„Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd“, so beschreibt die Schriftstellerin Christa Wolf2 unseren häufigen Umgang mit belastenden Erinnerungen. Gegenüber unserer Vergangenheit, insbesondere einer traumatischen, bleiben wir unausweichlich in einem Ambivalenzkonflikt verstrickt zwischen unserem Wunsch, wegzuschauen und zu vergessen und unserem ebenso starken Bedürfnis, uns zu erinnern und genau hinzuschauen. Jede individuelle Erinnerungsarbeit und kollektive Erinnerungskultur ist der Aporie dieses Zwiespalts ausgesetzt. Insofern kann Erinnern nur glaubwürdig sein, solange es sich seiner Grenzen bewußt bleibt.3
„Niemand kann das begreifen und niemand helfen“, sagt der Auschwitz-Überlebende Jakov Silberberg in Karl Fruchtmanns Film „Ein einfacher Mensch“. Und Ruth Elias, Überlebende von Theresienstadt, schreibt:
„Es verfolgt mich, es hat seine tiefen Spuren hinterlassen. Ich kann es nicht loswerden, es kommt immer wieder zurück. Ich kann dieses Gefühl niemandem, welcher nicht selbst durch diese Hölle gegangen ist, schildern, denn niemand kann dieses Unverständliche verstehen.“4
Auschwitz sprengt die Grenzen alles Faßbaren und schreit gleichzeitig nach Verstehen, weil das Unbegreifliche noch schrecklichere Angst in uns auslöst.
Wenn ich mich in meinem Land verwurzelt fühlen möchte, muß ich mich unvermeidlich auch in die Geschichte der Menschen dieses Landes hineinversetzen. So werde und bleibe ich verantwortlich verbunden mit dem, was Deutsche getan haben, durch aktives Handeln und aktives Unterlassen. Klaus von Dohnanyi hat 19855 die Verantwortlichkeit jedes Deutschen auf die Formel gebracht: „Wer sagt: unser Bach und unser Beethoven, der muß auch sagen: unser Hitler.“
Wie kann ich aber im darüber Sprechen der Gefahr entgehen, die die jüdische Literaturwissenschaftlerin und Theresienstadt- und Auschwitz-Überlebende Ruth Klüger in einer fiktiven kleinen Szene dargestellt hat?
In einen Vortragssaal kommt der Geist eines der vielen Erschlagenen, angezogen von dem Thema, erfreut, daß seiner gedacht wird. Der Vortragende spricht vom Unsäglichen, vom Unvorstellbaren, vom Unaussprechlichen. Der Geist fragt sich, warum der an ihm verübte Mord unsäglich ist. Es gäbe doch ein deutsches Wort dafür: Genickschuß. Und warum unvorstellbar, wenn es doch keineswegs ein Mysterium war, sondern eine blutige Sauerei am hellichten Tag. Der Geist merkt langsam, daß von ihm gar nicht die Rede ist, sondern nur von der Erschütterung des Sprechers, der seine Fähigkeit zum Mitgefühl dem Publikum zur Schau stellt. Enttäuscht und gekränkt verläßt der Geist den Vortragssaal.6
Sowohl die Täter als auch die Opfer müssen um ihr Erinnern ringen. „Wer im Tiefsten verletzt worden ist“, schreibt der Auschwitz-Überlebende Primo Levi, „neigt dazu, die Erinnerung daran zu verdrängen, um den Schmerz nicht zu erneuern; und derjenige, der diese Wunden zugefügt hat, drängt seine Erinnerung in die Tiefe ab, um sich von ihr zu befreien, um sein Schuldgefühl zu erleichtern“7 Der Psychoanalytiker William G. Niederland verweist allerdings auf die „makabre Ironie, daß weniger die Täter und Vollstrecker der nazistischen Verbrechen als vielmehr deren Opfer an einer Überlebensschuld zu leiden scheinen“.8 Deren „Überlebensschuld“ zentriert sich um die Frage: „Warum habe ich das Unheil überlebt, während die anderen — die Eltern, Kinder, Geschwister, Freunde — daran zugrunde gingen? In dieser unbeantworteten Frage liegt wahrscheinlich die stärkste psychische Belastung des Überlebenden.“9 Eine erste Aufgabe bestände darin, Gelegenheiten und Bedingungen herzustellen, die einen Zugang zur ,Erinnerungsarbeit‘ ermöglichen.
Das für uns alle unerträglich Erscheinende an Auschwitz ist, daß wir danach keine Möglichkeit mehr haben, daran vorbeizusehen, was Menschen ihren Mitmenschen antun können. Insofern bleibt „der Holocaust ein singuläres und zugleich alltägliches Geschehen“10. Seitdem ist das ,Unvorstellbare‘ vorstellbar und immer wieder denkbar.11 Viel beunruhigender als die These vom „Zivilisationsbruch“12 Auschwitz, dem Rückfall in die Barbarei, sind Vorstellungen von der Schoa als einem zwangsläufigen Produkt des modernen Zivilisationsprozesses13 mit seiner fortlaufenden Dehumanisierung von Subjekten zu Objekten, Nummern und Zahlen, der zunehmenden Entfremdung zwischen dem eigenen Handeln und den Effekten dieses Tuns.14 Den gesellschaftlichen Entwicklungen in Richtung einer zunehmenden Funktionalisierung entsprechen zutiefst unbewußte Vorstellungen von und Sehnsüchte nach einer heilen15 und perfekten Welt, ohne Spannungen, ohne Konflikte mit einfachen, überschaubaren Ordnungen.16 Da das perfekte Universum durch das eigene Schwache, Kranke und Unvollkommene bedroht wird, wird dieses eigene, so fremd erscheinende Böse17 auf Fremde oder eine fremde Gruppe projiziert. In dem krankhaften Perfektionsdrang muß dann dieses Fremde, exakter ,Fremdgemachte‘ ausgerottet werden.18
Die heutigen Juden ,stören‘ unsere Sehnsüchte nach einer Seelen-Ruhe, die frei von Schuld- und Schamgefühlen ist. Aus der Abwehr derartiger Beunruhigungen resultiert ein ,sekundärer‘ Antisemitismus.19 Eine bewußte Konfrontation mit Auschwitz würde uns nicht nur mit einer erdrückenden Vergangenheit, sondern zugleich mit einer unerträglichen Gegenwart und einer erschreckenden Zukunftsperspektive weiterer ,zivilisatorischer‘ Entwicklung konfrontieren.
Die Schoa umfaßt die absolute Erschütterung des Sicherheitsgefühls und den unwiederbringlichen Verlust an Urvertrauen20 in die menschliche Zivilisation, Kultur und Vernunft. Zur Abwehr dieser existentiellen Bedrohung durch Totalauslöschung und der damit einhergehenden seelischen Destabilisierung sind wir versucht, alle seelischen Register zu ziehen. Das reicht von der absoluten Verleugnung (,Auschwitzlüge‘) über die verschiedenen Formen der Relativierung (,Historikerstreit‘) bis hin zu verschiedensten Varianten der Verharmlosung. Auch die Schlußstrichmentalität21 vieler Deutscher ist Ausdruck des Versuchs der Abwehr dieses unaushaltbar Erscheinenden.22 Gunnar Heinsohn stellt in seinem Buch: „Warum Auschwitz?“23 zweiundvierzig wissenschaftliche Theorien zu Auschwitz vor, die seiner Auffassung nach Ausdruck von Ratlosigkeit und Konfusion seien. D. Claussen warnt vor dem Versuch, Auschwitz durch wissenschaftliche Einordnung und Klassifikation zu rationalisieren. Theodor W. Adorno hatte dieses Vorgehen als ,Dialektik der Aufklärung‘ bezeichnet.
Die von Heinsohn so apostrophierte 7. Theorie: „Du sollst Dir von Auschwitz keine Theorien machen“24 verweist auf die prinzipielle Begrenztheit all unserer Erklärungsversuche und ist in dieser Achtung vor dem unergründlichen Geheimnis eine deutliche Gegenposition zum na(r)ziß-tischen Größenwahn, alle und alles beherrschen zu können.
Die Erinnerung selbst kann zum Widerstand gegen das Erinnern werden, wie schon Primo Levi vermerkte: „Die häufige Vergegenwärtigung hält die Erinnerung frisch und lebendig ... aber es ist ebenso wahr, daß eine Erinnerung, die allzuoft heraufbeschworen wird und in Form einer Erzählung dargeboten wird, dahin tendiert, zu einem Stereotyp, das heißt zu einer durch die Erfahrung bewährten Form, zu erstarren ... die sich dann an die Stelle der ursprünglichen Erinnerung setzt.“25 Wie kann es uns gelingen, dem Dilemma zu entgehen, daß Wiederholungen, zum Beispiel jährlicher Erinnerungsrituale, zu Stereotypien entarten?
Das Errichten von steinernen oder bronzenen Mahnmalen und Gedenkstätten kann paradoxerweise zum Verlöschen des lebendigen Gedenkens beitragen. Jane Kramer26 exemplifiziert das an dem in Berlin geplanten millionenschweren monumentalen Holocaust-Mahnmal — von ihr sarkastisch als „Kranzabwurfstelle“ bezeichnet —, während gleichzeitig die Gelder für die Erhaltung von den Resten der wirklichen Konzentrationslager ständig verringert werden — oder Auschwitz selbst aus Geldmangel verfällt.
Primo Levi und Jean Améry haben als Opfer Auschwitz überlebt. Sie bemühten sich zeitlebens, Auschwitz schreibend zu erinnern, und sind letztendlich von dem Unbewältigbaren überwältigt worden, beide haben selbst ihrem Leben ein Ende gesetzt — und sie sind nicht die einzigen!27 Auch der Lyriker Paul Celan, Schöpfer der berühmten ,Todesfuge‘ („Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“) wurde am Ende von seinen traumatischen Erinnerungen überwältigt und suchte schließlich selbst den Tod. Es mag einzelne Menschen geben, die aus der Konfrontation mit ihrer Vergangenheit die Kraft schöpfen, sich aus der Opferposition, in die sie hineingetrieben wurden, zu befreien. Viel häufiger bleiben die Opfer durch ihre Erfahrungen allerdings dazu verurteilt, mit ihren unheilbaren seelischen Verletzungen weiterleben zu müssen und zugleich am vollen Lebendigsein gehindert zu werden.
Der tägliche „Kampf um die Erinnerung“ in unseren Psychoanalysen, den Freud als „Wiederholen, Erinnern, Durcharbeiten“28 charakterisierte, findet seine Grenze29 an dem Verbrechen und dem Leiden, das die Grenzen des Faßbaren überschreitet. „Weil Auschwitz und Hiroshima das Maß alles Vorstellbaren übersteigen, sind sie nicht erinnerbar“ schreibt der Psychoanalytiker Haas.30 Wir können jedoch ihrer gedenken. Wer traumatisierte Opfer von derartigen Gewalttaten mit Forderungen nach Vergebung und Versöhnung unter moralischen Druck setzt, retraumatisiert die Opfer31 und begeht meiner Auffassung nach eine schuldhafte Gewalttat. Wir stoßen an dieser Stelle an die Grenze des Versöhnungsprinzips. Mit Auschwitz kann man sich nicht versöhnen,32 die Schuld millionenfachen Mordens ist niemals zu ,bewältigen‘. Nicht ,Vergangenheitsbewältigung‘, nicht Heilung heißt die Aufgabe, sondern ,Wunde‘33 für die Täterseite. Wie aber können wir uns vorstellen, daß sich ein Mörder wirklich ganz bewußt mit seiner Verantwortung konfrontiert und mit seiner auch beim besten Willen niemals wiedergutzumachenden Schuld — denn das Töten eines Menschen ist nie rückgängig zu machen — weiterlebt? Die Auseinandersetzung mit der Schuld fordert die Gerechtigkeit, aber vielleicht ist es zugleich eine psychische Überforderung?
All diese Überlegungen können uns in untröstliche Hoffnungslosigkeit und Lähmung hineintreiben. Sie kollidiert mit unserer Sehnsucht nach einer Lebensperspektive und unserem tiefen Bedürfnis, die Realität, so wie sie ist und geworden ist, in unser Ich-Selbst integrieren zu können.
Dann aber kommen wir nicht darum herum, genau hinzuschauen, und wenn wir Täter sind, uns mit unserem Schuldiggewordensein auseinanderzusetzen. Nur auf der Basis eines Anerkennens der unaufhebbaren Getrenntheit zwischen Opfern und Tätern, dem Akzeptieren der „unversöhnbaren Kluft“ zwischen Deutschen und Juden34 wird vielleicht eine glaubwürdige Begegnung möglich und im besten Fall sogar eine neue Verbundenheit. Viel öfter werden wir jedoch an dieser Stelle wohl mit den Grenzen der Fähigkeit zum Erinnern, zum Trauern, zum Vergeben und zur Versöhnbarkeit konfrontiert sein.
So bleibt am Ende nur eine Paradoxie. Wir können Auschwitz nicht begreifen, weil es wahrscheinlich unser emotionales Fassungsvermögen übersteigt — aber zugleich müssen wir Auschwitz als Metapher, als Menetekel der menschlichen Fähigkeit zur Gewalt gegen Mitmenschen in unserem Gedächtnis wachhalten. Wie kann es uns gelingen, uns der Realität dieser Heillosigkeit in uns zu stellen, ohne in Verzweiflung und Resignation zu verfallen und ohne uns andererseits in irgendwelche illusionären vertröstenden Rettungs- oder Versöhnungsphantasien zu flüchten?
- Veränderte Fassung von Vorträgen vor der Katholischen Akademie „Die Wolfsburg“ in Mülheim/Ruhr am 12.12.1995 und der Volkshochschule Aachen am 13.11.1996
- C. Wolf, Kindheitsmuster. Luchterhand, Darmstadt/Neuwied 1977, 9.
- „Das Nachdenken über Auschwitz muß sich bewußt werden, daß es sich an der Grenze des Begreifbaren bewegt.“ D. Claussen, Über Psychoanalyse und Antisemitismus. In: Psyche 41, 1994, 50.
- R. Elias, Die Hoffnung erhielt mich am Leben. Piper, München 1988, 7.
- In seiner Eröffnungsrede zum ersten Internationalen Psychoanalytischen Kongreß nach der Nazi-Zeit in Hamburg (Dohnanyi 1986, 863).
- R. Klüger, Dichten über die Shoah. Zum Problem des literarischen Umgangs mit dem Massenmord. In: G. Hardtmann (Hg.), 1995, 220 f.
- P. Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten. dtv, München 1993, 20.
- W. G. Niederland, Folgen der Verfolgung: Das Überlebenden-Syndrom. Seelenmord. Suhrkamp, Frankfurt 1980, 232.
- Niederland (1980, 232).
- Z. Baumann, Dialektik der Ordnung: Die Moderne und der Holocaust. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1992, 99.
- Baumann (1992, 109).
- D. Diner (Hg.), Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Fischer Verlag, Frankfurt 1988.
- z. B. G. Anders, Besuch im Hades. C. H. Beck, München 1985; Baumann (1992).
- G. Anders, Wir Eichmannsöhne. C. H. Beck, München 1988, 31.
- vgl. hierzu M. Hilgers, Die Sehnsucht nach dem Paradies und die Hölle von Auschwitz. In: T. Bastian/K. Bonhoeffer (Hg.), 1992, 75 ff.
- Die französische Psychoanalytikerin J. Chasseguet-Smirgel, von der dieses Konzept stammt (Chasseguet-Smirgel, Zwei Bäume im Garten. Zur psychischen Bedeutung der Vater- und Mutterbilder. Verlag Internationale Psychoanalyse, München/Wien 1988), spricht an anderer Stelle von einer „Krankheit der Idealität“ (Chasseguet-Smirgel, Das Ichideal. Psychoanalytischer Essay über die ,Krankheit der Idealität‘. Suhrkamp, Frankfurt 1981).
- Th. Auchter, Das fremde eigene Böse. Zur Psychoanalyse von Fremdenangst und Fremdenhaß. In: Universitas 45, 1990, 1125-1137.
- Baumann (1992, 109).
- Bohleber/J. S. Kafka (Hg.), Antisemitismus. Aisthesis Verlag, Bielefeld 1992, 12.
- Diner (1988).
- 1990 wollten nach einer Emnid-Umfrage „5 % der Deutschen in Ost und West die Erinnerung an die Judenvernichtung verdrängen. Außerdem sind 38% der Meinung, daß die Juden den Holocaust für ihre Zwecke ausnutzen“ (zit. n. Bohleber 1992, 11).
- Am 25.11.1995 vermerkte der ehemalige amerikanische Präsident George Bush unter „riesigem Beifall“ der ungefähr dreihundert auserlesenen Gäste in einer Rede in Aachen: „Die Deutschen haben es nicht nötig, sich ständig für die Fehler der Vergangenheit zu entschuldigen.“
- G. Heinsohn, Warum Auschwitz? Hitlers Plan und die Ratlosigkeit der Nachwelt. Rowohlt Verlag, Reinbek 1995.
- Heinsohn (1995, 49); bei aller sonstigen Problematik dieses Buches ein zutreffendes Referat.
- Levi (1993, 20).
- In: „Die Zeit“ 45 u. 46, 1995.
- Vgl. Klüger (1995, 216; 209).
- Freud (1914).
- Claussen (1994, 37).
- E. Haas, Gedenken und Erinnern. In: Jb. d. Psychoanalyse 33, 1994, 169.
- Vgl. Miller (1990); Wirtz (1989, 212 f.).
- K. Grünberg, Versöhnung über Auschwitz? Deutsche und Juden in der Bundesrepublik Deutschland. In: R. Holm-Hodulla, Vom Gebrauch der Psychoanalyse heute und morgen. Tagungsband der Frühjahrstagung der DPV Heidelberg, 1995, 104.
- Anders (1985, 189).
- Grünberg (1995, 104).
Jahrgang 4/1997 Seite 177