewühlte Szenerie zum Vorzeichen einer späteren Katharsis werden, d. h. zu einer klärenden Läuterung der schweizerischen Identität. Andererseits breitet sich bei Beobachtern und Verantwortlichen die Angst vor der sich neu erhebenden Hydra des Antisemitismus aus. Es war zum Frösteln, als in Zeitungen von einer „beispiellosen internationalen Dreckkampagne unter jüdischem Diktat gegen unser neutrales Land“ die Rede war.

Im März 1997 war ich eine Woche lang in Österreich. Dort wurden mir mehrmals die „Protokolle der Weisen von Zion“ unter die Nase gehalten. Das Beispiel Schweiz zeige erneut, daß die Juden die Weltherrschaft planen. Zweimal wurde mir ein 1994 in Ungarn publiziertes Buch über die angeblichen weltverschwörerischen Aktivitäten der Juden und der Freimaurer gezeigt. Laut diesem Buch sei nie bewiesen worden, daß die „Protokolle“ unecht seien. Außerdem sei es unvorstellbar, daß Präsident Clinton seine Macht ohne die Juden auszuüben vermöge.

In der Schweiz gab es im ersten Quartal 1997 eine Unmenge von Appellen, Manifesten, Leserzuschriften, Vorträgen, Diskussionsrunden etc. über die Beurteilung der Schweiz als Kollaborateurin Hitlers, als tapfere Verteidigerin der Freiheit, als judenabweisende Clique oder als schweigende, furchtsame, gewinnsüchtige und die Wahrheit verheimlichende Nation. Die Veranstaltungen endeten oft mit einem Eklat: Jemand enthüllte seine Bankenfreundlichkeit, seine Bewunderung für die wehrhafte Schweiz, sein judenfeindliches oder judenbegeistertes Herz. Oft waren dies nur Wichtigtuereien!

3. Mahnungen, Aufrufe und Versprechungen

Am 14. Januar 1997 gab die christlich-jüdische Arbeitsgemeinschaft der Schweiz unter Federführung des reformierten Pfarrers Georges Braunschweig die Erklärung „Unrecht und Wahrhaftigkeit“ heraus. Es gehe um

„ein klares Bekenntnis zur unvoreingenommenen, wahrhaftigen Auseinandersetzung mit jener Phase der Schweizer Geschichte, ... die wie keine andere das Selbstverständnis vieler Schweizerinnen und Schweizer bis heute bestimmt. Vor der historischen Aufklärung des politischen, sozialen, juristischen und wirtschaftlichen Verhaltens der offiziellen Schweiz in den Jahren 1933-1945 ... vermögen die bis heute beanspruchten Leitbilder des Selbstverständnisses einer humanen, gerechten, offenen, aufrichtigen Schweiz nicht zu bestehen.“

Dann weist die Erklärung auf die „unaufgearbeitete Vergangenheit“ der Schweiz hin,

„die während der Kriegsjahre zwar bereit war, bedrohte Militärpersonen aufzunehmen, aber jüdischen Zivilflüchtlingen, die ... direkt von Mord und Totschlag durch Unrechtsregimes und ihre Mittäter bedroht waren, die Anerkennung als politisch Verfolgte verweigerte. In diesem Zusammenhang bricht der sonst weitgehend abseits der Öffentlichkeit wirkende Antisemitismus durch. Schweizer Judenfeinde fühlen sich in solcher Stimmung offenbar ermutigt, ihren verkrampften Haß anonym und teilweise öffentlich auszuleben ... Der Druck zur Klärung von Unrecht und zur Überwindung falscher Bilder kommt jetzt von außen ... Die damaligen Opfer und ihre noch lebenden Angehörigen dürfen keinesfalls erneut in die ihnen nicht zukommende Rolle der Urheber gestoßen werden. Es gehört zu den grundlegenden Spielregeln einer Demokratie, daß Betroffene und Geschädigte ihre Rechte einklagen, sich selbst für ihr Ansehen wehren und darin ernstgenommen werden.“

Weitgehend im Geiste von „Unrecht und Wahrhaftigkeit“ äußerten sich von Januar bis März 1997 fast alle kirchlichen Gemeinschaften der Schweiz. Die Schwerpunkte der meisten Dokumente liegen in der Aussage, daß keine Form von Judenfeindschaft, Fremdenfeindschaft oder Rassenfeindschaft mit dem christlichen Glauben vereinbar ist und daß die Schweiz sich der historischen Wahrheit stellen und sich entsprechend läutern muß.

Einen noch nachhaltigeren Eindruck als die christlichen Erklärungen machte das Manifest politischer Linkskreise vom 21. Januar 1997. Bereits der Untertitel verrät den energischen Ton:

„Wir, die unterzeichnenden Schweizerinnen und Schweizer, Einwohnerinnen und Einwohner dieses Landes, fühlen uns von keiner jüdischen Organisation unter Druck gesetzt, jedoch vom Verhalten der schweizerischen Banken und des schweizerischen Bundesrates diskreditiert.“

Die Unterzeichner verlangen im Haupttext eine volle Distanzierung der Regierung von den Aussagen von Bundesrat Delamuraz. Sie klagen ferner die Banken an, die nach 50 Jahren seit Kriegsende „immer noch so tun, als ob die Rolle des Finanzplatzes Schweiz als Helfer und Hehler für die Nazis nicht längst bekannt wäre“. Dann kommen die Verfasser auf das politische, gesellschaftliche und kulturelle Versagen der Schweiz zu sprechen: auf den Judenstempel, der deutschen Behörden eingeflüstert worden ist, auf Beschönigungen und Entstellungen der Geschichte seit 1933, auf antisemitische Tendenzen in der Schweiz und auf die Pflicht zur Zurückgabe von Gestohlenem oder menschenfeindlich Erwirtschaftetem.

Auch Finanz- und Wirtschaftsgruppen meldeten sich zu Wort: rechtfertigend, um Verständnis ringend und alles mit Zahlenmaterial belegend. Zwischendurch schrillte die Stimme des amerikanischen Senators D‘Amato via CNN mit pauschalen Urteilen in die Schweiz hinein. Dazu schrieb er Briefe an den Bundesrat und veranstaltete feierliche Hearings in New York. Am 2. Mai 1996 unterzeichnete die Schweizerische Bankiervereinigung zusammen mit jüdischen Organisationen das „Memorandum of Understanding“, das die Einsetzung eines Gold-Geld-Untersuchungsausschusses vorsieht (sogenannte Volcker-Kommission). 25. Oktober 1996: Im Schweizer Außenministerium wurde die Task-Force-Kommission unter Leitung von Thomas Borer eingesetzt. Sie soll die Rolle und Verantwortlichkeit der schweizerischen Behörden vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg untersuchen. 19. Dezember 1996: Die Schweizer Regierung ernannte die Historiker-Kommission. Sie soll (unter Leitung von Jean-François Bergier) historische und rechtliche Untersuchungen über die Schweiz in der Nazizeit vornehmen. 5. Februar 1997: Die Schweizer Großbanken beschlossen die Errichtung eines Fonds von 100 Millionen Franken im Sinne der humanitären Tradition der Schweiz. 6. März 1997: Bundespräsident Arnold Koller hielt vor der Bundesversammlung eine Rede, in der er eine „Schweizerische Stiftung für Solidarität“ mit dem Stiftungsvermögen von etwa sieben Milliarden Franken ankündigte. Mit ihr sollte ein Beitrag zur Linderung schwerer menschlicher Not im In- und Ausland geleistet werden. Die Geschädigten des Holocaust sollen berücksichtigt werden. Dies hat inzwischen viel zur Beruhigung der internationalen Streitlage beigetragen.

4. Nur Gericht über die Vergangenheit?

Winston Churchill sagte einmal: „Sitzt die Gegenwart über die Vergangenheit zu Gericht, dann verspielt sie die Zukunft.“ Verdeutlichend müßte es heißen: Wenn die Gegenwart die Vergangenheit nur pauschal und verständnislos verurteilt, dann verpaßt sie die Zukunft.2 Der ungeheuerlichen Katastrophe des Zweiten Weltkriegs mit seinen Massenmorden — besonders der Vernichtung von sechs Millionen Juden —, mit seinen Räubereien, Schiebereien und seinem Heer von furchtsamen und feigen Mitmachern war keine Institution, kein Land, keine Regierung und keine Religion voll gewachsen. Man wird dies bei der Beurteilung der Rolle der Schweiz im Auge behalten müssen. Eines der erfreulichsten Phänomene mitten im Trubel der Anschuldigungen ist die Haltung und Ausdrucksweise der Schweizer Juden, besonders der leitenden Personen: Rolf Bloch, Michael Kohn, Sigi Feigel, Ernst L. Ehrlich. Sie unterstützen stets alle Bemühungen, die darauf gerichtet sind, die geschichtliche Wahrheit herauszufinden und die volle Gerechtigkeit für die Geschädigten und Verfolgten zu erreichen. Sie machen auch unermüdlich auf den erneut grassierenden Antisemitismus/Rassismus aufmerksam. Auch stellen sie sich bereitwillig allen Fragen und Diskussionen. Sie lassen aber nie einen Zweifel an ihrer Solidarität mit der schuldig gewordenen Schweiz aufkommen. Nur Klarheit und effiziente Zeichen der Wiedergutmachung können die jüdisch-schweizerische Zukunft sichern. Unsere Beobachtungen über die gegenwärtige Krise der Schweiz haben uns auch gezeigt, daß man den Antisemitismus nicht mehr exklusiv auf christlich-jüdischer Ebene bekämpfen kann. Schon während des Zweiten Weltkriegs, und noch mehr heute, ist aus dem alten christlich-jüdischen Feindschaftsgeflecht ein fachlicher, berufsgebundener, wirtschaftlich motivierter Antisemitismus geworden. Er spielt sich fern von alten religiösen Vorurteilen ab und verlagert sich hin zu den neuen Machtpositionen. Wenn ein finanzieller Vorteil oder die Verteidigung einer selbstbezogenen wirtschaftlichen Position es erfordert, dann können Macht- und Geldträger und auch Verteidiger des „Schweizer Mythos“ bereit sein, Juden preiszugeben, ähnlich wie sie es damals in der Nazizeit taten.

Den Kirchen und den aktiven Christen verbleibt die Pflicht, gegen den Abfall von der christlichen Ethik, der sich in den säkularen Bereichen der heutigen Welt zeigt, deutlichen Widerspruch anzumelden. Sie haben diese Pflicht in der Nazizeit und danach wenig wahrgenommen. Schweigen war gefahrloser und billiger! Im Schatten des Weltkrieges hat die Schweiz Unrecht gefördert. Nicht nur wer mordet ist schuldig, sondern auch wer zuschaut, schweigt und Gewinn einheimst. Seinerzeit hatte schon Heinrich Heine3 angesichts von menschenverachtenden Geldmanipulationen in Frankreich, die religiöse Frage sarkastisch aufgreifend, ausgerufen: „Besteht nun die heutige Religion in der Geldwerdung Gottes oder in der Gottwerdung des Geldes?“

  1. Thomas Maissen in der Neuen Zürcher Zeitung am 16. Sept. 1996; im Februar 1997 kam der „NZZ-Fokus“ heraus: „Schatten des Zweiten Weltkriegs, Nazigold und Schoa-Gelder – Opfer als Ankläger“. Darin ist der Artikel von Maissen S. 36 f. nachgedruckt: „Die Nationalbank im Gegenwind. Die Lieferungen von deutschem Raubgold in die Schweiz“. Die meisten Informationen für diesen Artikel habe ich dem NZZ-Fokus entnommen.
  2. Vgl. Otto Kopp u. a., Von der Vergegnung zur Begegnung von Judentum und Christentum. Weg-Skizze zu wahrer Gemeinschaftlichkeit. Civitas 9/10, Okt. 1995, 208-219.
  3. Heine, Werke V 332; vgl. FrRu 2 (1997) 81-89.

Jahrgang 4/1997 Seite 161



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