Zur Aktualität eines Vorurteils (dtv 4648). Deutscher Taschenbuchverlag, München 1995. 235 Seiten.
In der Einleitung schreibt der Herausgeber über den alltäglichen Antisemitismus in der Bundesrepublik. Es folgen zwölf Beiträge zu Themen von hoher Aktualität: Zur politisch-kulturellen Tradition des Antisemitismus in Deutschland; Das Judentum als Antithese; Feindschaft gegen Israel als neue Form des Antisemitismus; Die Leugnung des Völkermords; Diffamierung mit Tradition; Der Jude als Bolschewist u. a.
Ausdrücklich hinweisen möchte ich auf den lehrreichen Beitrag von Chr. Hoffmann, Das Judentum als Antithese. Zur Tradition eines kulturellen Wertungsmusters, das sich als ein „duales“ antithetisches erweist, so schon im Christentum: Gesetz vs. Glaube, Buchstabe vs. Geist, Partikularismus vs. Universalismus, Gott der Rache vs. Gott der Liebe. Dazu wird der religiöse Gegensatz „in einem zeitlichen Schematismus ausgedrückt und verschärft, dem Judentum damit — nach dem Kommen des ,Messias‘ — die Existenzberechtigung abgesprochen“. „Das Judentum galt als Paradigma für ,Sünde‘ und ,Abfall‘, für ,Verderben‘ und ,Heilsverlust‘, also für Gefahren, die auch sein [des Christen] eigenes geistliches Leben bedrohten.“ In der Aufklärung zeigte sich das „duale“ Wertemuster als Aberglaube vs. Vernunft, Kirche/Theokratie vs. Staat, Priesterherrschaft vs. säkulare Kultur, Diaspora vs. Nation, Rückständigkeit/Geschichtslosigkeit vs. Fortschritt/Geschichte. Im Denken der Restauration: Jude vs. Deutscher (später: Semit vs. Arier), (jüdischer) Liberalismus und ,Demokratismus‘ vs. christlicher Ständestaat, (jüdischer) Kapitalismus vs. traditionelle (deutsche) Wirtschaftsordnung, (jüdischer) Materialismus vs. (deutscher) Idealismus, (jüdische) Intellektualität und „Nervosität“ vs. (deutsches) „Gemüt“, (jüdischer) Kommunismus/Revolution vs. (deutsche) Ordnung, (jüdischer) Internationalismus vs. (deutsche) Nation. „Traditionell vorgestanzte duale Wertungsmuster konnten so eine unbefangene und realistische Wahrnehmung von Juden und Judentum unmöglich machen und zur Polarisierung bestehender Konflikte beitragen.“ Die Juden waren und sind oft Opfer solcher dualer Wertungsmuster.
Besonders lehrreich ist auch der Beitrag von D. Gerson, Der Jude als Bolschewist. Die Wiederbelebung eines Stereotyps, mit folgender Gliederung: Judentum und Sozialismus: Von den Ursprüngen eines Stereotyps; Die Revolutionen 1917 bis 1919: Das Feindbild verfestigt sich; „Der Jude als Bolschewist“ legitimiert den nationalsozialistischen Genozid; Tabuisierung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges; Wiederannäherung an ein Feindbild im „Historikerstreit“; Nach dem 9. November 1989: Ein altes Stereotyp entschuldet das neue Deutschland. Aufschlußreiche Zitate! Daß die „Realitätsverweigerung“ („Auschwitzlüge“!) sich „als antisemitisches Prinzip“ entpuppt, zeigt der Herausgeber W. Benz in seinem gleichnamigen Beitrag.
Franz Mußner
Jahrgang 4/1997 Seite 198