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Wilhelm Schwendemann

Melanchthons humanistische Stellung zu den Juden

Um Melanchthons (1497-1560) Humanismus verständlich einzuordnen, muß erst ein Blick auf seinen Großonkel geworfen werden, den Humanisten und christlichen Kabbalisten Reuchlin (1455-1522).

Johannes Reuchlin, 1455 in Pforzheim geboren, besuchte bereits mit 15 Jahren die neu eröffnete Universität Freiburg i. Br. und ging 1473 nach Paris, um an der dortigen artistischen Fakultät seine Studien in Philosophie und den humanistischen Fächern fortzusetzen. Unter dem Einfluß der Schrift „Anleitung zum Studium“ von Rudolf Agricola (1444-1485) begann sich Reuchlin ebenfalls für eine humanistische Reform der Universität einzusetzen. Das humanistische Bildungssystem wollte gegen den alten scholastischen Lehrbetrieb die Antike wiederbeleben. Griechische, lateinische und hebräische Schriften wurden ins Deutsche mit moralphilosophischem Interesse übersetzt. Bahnbrechend in diesem Bemühen war Reuchlin für das in Deutschland noch kaum gepflegte Studium des Althebräisch. Mit seinem Werk „De rudimentis hebraicis“ (Rudimenta) wurde er zum Begründer der neuzeitlichen Hebraistik. Gerade die Rudimenta wurden auch schon von Martin Luther etwa 1509/10 in Erfurt rezipiert und von Philipp Melanchthon benutzt. In seinen Studien der hebräischen Sprache und der jüdischen Theologie fordert Reuchlin den Glauben, der frei von philosophischer Spekulation ist und der sich an die hebräische Sprache gebunden habe, was z. B. für Luther, der von Reuchlins Hebräischkenntnissen beeinflußt war, nicht mehr nachvollziehbar war.

Zwischen 1509 und 1520 wurde Reuchlin in den antisemitischen „Judenbücherstreit“ (Johannes Pfefferkorn, 1469-1523?) verwickelt. In diesem Streit forderte Maximilian I. 1509 die Juden auf, ihre Bücher an Pfefferkorn auszuhändigen. Reuchlins Gegenschrift „Der Augenspiegel“ von 1511 wurde 1513 von den Universitäten Löwen, Köln, Erfurt, Mainz und Paris als zu judenfreundlich deklariert und der Vernichtung anempfohlen. Der Inquisitor Jakob Hochstraten versuchte, Reuchlin vor ein kirchliches Gericht in Deutschland zu bringen. Reuchlin appellierte an Leo X., der ihn 1520 verurteilte. Der Augenspiegel wurde verboten. Eine zu judenfreundliche Haltung blieb trotz Humanismus der römischen Kurie unerwünscht. Reuchlins Kampf war keineswegs projüdisch und prosemitisch eingestellt: „Der Talmud steht zwischen den Juden und ihrer Bekehrung,1 oder: „Nicht alle Teile des Talmud sind den Juden zu entwenden und zu verbrennen — nur das, was Ketzerei oder Blasphemie enthält, ist zu vernichten. Aber doch nur so, daß jene Teile wenigstens bei den Bischöfen aufgehoben werden, so daß sie zugänglich sind für christliche Hebraisten. Und wenn Juden je wieder mit haltlosen Behauptungen aufwarten, dann können Textkundige antreten, um sie zu widerlegen und zu verurteilen.“2 Reuchlins Ansatz war, daß Juden keine Sklaven, sondern Mitbürger, d. h. keine Ketzer im Sinn des Kirchenrechts waren. Deshalb dürfen eben auch jüdische Bücher nicht vernichtet werden, die Juden sollten aber gleichzeitig durch vernünftige Disputationen zu Christus bekehrt werden. Im weltlichen Reich waren Juden für Reuchlin Bürger, im geistlichen Reich Gegner. Er bemühte sich um die Integration bekehrter Juden, die als Hebräischlehrer eingesetzt werden sollten.3

Philipp Melanchthon, geboren am 14. Februar 1497, Praeceptor Germaniae (Erzieher Deutschlands), wie er schon bald nach seinem Tod 1560 genannt wurde, war ein enger Freund Martin Luthers. Gleicherweise bestanden intensive Beziehungen zu den oberdeutschen Humanisten, wie z. B. Erasmus von Rotterdam. Großen Wert legte er darauf, durch Sprache den Menschen zu bilden. Er forderte Dialogbereitschaft, die Sonderinteressen auch einmal hintanstellen kann und Verantwortung für das Ganze, das Gemeinwesen, übernimmt. Aufgewachsen in Bretten und Pforzheim, wo er engen Kontakt zu dem großen Humanisten Johannes Reuchlin, seinem Großonkel, hatte, führte der Weg des jungen Humanisten über Heidelberg und Tübingen und mit 21 Jahren auf die Griechischprofessur nach Wittenberg. Dort begann das freundschaftliche Verhältnis mit Luther, der ihm den Weg zur reformatorischen Theologie und zum protestantischen Weg eröffnete. An der deutschen Bibelübersetzung Luthers war der hervorragende Griechisch- und Hebräischkenner Melanchthon maßgeblich beteiligt. Seit 1529 vertrat Melanchthon Luther, der mit Reichsacht und Kirchenbann belegt war, auf Reichstagen und bei Religionsgesprächen und avancierte schnell zum Wortführer der lutherischen Reformation.

Aus seiner Feder stammen wesentliche Basisschriften der Reformation, wie z. B. das Augsburger Bekenntnis oder das erste systematisch-theologische Lehrbuch, die Loci communes. Bei den Gesprächen mit der römisch-katholischen Seite hat Melanchthon immer wieder versucht, Brücken zu bauen und die Einheit der christlichen Kirche wieder herzustellen, weswegen er im Grunde als Vater der Ökumene gilt. Neben seinen theologischen und die Bibel kommentierenden Schriften ist vom Lehrer Philipp Melanchthon eine große Zahl von Grammatiken, Lehrbüchern aller Wissensgebiete, Übersetzungen und Kommentierungen antiker Schriftsteller, Theaterstücken, politischen Schriften und Briefen (insgesamt ca. 9000 Briefe) erhalten. Durch diese in vielen Auflagen gedruckten Bücher und durch zahlreiche Schul- und Universitätsordnungen hat er sich den Ehrentitel Praeceptor Germaniae erworben.

Philip Melanchton. Foto: dpaPhilipp Melanchthon hatte keine Probleme mit der Literatur des Judentums und dem zeitgenössischen Judentum selbst. Das ist für die Reformationszeit, man erinnere sich an Luthers Schriften gegen die Juden, keinesfalls selbstverständlich. Melanchthons Stellung ist nur unter dem Einfluß Reuchlins auf Melanchthon verständlich. Seine Zeit in Tübingen war geprägt vom sogenannten Judenbücherstreit, in den Reuchlin verwickelt war. Melanchthon wiederum unterstützte Reuchlin und nannte ihn einmal Germanorum studiorum antesignanus (Fahnenträger der deutschen Studien).4 1518 verfaßte Melanchthon eine Streitschrift für Reuchlin, die aber verschollen ist. Am Anfang seiner Wittenberger Professur mußte Melanchthon neben seinem eigenen Lehrstuhl auch noch den Lehrstuhl für Hebräisch vertreten, wofür er bereits seinen eigenen hebräischen Bibeltext benutzte. Für Melanchthon enthielt das Alte Testament Gottes Offenbarung als Gesetz und Evangelium, band aber Christen nicht in allen Teilen wie das Neue Testament. Etwas anders sah es in Melanchthons Umgang mit zeitgenössischen Juden aus. Über sie urteilte er theologisch eindeutig, sie seien nicht Gottes Kirche und verfälschten, wie Katholiken, Täufer, Spiritualisten, Muslime usw., die Bibel. In einer Vorlesung kommentierte Melanchthon ausführlich das jüdische Verbot des Schweinefleischgenusses.5

Auf dem Fürstentag 1539 in Frankfurt a. M. nahm Melanchthon Stellung zum Brandenburger Judenpogrom von 1510, der durch einen angeblichen Hostienfrevel ausgelöst worden war. Dem Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg6 machte Melanchthon klar, daß dieser Pogrom großes Unrecht war. Josel von Rosheim konnte aufgrund dieses Votums von Melanchthon erreichen, daß Juden in der Mark Brandenburg wieder zugelassen wurden. Melanchthon war sich bewußt, daß Juden zu Unrecht des sog. Hostienfrevels und anderer Vergehen bezichtigt wurden. Es ist üblich, andere zu beschuldigen, wo wir doch besser unsere Sitten anklagen und bessern sollten.7

Die jüdische Mystik (Kabbala) war in ihrer Semantik Melanchthon fremd, obwohl er durchaus die Kabbala positiv beurteilen konnte. Seine rhetorischen Vorbilder waren eher Cicero, Terenz oder Livius. Reuchlins Kommentar zur Kabbala8 war ihm wahrscheinlich zu rätselhaft. Trotzdem praktizierte Melanchthon eine für die Reformationszeit auffällige Toleranz: Er gehört zu den wenigen Menschen des 16. Jahrhunderts, die gegen Judenverfolgungen waren.

Luthers Stellungnahmen über die Juden sind dagegen vergleichsweise sehr unterschiedlich und jeweils situationsbedingt. 1523 hatte Luther noch versucht, zeitgenössische Juden mit seiner Schrift Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei für das Christentum zu gewinnen. Mit der Zeit gab es jedoch vor allem einen riesigen hermeneutischen Unterschied in der Bewertung des Alten Testaments. 1543 forderte Luther aus verletztem Glauben heraus in seiner Schrift Von den Juden und ihren Lügen die Zerstörung jüdischer Häuser, Gotteshäuser und Schriften und plädierte für Vertreibung der jüdischen Bevölkerung.

Von Melanchthon ist dies nicht bekannt, wäre aufgrund seiner irenischen Haltung auch nicht möglich gewesen, wobei Melanchthon natürlich auch ein Kind seiner Zeit bleibt.9 Aber was von ihm bleibt, ist eine Uridee von Toleranz und gemeinsamer Solidarität, die im christlichen Humanismus und in den Reformationsschriften Luthers aus dem Jahr 1520 wurzeln. Die Auslegung der hebräischen Bibel nötigt dem Humanisten und Reformator Melanchthon tiefen Respekt ab und fordert zur Vergegenwärtigung einer gemeinsamen Geschichte von Juden und Christen auf. Ein Gedanke dämmert bei Melanchthon auf, der verlorengegangen ist und auch im heutigen jüdisch-christlichen Dialog keine Rolle spielt, daß Judentum und Christentum eine gemeinsame Wurzel haben, nämlich das biblische Israel.

  1. Reuchlin, zitiert in Heiko A. Oberman, Antisemitismus, 37.
  2. aus: folr
  3. G. Kisch, Zasius und Reuchlin, 20.
  4. siehe Melanchthons Briefwechsel, hg. H. Scheible, Bad Cannstatt 1977, Nr.1.
  5. Manilus 2, 8 (Locorum communium collectanea, a Iohanne Manlio per muitos annos, pleraque turn ex lectionibus D. Philippi Melanchthonis, turn ex aliorum doctissimorum virorum relationibus excerpta, et nuper in ordinem ab eodem redacta. Tom 1-3 und Libellus medicus, Basel 1563).
  6. L. Feilchenfeld, Rabbi Josel von Rosheim. Straßburg 1898, 181. Sehet jetzt auf nechst gehaltenem tag zu Franckfort durch den hochgelehrten Dr. Philippum Melancton ist dem hochgebornen fürsten und herren, marggraf Joachim von Brandenburg, churfürst, glaubhaftig furgepracht worden, wie von tyrannen die armen juden bei seines vaters seligen leben zu unrecht verbrannt worden, und wievol der alt churfürst nit so lauter den uf Satz gewisst, dannocht wurden 48 uf das unwahr gegebenen verbrannt ...
  7. CR 8, 831.
  8. Melanchthon über die Kabbala, CR 24, 17-32. Das Altertum liebte den Spruch des Elia: 6000 Jahre wird die Welt bestehen, aber es werden die Jahre fehlen, die fehlen werden; 2000 leer, 2000 das Gesetz, 2000 der Tag des Messias. Man nannte diesen Spruch Kabbala. Es bedeutet aber Kabbala ,durch die Hände übergebene Lehre‘, sozusagen Überlieferung.
  9. Aus der Vorrede an Kurfürst Ottheinrich zu Luthers deutschen Werken, CR 9, 223. Dieweil denn der Papst und sein Anhang öffentliche Abgötterei und Irrtum schützt, so ist gewißlich wahr, daß sie nicht Gottes Kirche sind, welche auch öffentlich grausame Irrtümer haben. Viel weniger können Gottes Kirche sein die Muslime und dieser Zeit Juden; denn die Muslime verwerfen öffentlich aller Propheten und Apostel Schriften. Die Juden verwerfen der Apostel Schriften und verfälschen die Propheten.

Dieser Artikel erschien in: IRP Mitteilungen 27 (1997/März) S. 1-8 unter dem Titel: Luther und Melanchthons Stellung zu den Juden. Wir haben ihn etwas gekürzt.


Jahrgang 4/1997 Seite 172



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